20. Jahrgang. DaS „Hamburger onncmentövreis (Inti. „Tie Neue Welt") beträgt: durch die Post bezogen ostne Bring-geld monatlich X. 1,20, vierteljährlich K 3,60; durch die Kolporteure wöchentlich SO A irei ins Hau?. Einzelne Nummer 6 A. SonntagS-Nummer mit illustrierter Sonntagsbeilage „Tie Neue Welt" IO A. Verantwortlicher Redakteur: Gustav Wabersky in Hamburg. Areitag, den V. Februar 190(k Anzeigen werden die sechSgespaltene Pelitzeile oder deren Raum mit 80 A. für den NrbeitSmarkt, BermietungS- und ^iamilienaitzeigeu mit 20 A berechnet. Anzeigen-Slnuahme in der Lrpedilion (bis 6 Uhr Abends). in den Filialen (bis 4 Uhr Nachmittags), sowie in sämtlichen AnnonceN'Bureaux. Redaktion und Expedition: Fehlandstrast« 11 in Hamburg 1. WM' End-Tt. Pauli bet Carl Leiiielitzom, Davtdslr. Nord-Et. Pauli, Eimsbüttel, Laitgeiifelde bet Carl Dreyer, AiarlMcthenstr. 72, Sini6bü11el. Hoheluft, Oppendorf, Wroh-Borstel und 2L'intcrbnbc bei Cr>lst Großkopf, Lehiiimeg 51, Eppendorf. Parmbcrk, Nhlenhorst bei Theodor Petereit, Bachstr. 1*2, Bariilbeck. Et. tOeorg, Hohenfelde, Bvrgfclde, Hamm, Horn und Echissbeck bei Carl Ortel, Baustr. 26, Borgselde. Hammerbrook, Notcnbnrgsort, Billwärdcr und Veddel bei Nud. Fuhrmann, Sehwabenstr. 33, Haiilnlerbrook. (Silbctt, 'TÜandsbcck lind Hinstl-cnfclde bei Franz Krüger, Sternstr. 36, Wandsbeck. illtona beiFriedrich Ludwig, Biirgerstr. 118, Altona. Ottensen, Vahrenfeld bei Johannes Heilte, Bahrenielderstr. 140, Ottensen. Hierzu eine Beilage. Hamburg — Schildburg. Klassenbrutalität verschärft durch Dummheit — diese Variante eines bekannten Wortes kennzeichnet die buntscheckige Kampspolitik der herrschenden Klaffen gegen die sozialdemottatische Arbeiterschaft auf der ganzen Linie. Verschärft, nicht „gemildert"; denn eben in der mehr oder weniger scharstnacherischen Potenzierung der jedem KlaffenegoismuS anhaftenden Brutalität äußert sich die Dummheit, die Borniertheit der Anschauungen, Anffaffungen, Urteile und ihre praktischen Konsc- guenzen, das Verfolgen der eigenen Zwecke und Ziele mit untauglichen Mitteln, die das Gegenteil des Gewollten be - wirken muffen. Aus allen Unterdrückungsinah- regeln, die sie gegen uns unternehmen, gucken die Eselsohren heraus, hören wir die kichernden Glöck- lein der Scheüenmütze. Wer kennt nicht die lustigen Stücklein der Schildbürger, jener einfältigen Bürger von Schilda, worüber das alte Volksbuch berichtet, welche alles am verkehrten Ende angefaßt haben und die spaßhaftesten Narrenstreiche verübten. Darunter spielt ihr dreieckiges N a t h a u s eine hervorragende Nolle, in dem sie die Fen st er anzubringen vergessen hatten, so daß sich hinterher die Rats - herren die Köpfe darüber zerbrachen, wie dem Licht - mangel abzuhelfen sei. Nach einer besseren Lesart aber hatten sie nicht vergessen, sondern absichtlich unterlassen, Li ch t e i n z u l a s s c n; denn bei all ihrer Albernheit waren die Ratsherren aus - gepichte Spitzbuben — wie ihre antiken Ahnen von Abdera, die den weisen Demokrit durch den athe - nischen Arzt Hippokrateö zum Narren erklären lassen wollten, um seine Güter zu stibitzen, wie bei Wie - land („Die Abderiten") zu lesen. Im Dunkel ge - deiht das Räubcrhandwerk. Aber mit ihren Spiy- bübereien brachten die Schildbürger Ratsherren die Gemeinde an den Rand des Verderbens, weshalb sie sich hinterher wohl oder übel entschließen mußten, Licht in ihr Stadthaus einzulassen. Hamburg — Schildburg. Nachdem man lange genug int Dunklen saß und das Proletariat aus der Bürgerschaft fernhielt, ging es nicht länger mit der absoluten Alleinherrschaft der Plutokratie; eine Vertretung der Arbeiterschaft mußte zu gestanden werden, durch die erheblich mehr Licht in die Verhandlung des Stadthauses kam und eine Menge Mißstände des Gemeinwesens ent - hüllt wurden. Nun aber bemühten sich die W a hl recht S - räuber, lichtscheu wie Eulen und anderes Raub - zeug, das eindringende Licht wieder zu verdunkeln, und ein Teil des Bürgertums, noch schild - bürgerlicher als die Macher, ließ es sich gefallen und stimmte zu, zu seinem eigenen Schaden, der bald genug hervortreten wird. Wie man aber vor zehn Jahren sich entschließen mußte, dem Proletariat wenigstens eine schmale Pforte zu öffnen, so wird man sicherlich bald nicht allein den Wahlrechtsraub annullie - ren, sondern das unbeschränkte, gleiche Wahlrecht gewähren müssen! Der Wahl - rechtsraub selber muß ja die Energie der Arbeiter - schaft aufstacheln, es zu erobern, und den Wahl- rcchtsräubern wird es ergehen wie dem Hund mit dem Stück Fleisch int Maul, der sein Spiegelbild im Bach erblickte, und weil er in seiner Dummheit auch das gespiegelte Stück Fleisch im Wasser haben wollte, auch das wirk! icke verlor. Hamburg — Schild bürg. Aber bie ganze bürgerliche Welt ist Schild bürg. Ihr Stolz ist dumm geworden. Im satten Behagen verkümmert die Intelligenz, und die einseitige Konzentration der geistigen Kräfte auf die Profitmacherei verblödet den Verstand. Wie käme eS denn sonst, daß keine noch so eklatanten Mißerfolge die einen wie die anderen, die Scharf - macher wie die versteckten und katzenfteundlichen Widersacher der Arbeiteremanzipation, von dem Wahn kurieren können, unsere Bewegung unter - zukriegen und zu schwächen. All ihre Künste und Kniffe und Pfiffe haben immer dazu geführt, unsere Bewegung zu stärken; alle Klügeleien, unsere Reihen zu spalten, haben sie stets noch enger und fester zu - sammengeschlossen; alle Schikanen derPolizei und alle Klassenjustiz haben unsere Segel nur um so flotter gebläht, der Bewegung neue Impulse gegeben, ihre Kraft gewaltig geschwellt; alle Verfolgungsstürme, welche die mächtige Eiche umbrausten, haben ihr Wachstum nur beschleunigt und ihre Widerstands - kraft gestärkt, so daß eö auch hier stets hieß: „Je mehr sie das Volk drückten, je mehr es sich mehrete und ausbreitete." Aber die dicken Bretter schildbürgerlicker Klasseu- borniertheit kann auch kein Röntgenstrahl durch - dringen! Einen heiteren Beitrag zu unserem Thema lieferte dieser Tage int Reichstag der alte Parla - mentarier v. Kardorff, der sich offen zur Lehre von der Harmonie der Interessen von Arbeitgebern und Arbeitern, Kapital und Arbeit bekannte und das Wort gelassen aussprach: „Den K l a s s e n k a m p f erkenne ick nicht a n." Man würde dem alten Herrn gewiß Unrecht tun, wenn man seine Aufrichtigkeit anzweifelte. Gewiß, er meinte es ernsthaft, und wenn der Wolf reden könnte, würde er ebenfalls die Jnteressenharmonie zwischen Wolf und Lamm versichern, während er das zerfleischte Lamm behaglich verdaut, und der Hammer würde den Klassengegensatz leugnen, indem er auf bett Ambos mit Wucht niedersaust! Daran nicht genug, ließ Herr v. Kardorff die Schellenkappe noch lustiger klingeln und verwies auf Stumm und Krupp, bie auch aus Arbeiterkreisen hervor - gegangen seien. Fürwahr, wir tun biesen Leuten manchmal Un - recht, wenn wir ihr Treiben ihrer Böswilligkeii aufs Konto bringen, eine — mtbere Eigenschaft ist wesentlich daran beteiligt! — Die Revolution in Rußland. Vin verzweifeltes Mittel wendet die Negierung des Zaren an, um Geld ju beschaffen. Das Ausland pumpt nicht mehr, und die Schergen wollen für ihre Blutarbeit bare Be - zahlung. Was tun? So ist man auf die Divi - denden- und Tantiemensteuer verfallen. Heute wird aus Petersburg gemeldet: In Ab - änderung der Staatsgewerbeordnung durch einen kaiserlichen Erlaß wird folgendes bestimmt: Die zur Veröffentlichung ihrer Rechenschaftsberichte ver - pflichteten Unternehmungen, deren Rein - gewinn 3 pZt. de? Grundkapitals übersteigt, find unter Beibehaltung der Gewerbe- und Kapital ft euer mit einer Prozent- steuer vom Reingewinn, wenn dieser sich zwischen 3 pZt. und 20 pZt. bewegt, zu belegen, welche von 3 pZt. bis 14 vZt. anfteigt. Die Rein - einnahmen, welche über 20 pZt. des Grundkapitals betragen, unterliegen außerdem einer Steuer von 10 pZt. Die Direktoren und Ver - waltungsmitglieder aller Unternehmungen, die zur Veröffentfichung deS Rechenschaftsberichtes verpflichtet sind, haben von ihremJ ahresgehalt und den G r a t i f t k a t i o n e n , die sie von einem ober mehreren Instituten erhalten, eine Prozent- jt e u e r in Höhe von 1 bis 7 pZt. zu entrichten. Der letzter» Steuersatz gilt für bie Gehälter in Höhe von 20 000 Rubel jährlich. Gelb wirb die Extrabesteuerung der großen Jnbustriegesellschaften usw. schon bringen. Sie ar - beiten durchweg mit sehr hohen Gewinnen und Divi - denden von 20 pZt. bis 30 pZt. sind keine Selten- bcit. Aber dem Ministerium Witte wird diese Maßregel die letzte Stühe rauben. Denn gerade die Jndu;triellen haben in Witte ihren Mann ge - sehen und ihn auf jede Weise gefördert. Nun sie von der Dividenden- und Tantiemensteuer betroffen werden, ist ihre Rebellion gegen das System Witte sicher. Schon hat der „Netter NußlandS" die Ultra- reattionäre gegen sich, und nun gesellen sich zu diesen noch die einflußreichen Industriellen und ihr Anhang. Das wird zweifellos die Situation be - deutend ändern. • * * Eine Geheimkanzlei PlchweS ist vor einigen Tagen in Petersburg entdeckt worden. Dem „Russischen Kurier" wird darüber be - richtet: Die von dem ermordeten Minister Plehive begründete Geheimkanzlei, von deren Existenz bet Lebzeiten Plehwes nur wenige Personen seiner aller - nächsten Umgebung etwas wußten, war so geschickt organisiert und geleitet, daß auch nicht die geringste Svur dessen, was in dieser „Kanzlei" geschah, in die Öffentlichkeit drang. Und doch waltete in ihr, wie jetzt ermittelt worden ist, eine furchtbare Inquisition. Die unglücklichen Opfer, die da hineingerieten, verschwanden spurlos. Zwar wurden die Opfer meist am Leben belassen, aber n’cmanb konnte ermitteln, wohin man die so plötzlich ver - schwundenen Personen geschafft hatte, oder was tonst mit ihnen geschehen war. Da aber die rtachforschun- gen bezüglich der Nützlich Verschollenen sich im russi - schen Polizeidepartement immer mehr anbäuften und des öfteren festgestelli wurde, daß bei der Ziir- sorge um einige irgendwo im hohen Norden bei Zarenreiches aufgefunbene Verbannte bcr russischen Polizeiverwaltung jegliche Angaben fehlten, ging man bet Sache auf den Grund und stieß dabei aus die Geheimlanz'el Plehwes. Bisher ließ sich nicht feststellen, wieviel Personen dieser Inaulji.ionS- kammer zum Opfer gefallen sind, denn alles war mit einem undurchdringlichen Schleier nach ieuflisw durchdachtem Plan verdeckt. Die flott aber dort ge - arbeitet wurde, beweist schon das jetzt zu Tage ge - förderte Material. Die ebenso energisch wie mit größter Vorsicht seitens der russischen Staatsanwall- schäft geführte Untersuchung verspricht in nolitiicher Beziehung äußerst wichtige und für das Sh:fern Plehwes sehr bezeichnende Einzelheiten zu offenbaren. * . * Anö MoSkanS SchrrckenStngen. Die von unS schon früher erwähnte Ermordung des Moskauer Arzies Dr. Worobjew durch einen Polizeistrolch wird in der „Dtüncheiier Medizinischen Wochenschrift" von Dr. A. Dworetzkp wie 'olgt ge- schildert: Als der Ausstand in Moskau bereits fernem Ende entgegenging und nur noch der Stadtteil „Preßnia", in welchen sich die aus den zentralen Stadtvierteln verdrängten Revolutionäre zurück-' gezogen hatten, von Militär umstellt und auS .Kanonen beschossen wurde, spielte sich folgenoer tragischer Vorfall ab. Im Stadtteile „Preßnia" wohnte der als Psychiater und Anthropologe über Rußlands Grenzen hinaus wohlbekannte Privat- dozenl der Universität Moskau, Dr. Viktor Worobjew. Am 30. Dezember wurde er zu einem Verwundeten in ein Nachbarhaus geholt; auf der Straße herrschte ein lebhaftes Gewehrfeuer. Auf dem Heimweg be - merkte er zu seinem Erstaunen, daß die Schüsse gerade auf ihn gerichtet waren; er erhob beide Hände nach oben zum Zeichen da'ür. daß er keine Waisen führe, trotzdem wurde auf ihn fortgesetzt gefeuert und nur dank einem glücklichen Zufall gelang eS ihm, die Straße zu überschreiten und unversehrt seine Wohnung zu erreichen. Kaum hatte er sie betreten, als die Türe sich öffnete und im Vorzimmer ein Haufen Soldaten, geführt von dem PoUzeimeiner des Preßnia-Neviers, Jermolow, erschien. Tiefer wandte sich an Dr. Worobjew mit der ,'s rag. ...Hier befindet sich eine Station vom Roten Kreuz?" „Nein," antwortete Worobjew. „Sie stimpaibisieren mit den Revolutionären?" „Ich hege für sie feine Sympathie, aber meine Pflicht als Arzt ist es, allen zu helfen, welche ärztlicher Hülfe bedürfen." „Sie besitzen eine Waffe?" „Ich besitze einen Revolver, aber ich habe auch vom Stadthauptmann die Er-; l a u b n i s dazu." Worobjew wandte sich, um m das Nebenzimmer zu geben und von dort die Waffe wie den Erlaubnisschein zu holen. Im selben Augenblick feuerte Jermolow auf ihn seinen llievolver ab. In den Hinter köpf getroffen, stürzte Worobjew zu Boden. Mit dem Schrei: „Wofür? Wofür?" warf sich seine Frau gegen Jermolow, aber dieser blickte sie wuterfüllt an, rief: „Mund halten" und er - hob auch auf sie seinen Revolver. Ihre Tochter riß sie zur Seite. Einige Sekunden stand noch der Mörder über dem Sterbenden, drehte sich bann um unb Bet» 0(.ß bas Zimmer. Nach ettoa vieruünbiger Agonie verschied Worobjew. Infolge deS in den Straßen von Preßnia tobenden Kampfes vermochte bie Wiilov et'k zwei Tage iy iter dem Rektor der Universität von bet Ermotbung ihres Mannes Mitteilung zu machen. Ter Rektor übermittelte bie Nachricht nebst einigen Zeugenaussagen an ben Staaisantvalr bes Moskauer Oberlanbesgerichts. Unter bem Truck ber öffentlichen Meinung würbe Polizeimeister Jermolow nach einigem Zaubern endlich verhaftet. Ta aber seine. Schwester Hofdame in Peiersbtug ist, wurde er nach kurzer Zeit aus derHaft entlassen, unb seine Angelegenheit wurde nicht auf gerichtlichem Wege weiter verfolgt, sondern dem Ermessen des Genetalgouverneurs überwiesen. * * * Marineleutnant Schmidt. Aus S e b a st o p o l, 7. Februar, wird gemeldet: Auf Aiiordntmg des Kriegsmiiiistcrittms in Aerbindimg mit dem Justizministerium wurde die Verhandlung gegen d e n LentnantSchniidl abgebrochen. Vorläufig ist bet nächste Termin auf ben 20. Februar festgesetzt worben. * * * Im Kankasusgebiet soll nach offiziöser Behauptung allmählich wieder Ruhe eintreten. So meldet bie Petersburger Telegraphen-! Agentur aus Tiflis, 8. Februar: Das Leben in Schuscha kehrt wieder in normale Bahnen zurück. Die SBerbinbiing zwischen ben einzelnen Stadtvierteln ist wieder hergestellt. Tie Ar:..enier und Talaren der, um - liegenden Dörfer bringen Lebensmittel unb Brenn - material. Wie aus Baku gemeldet wird, tritt ber dort geplante Kongreß der Petroleuminbusttiellen Anfang März zusammen. * * * Neue Gärung in Fiuland. In amtlichen russischett Kreisen herrscht, wie uns ans Petersburg ge« rnelbet wirb, große Beunruhigung wegen ber aus Fiuland etniaufenben Melbunge». Die Behörben sinb davon unterrichtet, daß täglich große Mengen von Waisen unb Munition, j a s e l b st (8 e s ch ü tz e in Fiitlaitb eingeführt unb überall militärische Vorbereitungen getroffen werden. Selbst Schüler werben zit bieten' militärischen Uebungen heraiigezogett. Der Gntitb für die Erregung ist in bet Ernennung Langhoffs zum Staatssekretär für Fiuland wie in bet Nichidewilligimg bet Wiedererrichtung des finischen Garde- bakiiUonS zu suchen. Bereits muß als ein neuer Sieg ber Reaktionäre betrachtet werden, daß bie Ernennung Langhoffs gegen den Willen Wittes erfolgte unb Witte sowie ber Senat bie Errichtung des Gardebataillons befürwortet hätten. Von der Wcltbühne. AuS dem Reichstage. Berlin, 7. Februar. Daß wir im Zeichen der Wahlrechtskämpfe stehen, bewies der Verlauf bes heutigen, Schwerinstages. Auf der TageSorbimng staub der fozialbetnokratische Initiativ - antrag : „In jedem ButtdeSnaat und in Elsaß-Lothringen muß eine auf Grund des allgemeinen, gleichen, direkten unb geheimen Wahlrechts gewählte Vertretung bestehen. DaS Recht zu wählen und gewählt zu werben haben alle über 20 Jahie alten Reichsangehörigen, ohne Unterschieb des Geschlechts, in demBundesnaat, in dem sie ihren Wohn - sitz haben. Mit der Begründung dieses Antrages hatte bie Fraktion ben Genossen Bernstein betraut. In einer sorgfältig vorbereiteten Rede schilderte er die Entstehung und Enltvicklung der konstitutiot'ellen Körperschaften in bett einzelnen Bundesstaaten, namentlich in Preußen, tiachweiiezid, baß das preußische Dreiklassenwahlgefetz daS Produkt eines Staatsstreiches sei. Er ging näher ein auf das Verhalten der verschiedeneit Parteien zu diesem Wablnurecht zu verschiedenen Zeiten und ivieS nach, daß sowohl Konservative, wie auch da? Zentrum, tiameniltc6 aber die Liberalen damit unzufrieden gewesen sind, bie letzteren zn unrecht, weil sie es zeitweilig in der Hand gehabt hätten, eS zu ändern, wenn eS ihnen mit ihrer Liberalität ernst ge - wesen wäre. Daran könne man auch die Aufrichtigkeit ihrer jetzige» Versicherung ermessen, daß sie für daS all - gemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht feien. Mit scharfen Worten geißelte er sowohl den Uebermut deS Jniikerluins wie auch bie protzige Brutalität ber Lübecker und Hmnburger Wahlrechtsräuber. Der Redner schloß seine Ausführungen mit ber Versicherung, daß bie beseitige Bewegung für die Erringung beS Wahlrechts nach unserem Anträge nicht toieber von ber Bildfläche verschwinden werde, bis bie int Besitze ber Macht be - findlichen Klassen den berechtigten Forderungen deS Volkes Rechnung getragen haben. Die scharte Kritik, die Bernstein ben Lübecker unb Hamburger Protzen hatte augebeihen lassen, rief den Hanseatischen Bundesralsbevollniächtigten Dr. K l ü g » mann auf bett Plan. Einen unglückseligeren Vertei- biger beS an ben Volksrechten beruhten Raubes konnten diese hanseatischen Pfeffertäcke wirklich nicht finden. Ent - rüstet über die von Bernstein mit Bezng auf jenen Wahlrechlsranb gebrauchten Ausdrücke „Brutalität" und „Frivolität" schien er dar in, seinem sonderbaren Benehmen nach, eine persönliche Beleidigung zu erblicken und raste, sich infolgedessen in einen Eifer hinein, der durchatis ge - eignet mar, die Heiterkeit, und zwar nicht nur die ber Sozialdemokraten, sondern des ganzen Hauses zu entfesseln. In, blinbett Eifer brachte er es sogar fertig, zu behaupten, verstanden zu haben, daß Bernstein da« Fenstereitiwerfen am Schopenstehl am 17. Januar als eine selbstverständ - liche Folge ber von der Hamburgischen Parteileitung veranlaßten Temoustration bezeichnet habe, was außer ihm kein Mensch unter der beiläufigen Bemerkung nu - feres Rediters bcrfianben haben kann und »erlauben hat. Nach einigen weiteren auf gleich bohrn geistigen Niveau gehaltenen Ausfällen gegen bie Sozialdemokratie , spielte siech dieser Vertreter der jämmerlichsten ipießbürger- , lieben Angstmeieret auf den „starken Mann' hinaus und 1 schloß mit der, unter soihanen Umständen die größte! Heiterkeit hervorrnfenden Phrase: „Als Männer tragen wir unser Haupt hoch!" Echt zentlümlich war die Erklänmg des Grafen Hompesch, daß das Zentrum es ablehnt, näher auf den Antrag einzttgehen, weil es nicht Reichs-, sondern LandeSsache sei. Wie sich daS Zentrnm später sagen lasse» musste, stand eS früher auf entern anderen Standpunkt, wie mehrere Reden seines uerftorbeitcn früheren Führers Windthorst erkentten lassen. Daß die Junker nichts von einer Verfassungsänderung in ihrer preußischen Domäne wissen wollen, war nicht erst nötig durch Normann erklären zu lassen, und ebenso wenig war es nötig, daß Bassermann für die Nationalliberalen daS gleiche, nur mit einigen int Znge bcr Zeit liegenden Angriffen gegen bie Antrag - steller geschickt erklärte. Nicht viel mehr bebrüten die platonischen Liebeserklärungen ber Freisinnigen Träger und Schrader, woblverpackt in Vermahnungen an bie Sozialbemokratett, sich boch immer hübsch artig unb anständig zu verhalten, denn sonst sei das honette Bürgertum außer staube, dem ersten Teil des Antrages zuzustimmen, absolut unmöglich aber sei es, für den zweiten einzutreten. Zum Aerger aller Reaktionäre ergriff auch der Staatssekretär Graf PosadowSky das Wort, was seit langem bei ber Beratung von Initiativanträgen nicht geschehen ist. Ja, er hielt sogar eine große, eine staatsmännische Rebe. Die bemerkenswertesten Stellen bi. fer Rede sind unseres Erachtens die Erklärung, daß die Rcichsregierung nicht daran denke, eine Aenderung deS RcichSiagSwahlrechts durch,usetzeit. am allerwenigsten auf dem Wege des Staatsstreichs. Er richtete die ernste Mahnung au die Rcaltiouäre, die Geschichte des Mau- teuffelschcu Staatsstreichs zu studieren. Die zweite Er- fläruiig, unter direkter Bezugnahme auf den zur Beratung steheuden Antrag, ging dahin, daß man in Preußen nicht daran denke, ein anderes als da? Drciklasscitwablrccht eiuzutithren, weil dadurch die Gefahr entstehen könnte, daß auf gesetzmäßigem Wege bie Abichaffuug ber Dynastie Hohenzolleru beschlossen weiden tonnte, unb- man boch nicht verlangen könne, baß biefc selbst bazu beitrage, ihre Henker zu bestellen, denn nur „bie allergrößten Kälber wählen ihre Metzger selber". Da bcr bekannte Freund KardorffS, Dr. Arendt, sich darüber entrüstet zeigte, daß bet Staatssekretär diesem sozialdemokratischen Anträge iticht nur die Ehre angetan habe, dessen Beratung beizuwohuen, sondern sogar daS Wort daztt zu ergreifen, wodurch vor bcr breiten Oeffent- lichkeit sehr leicht bcr Eindruck berborgerufeu werden könne, alS lege die Negierung bet Sozialdemokratie mehr Wichtigkeit bei al» anderen Parteien, so fertigte ihn bcr Angctcinpette mit einer nicht mißznverstehcuben Hand- bewegung und ber Bemerkung ab, baß sich die Regierung webet von Ateubt noch von einem sonstigen Abgeordneten votschteibm lasse, wann sie das Wort zu ergreifen habe. Darüber entscheide sie selbständig. In bedingtet Weise erklärten sich für den Antrag der Pole K u l e t s k i und ber Elsässer Seifet, wohingegen bcr sich jetzt zu den Antisemiten haltende ehemalige Sozialdemokrat Gras Reventlow nur einige alberne Invektiven gegen feine ehemaligen Parteifreunde verbrachte. Das ist nun mal Renegatenart. Mit dem heutigen Tage können wir jufricben sein. Fortsetzung folgt ant nächsten SchwerinStag. DaS Grubenitnglnck auf der „Borussia" wirb nun boch noch tut Reichstage zur Beratung komme». Graf Pofadowskn hat am Dienstag im Namen bes Reichskanzlers erklärt, baß dieser die Beaiilwortuitg der sozialdeiuoktalischcu Juterpellatiou ablehne, weil eS sich um eine spezifisch preußische Bcrgbauaugelegen- beit handle. DaS hatte gegenüber bcr erst gewählten Form ber Interpellation vielleicht einen Schein von Be - rechtigung. aber die Sache ist von so großeni allgemeinen Interesse, daß bie Stegiiriing solche Bedenken nicht vor» schieben sollte Bcdauerlicheriveife wurde die Besprechimg der Sache am Dienstag ja dadurch vereitelt, daß nicht bie fünfzig Milglicbcr für bett Antrag anwesend waren, ein Vorgang, ben unsere Genossen im Reichstage allein hätten verhindern können, wenn sie zahlreicher zur Stelle gewesen wären. Jetzt hat die s o z i a I d c m o k r a t i s ch e Fraktion eine neue Interpellation in folgender Form eiugebracht: „Ist dem Herrn Reichskanzler bekannt, durch Außer- a ch t"l a s s u ii g w e l ch e r A r b e i t e r s ch u tz b e st i m » ni iin gen am 10. Juli 1905 auf ber Kohlenzeche .Borussia" bei Dortmund ein Schachtbranb eingetreten ist, durch bett 39 Arbeiter getötet worden sind? — Was gedenkt der Herr Reichskanzler zu tun, damit ähnlichen Grubeuunglücksfällen uorgebeugt wird?" — Diese Interpellation kommt, wie bcr „Vorwärts" berichtet, voraussichtlich am Freitag zur Besprechung, bei der unsere Abgeordneten unbedingt am Platze sein müssen. Im preußischen Abgeordnetenhause wird dieselbe Frage durch daS Zentrum aiigeschnilten werden. Dort ist vom Abgeordneten Brust mit Unter - stützung derZeiitrumspartei im Abgeordnetenhause folgetibe Interpellation eingebradn worben: Da von dem Ergebnis ber amtlichen Untersuchung über bie Ursachen bcS Grubenunglücks vom 10 Juli 190' auf bcr Kohlengrube „Borussia" bei Dortmund noch nichts besannt geworben ist, fragen wir ben Minister für Hanbel unb Gewerbe an, ob 1. etwa an bem Grubenunglück schuldige Personen zur Verantwortung gezogen worden sind. 2. Hält der Minister die seitens bcr Königl. Berg - behörde nach dem Unglück getroffenen Maßnahmen für ausreichend, um ähnlichen Unglücken vorznbeugen? Ein Ausweichen gibt eS also für die Regierung nicht mehr. Sie wird über bie „Borussia"- Katastrophe Rede und Antwort stehen müssen. (Sine Untersuchung der ArbeitSverhältnisse in brr Großindustrie 'ordert eine von der sozial - demokratischen ReichstagStraktion znnt Etat des RcichS- amt des Innern gestellte Resolution. Sie ersucht den Reichskanzler, eine eingehende Untersuchung der Arbeits- Verhältnisse der Arbeiter der Grostinbustrie einzuleiten, die insbesondere ans folgende Piiiikte sich crstrccfcii soll: Feststellung der Dauer der täglichen normalen Ar - beitszeit unb Arbciisschichten, Feststellung der U c b e r ft it n b c it unb Ueberschtchlen unter Be- rücksichlignitg brr Zahl ber Ucbcrzeitarbeit leistenden Ar - beiter »ür jede? einzelne Werk, sowie bcr auf ne ent - fallenden durchschnittlichen Summen bcr Ucbcrzeitarbeit, Unlcrsttchimg über die Einwirkung der langen Arbeitszeit, bcr Nacht- und Ucbcrzeitarbeit auf bie Unfallhäufigfett unb die ErkranknugS- gef ab r der Arbeiter, Feststellung über bie Durch - führung und Anwendung bcr bis jetzt erlassenen gefetz- ljchen S ch u tz b e st i tu m tt n g c n für die Arbeiter, Feststellung über bie von ben WerkSleituttgen g e - troff ('nen sanitären Einrichtungen, wie Waschgelegenheit und B 'deeinrichtuugen für bie Arbeiter, über Beschaffung von Räumen zur Aiifbcwahrung bcr Kleiber und zur Einnahme bcS Mittagesse>,s, Kantinen mb bergt. Tic neue Form der Zigarettcnfteuer. bie von bem nationalliberalen Abgeordneten Held itn Verein mit einigen anderen, vom Steuerschmerz ber Regierung gerührten Abgeordneten konservativer unb ultramontancr Couleur anSgcheckt worben ist. zeigt sich bei bcr Weitcrberaiung ui ber Kommission immer mehr in ihrer Wibersinnigfcit. Das Hinbert jeboch bie steuersiichtigen Leute nicht, ben Unserm zu beschließen. Nach § 2 soll bie Steuer nach bem Kleinkaufs- preise berechnet, nach § 3 aber vorn Hersteller der Ware entrichtet werden, bcr also die KleitckanfS- preise zu bestimmen hätte. Abgeordneter o. E l m bezeichnete dies als eine ungcheuerlicheJnkonsequenz und beantragte statt „Hersteller" zu sagen. „Ver - käufer", weich' letzterer sich ja an den cii'^urichten den Verlaufsstellen die Banderole kaufen könne. Ab - geordneter Geyer |Soz.) behauptete, durch diese Bestimmung werde den großen Unternehmern das Preismonopol in die Hände gespielt. Abgeordneter Raab (Antisemit) hielt dies für vorteilhaft, weil damit der Schleuderkonkurrenz begegnet werbe. Dem wibersprach Geyer, ber auf bie Konkurrenzwirt schäft bes amerikanischen Zigarettentrustes in seinen beutfeben Fabriken hinwies. Die sozialbemrkco.tischcn Avgcorbneten Forster, Kaben und 2 ch m a l- f e l b t wiesen nach, wie baburch bcr Kleinbetrieb geschäbigt werbe, unb polemisierten scharf gegen bie Tendenz der Vorlage: die wichtigen, das ganze Ge - schäftsleben berührenden Ausführungsbeftii'imunzen dem Bundesrate zu überlassen, der damit freie Hand bekomme für monopolistische Bestrebungen. Ter Antrag v. Elms wurde a b g e l e h n t unb $ 3 nach ber Vorlage angenommen. Bei § 6 forderte Geyer Auskunft, ob mit der Bestimmung, daß Zigaretten nur in „vollständig geschlossenen Packun gen" verkauft werden dürfen, der Verkauf einzelner Zigaretten aus dem Paket untersagt werden solle. Die Antragsteller konnten darüber keine Auskunft geben, kennen also bie Tragweite ihres Subelwertec- gar nicht. Erst nach wicberholtcr tiufforberung gab ber Direktor Kühn die Erklärung ab, daß bie Bunbesratsvorschnften darüber befinden würde». Geyer und v. E l m forderten darauf eine Aende rung im Gesetz, weil sonst der Rückgang im Kon fum noch großer werde, auch dürfe der Reichstag keine legislatorischen Rechte aus der Hand geben unb ben Bunbesrat nicht so wichtige gesetzliche Be ftimmungen allein treffen lassen. Jedoch — es fruchtete nichts, § 5 wurde nach der Vorlage an - genommen. Ein Antrag v. Elms, in diesem Para - graphen die Bestimmungen zu streichen, nach bel - auf jeder Packung auch der Name und Sih der Firma des Händlers angebracht sein muß, wurde abgclehnt. Ferner wurden von sozialdemokratiseber Seite die §§ 8, 10 unb 12 angefochten, welche Be - lästigung unb Beeinträchtigung bcr Kleinbetriebe brächten. Bei § 8 würbe eingeioenbet, baß er ben „schwarzen krausen Tabak" mit treffe, der aliege pfundet unb wegen seines Feuchtigkeitsgehalts gär nicht in Pakete verpackt, sondern in tönernen Kruken gehalten werde. Die Antragsteller bcr Mehrheit lehnte jede Aenberung ab. wollen aber ben „schwat - zen Krusen" von bcr Steuer ausnehmen Durch § 13 wirb die ganze Rauchtabakinbustrie, bie fein geschnittenen Tabak herstellt, in Mitlcibenschast gc zogen unb ber polizeimäßigen Aufsicht unterworfen, wie ber Avgeorbnete Geyer fest stellte, so bah bas Gesctz einen Einbruch in bie Tabakinbustrie macht. Aber cs war alles in ben Wind gesprochen — die Mehrheit ist von einer wahren Sucht befallen, bie Zigaretteninbustrie schwer zu belasten ohne Rück - sichtnahme auf bas ganze geschäftliche Getriebe. Den Antisemiten würbe mehrfach bcr Vorwurf gc macht, baß sie burch ihre Verteibigung bes Ent - wurfes gcrabe bie Kleinbetriebe schädigen, die sic sonst zu schützen vorgeben. Nach unveränderter Annahme deS § 13 wurde die Beratung vertagt. Die sozialdemokratischen Abgeordneten haben folgenden Antrag eingebracht: „Die Kommission wolle beschließen: Dem Gesetz über bie Zigarettensteuer folgende Bestimmungen hinzuzufügen: § 27a. Personen, bie alS Arbeiter ober Arbeiterin in dcrZigaretteninbustrie gearbeitet haben unb nach Inkrafttreten bes Zigarettenstcuer- gesetzes arbeitslos werben burch Einschrän- tunq ber Probuktion ober burch Verlegung bcr Fa bril.n aus den Großstädten auf das platte Land oder durch Ucbcrgaug vom Handbetrieb zur Fabrika tion vermittels Maschinen, erhalten Entschädi - gungen unb zwar: a) Wenn sie zur Zeit deS Eintritts ber Arbeits - losigkeit mi»bestens ein Jahr, aber nicht lan - ger als zwei Jahre sich alS Zigarcttenarbeitcr ernährt haben, ben Betrag eines JahreS- verbicnsteS, mindestens aber