Nr. 121. Dienstag, den 28. Mai 1907. 21. Jahrgang. Hamburger Echo. Das „Hamburger Echo" erscheint täglich, außer Montags. Abonnementspreis linkl. „Die Neue Welt") durch die Post bezogen ohne Bringegew monatllch jtt. 1,20, vierteljährlich A 3,60; durch die Kolporteure wöchentlich 30 4 frei ins Haus. Einzelne Stummer 5 4. Sonnlags-Nummer mit illustrierter Sonntagsbeilage „Die Neue Welt" 10 A. Kreuzbandsendungen monatlich A 2,70, für das Ausland monatlich A 3,50. Redaktion: Expedition: Fehlandstraße 11, 1. Stock. Hamburg «V Fehlandstraße II, Erdgeschoß. Verantwortlicher Redakteur: Karl Petersson itt Hamburg. Anzeigen die sechsgespaltene Petitzeile oder deren Raum 35 A. Arbeitsmarkt, Vermietungs- und Mamiltenanzetgen 20 A. Rnzeigen-Annahme Fehlandstr. 11, Erdgeschoß (bis 5 Uhr Nachmittags), in den Filialen (bis 4 Uhr Nachm.l. sowie in allen Annoncen-Bureaur. Platz- u. Datenvorschristen ohne Verbindlichkeit. 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Er hat es in der Kunst, bald ein „liberales" und bald ein reaktionäres Gesicht zu zeigen, zu einer erstaunlichen Virtuosität gebracht. Offenbar hält er sich für den gewaltigen Mann, der von der Vorsehung dazu bestimmt ist, die russische Revolution zu bändigen, und er hat unlängst in der Duma einige Umrisse der Pläne gegeben,^ die ihn beschäftigen. Er meinte, Rußland werde lich nicht auf den Weg der Zersetzung begeben, und er mutet der polmschen Welt zu, eine solche Phrase ernst zu nehmen, nachdem stch im japanischen Krieg und in der russischen Revolution die ganze grauenhafte innere Zersetzung des Zarenreichs gezeigt hat. An sich sind seine Projekte nicht überall neu, denn er lehnt sich mit denselben an gewisse reaktionäre Kunstgriffe an, mit denen man 1848 und darauf im mittleren und westlichen Europa den Löwen der Revolution zu bändigen gewußt hat. Stolypin will die Bauern zur Ruhe bringen und mit den übrigen „unzufriedenen" Elementen hofft er dann aufräumen zu können. Einstweilen spielt er den „konstitutionellen" Staatsmann, um die Bewegung so lange hinzuhalten, bis sie erschöpft ist; alsdann wird er als Gewaltmensch anftreten und das revolutionäre Feuer völlig ersticken, oder er wird mit anscheinendem Bedauern einem anderen Gewaltmenschen diese Rolle überlassen. Um die Bauern zu befriedigen, hat er andere Mittel in Bereitschaft, als man in den westlichen Ländern angewendet hat. Zunächst verwirft er alle Mittel, welche von den Parteien vor- geschlageu worden sind. Er sagt, das verfügbare Land reiche bei weitem nicht aus, um die Bauern zu befriedigen. Auch weist er eine Expropriation, namentlich eine gewaltsame, weit von sich. Eine solche würde nur zu einem Staatsstreich führen, denn „starke und geschickte Männer" würden wieder mit Gewalt darauf antworten. Dtit anderen Worten: Die großgrundbesitzende Aristokratie ist entschlossen, sich gegenüber einer wirklichen Agrar - reform mit Gemalt in ihren Vorrechten jn behaupten, auch gegen eventuelle Beschlüsse der Volksvertretung. Als Mittel, alle Schwierigkeiten zu überwinden, will «stolypin eine umfangreiche Auswanderung organisieren. Die Bevölkerung im enropäischeu Rußland nimmt jährlich um 1 600 000 Menschen zn und gegen - über diesem Anschwellen der Masse hungernder Bauern weiß dieser echt russische „Staatsmann" keinen anderen Ausweg, als das Abschieben in Masse. Wohin er die „überzähligen" Bauern befördern will, hat er nicht gesagt, wenigstens geht es aus den uns zugänglichen Berichten nicht hervor; wir können also nicht, beurteilen, ob er ihnen anheimstellen will, wohin sie gehen wollen, ober ob er unwirtliche Landstriche in Asien mit ihnen besiedeln" will. Zu letzterem würde immerhin etwas Geld gehören und das steht zur Zeii der Regierung des Herrn Stolypin nicht zur Verfügung. Den Bauern, die ziirückbleiben, wird „Wohlhabenheit" in Aussicht gestellt, denn, so be - hauptet dieser übertünchte Kosak, dainit sei auch Bildung und „Freiheit" verbunden. Wohlhabenheit, Bildung und Freiheit — unter dem Regime eines Stolypin! Den zurückbleibenden Bauern wird Land versprochen, sie sollen in den Besitz der „Freiheit ihrer Arbeit" kommen. Es ist kaum an- zunehmen, daß die Mehrheit der Bauern diesem unheimlichen Projekt Vertrauen entgegenbringen wird. Wer die hergebrachte Perfidie russischer Regierungen mir einigermaßen kennen gelernt hat, dem muß sich die Befürchtung aufdräugen, daß die Re - gierung eine solche „Auswanderung" nur „organisieren" wird, um die ihr gefährlichen und verhaßten Elemente unter den Bauern in Masse zu entfernen, damit sie mit den anderen um so leichter fertig werden kann. Wir können uns gar nicht denken, daß solche Vorschläge die Bancrilschaft „beruhigen" können, nachdem die Bauern in der jüngsten Zeit sich so vielfach an den politischen Kämpfen beteiligt und, wie sie auch über eine Agrarreform denken mögen, immerhin Erfahrungen gesammelt habe». Während der Ministerpräsident so den Bauern die Katzen - pfote hinhält, bei der die Krallen bald genug zum Vorschein kommen werden, hat er der russischen Sozialdemokratie die eiserne Faust und die rohe Gewalt gezeigt. Er hat die sozialdemokratische Fraktion der Duma in ihrem Verfainmlimgs- lokal überfallen und alles durchsuchen, auch einige Verhaftungen vornehmen lassen. Aus eine Beschwerde in der Duma ant - wortete der „konstitutionelle" Staatsmann, so etivas müsse ihm gestattet sein. Die Unverletzlichkeit der Dumamitglieder ist eine selbstverständliche Sache, aber die Regierung muß das Recht haben, sie mit Füßen zu treten. An dem „Koustitntionalisinus" dieses Stolypin wird Rußland noch etwas erleben^ Bei dem Uebcrfall der sozialdemokratischen Fraktion tvill mau nun eine Menge kompromittierender Papiere gefunden haben. 36 Abgeordnete, teils der sozialdemokratischen, teils der sozialrevolutiouären Partei aiigehörend, sollen mit der revolutionären Agitation in der Armee in Verbindung stehen und daraufhin will, so heißt es, die Regierung Den Ausschluß dieser 36 Abgeordneten aus der Duma beantragen. Es ist kaum anzunehmeu, daß wirklich Schriftstücke gefimbeii worden sind, die beu Beweis für eine solche Verbindung enthalten. Man weiß ja, wie solche „Beweise" gemacht werden. Wenn in Deutschland schon der Prozeß Waldeck und der Kölnische Kommunistenprozeß möglich waren, wenn in Italien seinerzeit der große Crispi sich künstliche „Beweise" für die Pläne der Revolutionäre verschaffen konnte — was mag Da in Rußland nicht alles möglich fein! Was man mit diesen „kompromittierenden Schriftstücken" beztveckt, liegt auf der Hand. Herr Stolypin arbeitet auf Die Beseitigung der Duma hin; er hat dies deutlich genug ver - raten, als er alle ans der Dnma hervorgegangeueu Vorschläge zu einer Agrarreform verwarf und den „selbständigen" Plan der Regierung mit bent Auswanbernngsprojekt vortrug. Das beutet die Rückkehr zum Absolutismus an. Aber wenn er bie Duma sprengen will, muß er boch auch einen Vorwand da - zu haben, mit be'n Summen und Schwachen im Lande eine solche Maßregel als „notiuenbig" erscheinen zu lassen. Zu diesem Zweck wurden bei dem UeberfaU der sozialdemokratischen Fraktion die „Beweise gefuuben". Ob man wirtlich etwas von Bebentung gefuuben hat, wird sich ja bald zeigen. Vor - läufig glauben wir nicht daran. Also bie Bauern sollen abgeschoben ober mit Versprechungen über den Löffel barbiert und dazu soll bie Duma gesprengt werben. Das fittb die Pläne dieses „koiistitutionellen" Staats - mannes, der in seinen Mitteln wahrlich nicht wählerisch ist. Aber das ist auch nicht der erste Staatsmann, der in seinem Größenwahn glaubt, seine Persönlichkeit besäße bie Macht, eine aus bem Volke selbst unb aus ben Verhältnissen mit Not - wendigkeit hervorgegangene große revolutionäre Bewegung er - sticken zu können. Sie wirb über ihn hinwegschreiten und ihn der historischen Lächerlichkeit überliefern, bie er berbient. Klutige Wahlen in Galisien. Die erste Nachricht von einem Wahlblutbade in Galizien ist zwar dementiert worden; aber ohne Blutvergießen sollten die Wahlen im gelobten Lande der Schlachztzen doch nicht zu Ende gehen. Wie aus einem Telegramm in der Sonntagsnummer zu ersehen, ist es in Horucko zu einem Gemetzel gekommen. Amtlich wird darüber aus Lemberg gemeldet: Als im Wahlorte Horucko, welcher zum Bezirk 57 (Stryj) gehört, der Vorsitzende der Wahlkommission, Erzpriester S k o b i e l s k i ,>das Wahlresultat verkündete, begann sich unter der vor dem Wahl - lokal versammelten Menge eine große Erregung bemerkbar zu machen. Es wurde laut die Rückgabe der Stimmzettel verlangt, und zwar unter dem Vorwande, daß der a I t - ruthenische Kandidat Dawydiak ungefähr 1000 Stimmen mehr, als der Vorsitzende angegeben hatte, erhalten hätte. Der Wahlkommissar wies darauf hin, daß tausend Wähler an dem Wahlakt überhaupt nicht teil - genommen haben, daß daher die Zumutung, es seien für Dawh- diak weniger Stimmen ausgewiesen worden, ganz unbegründet sei. Diese Vorstellungen fanden kein Gehör. Die erregte Menge wollte nicht zurückweichen, verlangte vielmehr eine neuerliche Ab - stimmung und erging sich in Drohungen gegen den Vorsitzenden Skobielski. Die Wahlkommission und die Gendarmen wurden mit Steinen beworfen, die Fenster des Wahl - lokals zertrümmert und alle Lichter ausge - löscht. Die Aufforderung der Gendarmen zum Auseinander - gehen war vergeblich und wurde mit einem Steinbombardement beantwortet. Drei Gendarmen erlitten Verletzungen. Der Gendarmeriepostenführer ließ nun infolge des gewalti - gen Vordringens der Exzedenten und des wiederholten Steine- werfens von der Schußwaffe Gebrauch machen; bi e Menge wich aber noch immer nicht zurück, worauf eine zweite Salve abgegeben wurde. Vier Bauern fielen, neun wurden schwer verwundet. Jetzt erst zerstreute sich die Menge. Unser Wiener Parteiorgan bemerkt zu diesen blutigen Vor - gängen: „Nur dieses Blutvergießen hat noch gefehlt, um das Bild der galizischen Wahlen bis auf den letzten Zug zu vollenden. Seit Wochen bringen wir und die unabhängige Presse Galiziens Berichte über die ungeheuerlichen Wahlmißbräuche, mit deren Hülse das Zentralwahlkomitee der Stanczyken sich behaupten will. Seit dem 14. Mai vergeht kein Tag, an dem es nicht Bitten, Beschwerden, Proteste regnet, an dem nicht der Minister - präsident Beck unb der Minister des Innern Bienerth um Abhülfe gebeten werden: mündlich, schriftlich, telegraphisch, tele - phonisch. Um sicher zu sein, daß diese Proteste an die richtig^ Adresse kommen, haben die von der Schlachta und ihren Bütteln Bedrängten sich auch an 'den Wgeordneten Adler gewendet und dieser hat wiederholt beiden Ministern auch noch mündlich diese Klagen überbracht und nicht versäumt, auf die Gefahr aufmerk - sam zu machen, die naturgemäß die steigende Empörung der Wählerschaft, der maßlose Uebermut der Behörden und die schran - kenlose Zügellosigkeit der herrschaftsgewohnten Stanczyken mit sich bringen müssen. Die Minister haben erfahren, daß off e n c r Stimmcnkauf unter den Augen der Behörden in den Städten Galiziens zur Regel geworden ist; sie haben erfahren, daß man Tausenden von Wählern in den Landbczirken die Legitimationen nicht zugestellt hat; sie wissen es aus unzähligen Berichten, daß man, wo Stichwahlen oder zweite Wahlen nötig sind, den Wählern die Stimmzettel nicht zu - stellt, daß man sie ihnen erst an der Wahlurne durch die Wahl- kommssäre ausfolgen laffen will, um so die geheime Wahl unmöglich, die offizielle Wahlerpressung zur Regel zu machen. Der Minister des Innern hat diese ab - surde Auslegung des Gesetzes für Böhmen, wo sie stellenweise auch versucht wurde, durch eine Weisung an die Prager Statt - halterei beseitigen können, in Galizien war das, wie sich gezeigt hat, unmöglich. Herr Statthalter Graf Potocki hat für die untertänigen Vorstellungen der Wiener Minister taube Ohren. Graf Potocki weiß, was er der Autonomie Galiziens schuldig ist: o h n e B e st e ch u n g , ohne Vergewaltigung, ohne Totschlag darf es keine Wahl in Galizien geben; Herr Graf Potocki weiß, was er der Schlachta schuldig ist, als deren Agent er in Lemberg sitzt." Wie der Wahlschwindel betrieben wird, darüber erzählt die Wiener „Arbeiterzeitung" folgende Geschichte, die ihr durch einen intelligenten und besonnenen Mann, den Genossen Dr. I ar o ssc- rn h t f ch , verbürgt ist, der mit feinem Namen dafür einstcht. Ja- rofsewytfch hatte in Buczacz kandidiert und wurde dort durch denselben Wahlschwindel, wie der in Horucko geübte ist, um fein Mandat bestohlen. In der Gemeinde Cygany verkündete der Komissar das Resultat: Jarossewhtsch habe 102 Stimmen er - halten. Sofort meldeten sich die Bauern und 206 von ihnen erklärten, beim Kruzifix beschwören zu können, daß sie für Jarossewytfch gestimmt hatten. Der Kommissar erfaßte die bedrohliche Situation und sagte: „Ja, ja, ich habe mich geirrt, es sind 206 Stimmen für Jarossewytfch abgegeben." Die Bauern beruhigten sich rasch und verließen das Wahllokal. An die Wahlkommission im Hauptwahlort aber berichtete der Kommissar, daß für Jarossewytfch 102 Stimmen abgegeben worden seien. Diese 104 Stimmen wurden also einfach geraubt. Aehnlich ging es in den an - deren Orten. Da braucht man sich nicht zu wundern, wenn die betrogenen Wähler ungemütlich werden. Aber nicht nur die Bauern werden so behandelt. Auch in den Städten übt die Schlachta ihren Terrorismus und ihre Korruption in der brutalsten Weife aus. So wird aus Lemberg berichtet: Unter ungeheurem Terrorismus der jüdischen Kultusgemeindc wurde hier die Stichwahl im Dritten Bezirk, wo Genosse Dr. Dtamand dem Kultusvorstand v. Horowitz gegcnüberstand, vorgenommen. Dchon Tage lang vorher wurden die Wahlhyänen des Horowttz hcrumgeschickt, um durch Drohungen und Be - stechungen die armen Juden von der Wahl Diamands abzu- halten. Den Höhepunkt erreichte Die Wahlkorruption am Wahltag selbst. Um den E Wählern offenkundig zu machen, daß die hohe Regierung sich für die Wahl interessiert, mußte Militär ausrücken. Zwei Bataillone Infanterie mit gefälltem Ba - jonett bi Ibe ten vor dem Wahllokal Spalier. Die Polizisten agitierten öffentlich für Horowitz, und wer sich das tierbat, wurde verhaftet. Wähler, von denen man vermutete, daß sie für Diamond stimmen würden, wurden ohne jeden Anlaß arretiert. Berittene Polizei galoppierte unaufhörlich durch die Gassen, im Korridor vor dem Wahllokal durften die Agitatoren des Horowitz ungestört die Wähler terrorisieren. Gegenüber dem Wahllokal war das ^lgitationslokal des Horowitz, Ivo ganz offen unverschämter St immenkauf getrieben wurde. Obwohl an die Polizei die Anzeige davon erstattet wurde, weigerte sie sich, gegen die Stimmenkäufer aufzutreten. Ebenso weigerte sie fick, Agitatoren des Horowitz, die mit fremden Legi - timationen wählen gingen, zu verhaften. Und der Statthalter Potocki erschien mehrmals vor dem Wahllokal unb besah das Werk. Und er sah, daß alles wohlgetan war. Aber alles war vergebens. Die jüdische Kultus - gemeinde unterlag mit samt ihrem Häuptling und Genosse Diamand wurde gewählt, der 84. sozialdemo - kratische Abgeordnete! Politische Ueberstcht. Entlarvte Wahllüge. Ein am Sonnabend vor dem Berliner Amtsgericht ver - handelter Beleidigungsprozeß hat wieder eine der vielen gegnerischen Wahllügen zur Strecke gebracht. Es handeltc sich wieder einmal um die verleumderische Behauptung, daß Sozial- demokratcn gefälschte Stimmzettel sollten ausgegeben haben. Kläger war Genosse Liebknecht, der im Zusammen - hang mit jener Lüge genannt war. Angeklagter war der Re - dakteur des „O st h a v e l l ä n d i s ch e il K r e i s b l a 11 e s", das solgenden Artikel gebracht halte: „Nauen. Einen ganz besonders niederträch - tigen Trick v o l l f ü h r t e u die ?S o z i a l d e m o t r a t c n um Stichwahltage. Sie verteilten — namentlich in Spandau und Potsdam — große Massen von Wahlzetteln, in welchen der Vorname des Herrn Pauli absichtlich falsch angegeben war, offenbar in der Hoffnung, daß die Wahlvorsteher diese Wahlzettel für ungültig erklären und somit unser Kandidat einen erheblichen Stimmenfall erleiden würde. Dieser hinterlistige Plan war aber ein Schlag ins Wasser. Die Herren Wahlvorsteher haben durchweg derartige ^Stimmzettel für gültig erklärt, da ja die Stimmzettel trotz des falschen Vor - namens unzweifelhaft ergaben, daß nur der Tischlermeister Pauli gemeint fein konnte. Es beweist dieser Vorgang aber wiederum, mit welchen geradezu infamen Mitteln bie Führer der Sozialdemokratie arbeiten. Nach dem Grundsatz: Der Zweck heiligt das Mittel, scheuen die Herren vor keinem, auch bem schmutzigsten Mittel nicht zurück, um ihr Ziel zu erreichen. Wir sind überzeugt, daß eine derartige, direkt betrüge - rische Kampfesweise, wie sie Herr Liebknecbt in, Kreise O st h a v e l l a n d angewandt hat, alle an ständigen Elemente der von der Sozialdemokratie verführten Arbeiterschaft geradezu anwidern muß, und es ist zu hoffen, baß die Kandidatur des Herrn Liebknecht damit ein für allemal für unseren Kreis erledigt ist." Eine Berichtigung Liebknechts gab das Kreisblatt nur verstümmelt wieder und mit dem Zusatz: Sollte Herr Dr. Karl Liebknecht den verdammenswerten Vorgängen in unserem Rcichstagswahlkreise fernstehen, würde uns dgs außerordentlich freuen. Wie kann sich auch ein hoch - gebildeter Mann identifizieren mit den Genossen, die ihre Agimnonsgroschen zwangsweise bet bett V>ieid)äfiä(euten em- tretbeu (siehe Velten), die Fenster unserer «ebaltton m nicht wiederzugebender Weise beschmutzen und letzt nach der Wahl die liberalen Geschäftsleute (siehe Nauen und Kotzm), die ver - mutlich bei der Stichwahl für Pauli gestimmt haben, boy- Das Kreisblatt fügt also, ohne bie Beleidigung zuruckzunehmen, neue, ebenso aus der Luft gegriffene Beschuldigungen gegen unsere Parteigenossen hinzu! Irgend einer von den angeblich falschen Stimmzetteln ist nicht aufzutreiben gewesen. Genosse, Neichstagsabgeordneter Hengs - bach, erklärte in einem Schreiben, daß sich auch in den Wahlakten Paulis, die er genau burchgesehen hat, kein solcher Stimmzettel befindet. Jn der Verhanblung- k o n n t e to e de r v o-n dem A n - geklagten, noch von feinem Verteidiger,- Rechtsanwalt Lüdi cke-Span bau, irgendein Be - weis für die Behauptungen erbracht werden! Da dem Genossen Liebknecht es weniger auf die Bestrafung des Angeklagten als auf bie Festnagelung der Wahl- lüge ankarn, fo kam ein Vergleich bahm zu staube, baß ber An - geklagte folgenbc Erklärung abgibt: erkenne an, baß ber in bem Artikel bes „Osthavel- ländischen Kreisblattes vom 9. Februar dieses Jahres, Nr. 34, in ber Rubrik „Aus Kreis unb Provinz" unter ber Stichmarke „Nauen" gegen ben Privatkläger, Rechtsanwalt Dr. Liebknecht, Berlin, erhobene Vorwurf, er habe unrichtige Stimmzettel für ben (Segenfanbibaten verbreiten lassen ober babei mitgetoirft, unzutreffend ist. Ich nehme biefen Vorwurf mit bem Ausbruck des Bedauerns zurück. Ich bin zu der Behauptung, daß falsche Siimmzeftel ver - teilt seien, durch Gerüchte unb Zeitungsnotizen veranlaßt worden. Ich erkenne an, daß ich nach Prü- fung bet Sachlage btefe Behauptung nicht mehr aufrecht erhalten kann. Jnsbesonbere erkläre -ch, daß ich keinerlei An - haltspunkte mehr dafür habe, daß die So - zialdemokratie oder ihre tätigen Mit - glieder falsche Stlmminze11el auf den N amen P a u I i verteilt, bei einer solchen Verkeilung auch nur mitgewirkt oder von einer solchen gewußt habe n." Der Angeklagte verpflichtet sich, den Wortlaut dieser Er - klärung versehen mit Datum und Unterschrift, binnen einer Woche hach Vergleichsaussertigung durch einmalige Einrückung in der für politische Nachrichten üblichen Schriftform, möglichst im redaktionellen Teil, in folgenden Blattern: „Osthavel- ländisches K re isblait", Potsdamer I n t e I l i- genzblatt", Spandauer Tageblatt und „Post auf seine Kosten öffentlich drkannizumachen. Der Angeklagte trägt sämtliche Kosten des Verfahrens So ist c i ne der vielen Sagen vor Gericht gebranbmarft. Aber auch sie wird darum noch nicht tot sein. In dem „Material" des Reichslügenverbandes wird sie tociterlcben; nur wird man sich hüten, bestimmte Namen dabei zu nennen, damit die Ver - leumder nicht vor Gericht gefaßt werden können. Lchifffahrtsabgabcn. Die S ch i s s s a h r t s a b g a b e >i - K o n f e r e n z, die am Freitag in Rostock eröffnet wurde, Hai, wie von dort gemeldet wirb, einen teilweisen Sieg bes preußischen Standpunktes gebracht Soweit aus der bisherigen Stellungnahme der Negierungs - delegierten zu entnehmen ist, verharrten Wachsen und Mecklenburg bedingungslos auf Freiheit der Schifffahrt, wahrend Hamburg, Braunschweig unb Anhalt für ihre Regierungen keinerlei gegen den preußischen T-and punkt gerichtete Er - klärungen abgegeben haben. — Die Verhandlungen wurden am Sonnabend fortgesetzt. , , „ „ . . . Genauerer Bericht bleibt abzuwarteu. Uns mterefflert besonders, ob die h a m b n r g i s ch e Regierung gewillt ist, mit Preußen zu gehen. Die „staatserhaltenden" Parteien unter sich. Gemeinsam bekämpfen sie im „nationalen" Geist unb in „Treue zu Kaiser und Reich" die bösen Sozialdemokraten. Da sind sie „ein Herz und eine Seele". Ader das schließt nicht aus, daß sie gegenseitig sich in bie Haare geraten unb einander mit höchst unlauteren Mitteln bekämpfen. Am 30 d M findet in Stormarn-Wandsbeck bekannt - lich eine Ersatzwahl zum Landtage statt, bei der sich der hochkonservative Landrat v. Bonin und der nationamberale Gymnasiallehrer Sprösscl, ber von den unabhängigen Konservativen ben Nationalliberalen und den Freisinnigen aufgeftettt ist, gegenüberstehen. Dazu wird nationalliberalen Blattern geschrieben. f p a r t c i li ch e nKa n d id a t e n wird die Agi - tation in jeder nur erdenklichen Weise durch den behördlichen Apparat er schwer!. 3>» Kreise Stormarn dürfen zahlreiche Amts- und Gemeinbevorsteher sowie Landschullehrer es nicht wagen acaeii den Landrat zu stimmen. Die traurigsten Erfah - rungen haben in dieser Beziebung die Milglieder des Wahlausschiffses gesammelt, die zur Agiiaiion aufs Land hinausgezogeu waren. „Wir möchten wohl gern für Sprösse! stimmen, wir sind auch lieberal, aber es gehl nicht, wir dürfen es unterer Gemeinde wegen nicht tun. Unb man hört von einem Gemeinbevorsteher, der 1898 für Rechtsanwalt -r. Hornsen, den damaligen freisinnigen Kmfdidaien, stimmte und der feit 1898 im Lanbratsamt nickst mehr angehört wird, und ferner von einem Lehrer, dem beharrlich die Gehaltserhöhung verweigert wird, die feinen Kol - legen anstandslos bewilligt wird. 1898 hatte dieser Lehrer für Thomsen gestimmt. Der Ort Schiffbeck, der stets gegen die Landratspartei stimmte, bildet allgemein das StiefkindSiormarns. Ob dem Herrn preußischen Ministerpräsidenten, der doch in feiner Eigenschaft als Reichskanzler erst vor wenigen Monaten bie bringenbe Mahnung ausgesprochen hat, daß der Wahlkampf zwischen den 'sogenannten „nationalen Parteien" loyal geführt werde, dieses Treiben der Landratspartei wohl bekannt sein mag?" Warum denn nicht? Für die Regierung gilt immer noch Kon - servativ als Trumps. Wenn Sozialdemokraten be - hördlich schikaniert und vergewaltigt werden, so finden das meist auch die „Liberalen" ganz in der Ordnung. Bekommen s i c aber Prügel, bann jammern sie zum Gotterbarmen. Das deutsche Junungswescu. Nach den Mitteilungen des preußischen Handelsministeriums bestehen zur Zeit in Preußen 34 Jnnungsverbände mit 4416 Innungen und 211 675 Mitgliedern. Die stärksten Jnnungsverbände sind darunter der Zentralverbanb deutscher Bäckerinnungen „Germania" mit 1096 Innungen unb 51046 Mitglieberu, sodann der Deutsche Fleischerverband mit 1135 Innungen und 38 476 Mitgliedern, der Bund deutscher schneiderinnungen mit 250 Innungen unb 22 043 Mitgliebern, der Bund deutscher Barbier-, Friseur- und Perückenmacherinnungen mit 374 Innungen und 19 938 Mitgliedern usw. Im Jahre 1903 bestanden in Preußen 33 Jnnungsverbände mit 4194 Innungen unb 188 421 Mitgliedern. Die Zahl ber den Jnnungs- berbünben angeschlossenen Innungen hat demnach in den letzten Jahren nm 322, bie Zahl der Mitglieder um 23 236 zugenommen. Diese Innungen machen aber nur etwa die Hälfte ber in Preußen über - haupt bestehenden Innungen aus. Nach der amtlichen preußischen Statistik bestauben in Preußen Innungen: 1902 1904 5582 5805 freie Innungen + 223 2181 2864 Zwaiigsinnnngen + 183 7763 ' 8669 ' + 406 Die Zwangsinnungen ft eben demnach hinter ben freien weit zurück, sie betragen nur 40 Prozent von diesen, haben sich aber schneller als sie vermehrt. Jn ganz Deutschland dürften jetzt wohl mehr als 11 000 Innungen mit mehr als 500 000 Mitgliedern bestehen. Dazu kommen noch etwa 1400 Gewerbevereine mit etwa 150 000 Mitgliedern, darunter etwa 100 000 Handwerker, so daß im ganzen etwa 600 000 Handwerker im Deutschen Reich organisiert sind. Wenn es im Deutschen Reich etwa 1,2 Millionen Handwerker gibt, so ist ungefähr die H ä l f t e in Innungen und Gewerbe- Vereinen organisiert. Regenten - Honorar. Den Braunschweigern soll das Heil widerfahren, einen neuen Regenten in ber Person bes Herzogs Johann Albrecht zu Mecklenburg zu bekommen. Aber da hat sich eine Schwierigkeit aufgetan, die als Honorarfrage unter dem Motto: „Jn Geldsachen hört die Gemütlichkeit auf", bezeichnet werden kann unb sehr interessant ist. Dem verstorbenen Regenten, dem Prinzen Albrecht von Preußen, war vom braunschweigischen Landtage ein Zuschuß zur landesfülstlichen Rente in Höhe von 4t. 300 000 bewilligt worden; Prinz Albrecht hatte aber aus freien Stücken diese Summe auf X 220 000 herabgesetzt. Der braunschweigische Landtag hatte geglaubt, daß auch der neue Regent sich mit dem wirklich doch nicht geringen Zuschuß von X 220 000 — eine Summe, von der etwa 200 Arbeiterfamilien leben müssen — begnügen könne. Herr Johann Albrecht aber verlangt partout einen Zuschuß von jtt. 3 0 0 0 0 0. Billiger kann ers nicht tun. lieber die Affäre wird aus Braunschweig gemeldet: „Der brattnschweigischen Landesversainmlung ist ein Jni ti ativ - an trag der staatsrechtlichen Kommission über die Bemessung des zur l a n d e S s ü r st I i ch e n Rente zu leistenden Zuschusses zugegangen. In der Vorlage wird darauf hingewiesen, daß die herzog - liche StaatSregierung eine Herabminderung des früher gezahlten Zu- sthusses von k 300 000 auf X. 220 000 mit Rücksicht auf die Be - dürfnisse des Hofstaates als unbedenklich unb im Hinblick auf bie derzeitige Finanzlage deS Landes als er - strebenswert erachtet habe. Dieser Ansicht sei in den Verhand - lungen mit ben Vertretern bes Herzogs Johann Albrecht zu Mecklen - burg Attsdrnck gegeben worden. ^Demgegenüber fei von ben Be - auftragten des Herzogs Johann Albrecht die Ansicht vertreten worden, daß es im Falle bet Wahl deS Herzogs zum Regenten dessen Stellung nach außen hin Abtrag tun müsse, wenn der seit dem Jahre 1888 gezahlte Zuschuß von JI. 300 000 schon vor Nebernahme der Re - gierungsverwesung herabgesetzt werden sollte, und daß daher einer solchen Herabfetzung von dein Herzog nicht zugestimmt werden könne. Wohl aber sei dieser bereit, später auf Grund eigener Erfahrung über bie Möglichkeit einer Herabminderung des Zuschusses zur landesfürst - lichen Rente E r w ä g n ii g e n ein treten zu lassen und eventuell nach eigener Er Messung eine Herabminderung z n verfügen. Jn einer vertraulichen Aussprache habe sich nun, heißt es in der Vorlage weiter, die Mehrheit ber Mitglieder deS Landtages für die Bewilligung des vollen Zuschusses von k. 300 000 ausgesprochen unb der Regentschastsrat habe be - reits erklärt, einem diesbezüglichen Beschlusse der Landestiersammlung zuzustimmeii. Die staatsrechtliche Kommission stellt daher der Landes- versamiulung anheim, ihre Zustimmung zur Zahlung eines Zuschusses von jährlich M. 300 000, beginnend vom ersten desjenigen Monats, in dem ber neue Regent die Regierungsverwesung übernimmt, ihre Zustimmung zu erklären." So erfährt die Welt also den Hauptgrund, weshalb stch bte Regentenwahl über die gehegten Erwartungen hinaus verzögert hat. Der in Aussicht genommene Herr fürstlichen Geblütes und das braun - schweigische Staatsminisierinut konnten sich über bie Höhe des aus den Steuern ber Bevölkerung (wozu natürlich auch bte etwa hunderttausend Sozialdemokraten gehören, die da in ihrer Verruchtheit meinen, das Land brauche gar keinen fürstlichen „Lenker seiner Geschicke") zu zahlenden Zuschusses nicht einigen. Es nützt nichts, daß die Staatsregierung im Hinblick auf die derzeitige nicht günstige Finanzlage des Landes eine Herabsetzung des ZuschuffeS als erstrebenswert erachtete. Der Zukunftsregent verlangte die volle Höhe — und das Ministerium unb die Majoritä des Landtags waren s°ch w a ch genug, nachzugeben. Die Braunschweiger Zivil- lifte beträgt .ll. 1 125300. Dazu noch M. 300 000 Zuschuß, eine Art „Liebesgabe"; das ergibt ein Jahreseinkommen von beinahe e i it u n d e i n h a l b Millionen Mark. So viel kostet bie fürstliche Regentschaft eines Ländchens von noch nicht 500 000 Einwohnern. Macht im Durchschnitt Jt. 3 pro Jahr aut jeden Einwohner! Der Präsident der französischen Republik, die über 40 Millionen Einwohner hat, bezieht für seine viel umfangreichere und schwierigere Regierungstätigkeit nur 1 200 000 Franken gleich ^t. 960 000. Wenn die Braunschweiger die Regentschaft in Submission aus - geschrieben hätten um sie dem M i n d e st f o r d e r n d e n zu übertragen, so wären sie sicher billiger davongekommen. Schließlich hätte cS sich ja nicht um einen Sprößling eines sÜrstlichen Hauses zu handeln brauchen; ein „gewöhnlicher" Mensch hätte zu dem Amte eines Regenten auch getaugt. Die Folgen des Krieges in Südwestafrika. Die fast vollständige Ausrottung der Herero in bem jahrelangen Kampfe in Südewestafrika wirb jetzt von ben — Kapitalisten, bitter beklagt, weil ihnen badurch die intelli - gentesten Arbeiter entzogen worden sind. Nach einem im „Tag" veröffentlichten Artikel über die Arbeiterfrage in S ü d w e st a f r i k a machtr auf der letzten Jjahresyeneralver- sammlung der South-West-Afrika-Cie. der Vorsitzende Herr E. Davis u. a. folgende Mitteilungen: -Diefe Schwierigkeiten fallen ’ jedoch für den Minen- be trieb nur insofern ins Gewicht, als wahrscheinlich die Ver - hüttung mit der Forderung zeitweise nicht wird gleichen Schritt halten können, vorausgesetzt, daß diese Förderung in rationeller Weise vor sich gehen würde. Das aber ist mehr als fraglich, weil die Arbeiterverhältnisse geradezu trostlose sind, plußer den etwa 80 weißen Vorarbeitern, größtenteils Italienern, die täglich durchschnittlich M 10 verdienen, find etwa 5 00 schwarze Arbeiter er forderlich. Die Zahl roirß jedoch selten erreicht; gewöhnlich herrscht schon jetzt