Nr. 91 . Tienstaa, den 29. April 1909. 23. Jahrgang. LamburgerEcho. ... .-^°^'E>amb»ri,er biS 5 Uhr nachmittagSt, in den Filialen (bis 4 Uhr nachm.I, sowie in allen Annoncen-Bureaux. Platz, u. ralenoorschriften ohne Verbindlichkeit. Reklamen im redaktionellen Teil werden weder grati» noch gegen Entgelt ausgenommen. Buchhandlung und Buchdruekerei-Kontor: Fehlandftr. 11, Erdgeschoß. Pauli einschl. Schanzenstr. bei Heinr. Koenen, Sophienstr. 44. Mmsbüttel, Laugenfelde bei Carl Dreyer, Fruchtallee 42. Hoheluft, («eppendors, tvrotz-vorstel und SSinterhude bei Ernst Kroßkops, Lehmweg 51. Barmbelt, Uhlenhorst iVllillil n bci ^ obot Petereit, Bachstr. 12. Hohenfelde, Borgfelde, Hamm, Horn, Zchiffbeck und Billwärder bei Carl Ortel, Baustr. 26. Hammerbrook bis Ausschläger Billdeich bei Rud. Fuhrmann, Schwabensn. 33. Notenburgsort und U Veddel bei Th. Reimer, Lindlchftr. 85. «ilbeck, WandSbeck, Hinschcvfelde und Ost-Barmbeck bei Franz Krüger, 5kurze Reihe 34. Altona bei Friedr. Ludwig, Bürgerstr. 118. Ottensen, vahreufeld bei Joh. Heine, Bahrenseldcrstr. 129. Hierzu zwei Beilagen. Doppelzüngigkeit. Die Temonstrationsversammlungen im Reiche mit nach - folgenden Deputationen an den Reichskanzler und Eingaben an den Reichstag sind von vornherein mit dem Stempel der Abge» schmacktheit behaftet. Sie gehen durchweg von den Blockliberalen aus, die jetzt außerhalb des Reichstages große Worte machen und sich als Vertreter der „Volksinteressen" gebärden. Der misgellärte Teil des Volkes wird sich mit dem tiefsten Wider - willen von dieser Komödie abwendcn, denn er weiß ja doch, daß es sich nur darum haudest, aus der Haut des Volkes Riemen zu schneiden. Der Reichstag wird dringend ausgefordert, die Finanzreforni unter allen Umständen in dieser Session zu vollenden. Durch da? liberale Phrasengeklingel in den Demonstrationsversammlungen und durch die Bücklinge der Deputationen vor dem Reichskanzler werden die endgültigen Beschlüsse über die Finanzreform auch nicht eine Minute früher zur Entscheidung gebracht werden, als sonst auch. Die Schwierigkeiten für die Finanzreform sind eben daraus erwachsen, daß sich die Vertreter der herrschenden Klassen um die Beute zanken. Die Verteilung der Beute ist immer eine schwierige Sache, nmnentlich wenn so gierige Leute dabei find, wie sie unter unsern herrschenden Klassen sich vorfinden. Der Hauptanteil an der Beute fällt natürlich den ostelbischen Junkern zu, die, wie gewöhnlich, so „gottessürchfig und dreiste" als nur niöglich vorgegangen sind. Sie sichern sich einen baren Gewinn in der Erhöhung der Schnapsbrenner-Liebesgabe; die andem bürgerlichen Parteien, Liberalismus und Zentrum, wollen aus den Entscheidungen politische Macht gewinnen, und das Volk soll mit seinen Steuergroschen die ganze Geschichte bezahlen. Ter ganze Rattenkönig von Intrigen, Kompromissen und Schacher - geschäften, der aus diesem Jntereffenstreit hervorgegangen, bietet einen so widrigen Anblick, daß man sich gar nicht damit be - schäftigen mag. Die Junker find dreist genug, dem Volk in seiner breiten Masse die ganze Last der „Finanzreform" durch indirefte Steuern aufbürdcn zu wollen, außer der Erhöhung der baren Liebesgaben, die sie dabei ergattern. Sie können sich das ihren Wählem gegenüber erlauben, denn seit die agrarische Teurungsära ange- brochen, leistet die bäuerliche Wählerschaft den Junkern durchweg unbedingte Heeresfolge. Die Ausnahmen bestätigen nur die Regel. Die Liberalen, die sich auch in ihren „oppositionellen" Schattierungen so schnell zu den inbireüen Steuern bekehrt haben, fürchten, ihre kleinbürgerlichen Wähler vor den Kopf zu stoßen, wenn sie diesen alle die indirekten Steuern auspacken; daher treten sie auch für „Besteurung des Besitzes" ein und andre Gruppen folgen üjnen aus den gleichen Rücksichten. Das Zentrum, dem seine Wähler blindlings folgen, wartet ab und intrigiert. Ihm wäre es willkommen, wenn die Liberalen „ausgeschaltet" würden, so daß die Regierung die halbe Milliarde aus den Händen des Zentrums nehmen müßte, und man ist bemüht, die Sache noch so zu deichseln, daß die „moralische Schuld" für die Neubelastung des Volkes auf den Liberalismus fällt. Wie weit das alles so kommen wird, steht dahin; daß Junker und Pfaffen den Haupterfolg davon tragen werden, steht für uns außer Zweifel. Ein nationalliberaler Professor hat in einer süddeutschen liberalen Versammlung unwillkürlich die Situation trefflich ge - kennzeichnet. Die Zunge glitt ihm aus, denn er fand es merk - würdig, daß in einer politischen Versammlung ein solcher Eifer für neue Steuern herrsche, ein Eifer, den er natürlich der Sorge um das „Wohl des Vaterlandes" zuschrieb. Ja, dieser Eifer! In der Tat ist das liberale Bürgertum recht eifrig bei der Sache. Aber der Eiser gilt in Wahrheit nicht etwa der schwachen Nachlaß- oder Erbansallsteuer, die man schon so zuftutzen wird, daß sie dem Besitz nicht allzu wehe tut. Dieser schöne „patriotische" Eifer gilt, wenn man auch anders spricht, in erster Linie den vierhundert Millionen indirekter Steuern, die auf den Breiten Rücken des guten Volkes gewälzt werden sollen. Das muß man fest!)alten, wenn man die Abgeschmacktheit der De - monstrationsversammlungen zugunsten der „Finanzreform" be - greifen will. Seit es eine Klassenherrschaft gibt, war bei den Besitzenden immer das Bestreben vorhanden, die öffentlichen Lasten auf die große Masse der Besitzlosen abzuwälzen. Das ist eben ein Stück vom Wesen der Klaffenherrschaft selbst. Im Mittelalter gehörte völlige oder teilweise Abgabenfteiheit zu den Privilegien der herrschenden Klassen; im sogenannten modernen Staat mußte man das indireklc Abgabensystem bis zu seiner heutigen Höhe steigern, damit die vom Liberalismus proklamierte und auf dem Papier der Verfassungen stehende „Gleichberechtigung" der Staats - bürger auf, diesem Wege umgangen werden konnte. So hat das mitkelaltersiche Brutale Vorrecht eine moderne Form in heuchlerischer Verschienung gesunden. Jndesien weiß man auch Bei den oberen Zehntausend recht wohl, daß man mit der Besteurung der Lebeusmittel und der notwendigen Gebrauchsgegenstände nicht beliebig weit gehen kann und daß es auch für dieses System natürliche Grenzen gibt. Allerdings sind auch Leute vorhanden, die diese Grenzen nicht sehen. Sonst hätte man sich nicht zu dem Vorschlag einer Kohlensteuer verstiegen, einer Maßregel, die mehr Erbitterung unter das Volk zu bringen geeignet wäre, als Milliarden der schärfsten Flugschriften. Wir wollen nur hoffen, daß sich keine Reichstagsmehrheit findet, die so unklug ist, einer Kohlensteuer zuzuftiminen. Wären wir, wie man uns so gern nachsagt, einer reinen Boshcitspolitik ergeben, so könnten wir die Kohlen - steuer nur befürworten. Aber wir wollen den Widerstand des Volkes gegen die Klassenherrschaft nicht um den Preis eines Uebermaßes von Elend gesteigert wissen; diese Steigerung kommt auch unter den heutigen Verhältnissen ganz von selbst. Ein Uebermaß von Elend kann aber auch abstumpfend wirken. So sehen wir heute das liberale Bürgertum sich gebärden, als seien die 400 Millionen indirekter Steuern die Nebensache Bei der Finanzreform, die Nachlaß- ober Erbschaftssteuer aber die Hauptsache. Wir treten für die Besteurung des Besitzes ein, um den arbeitenden Klassen wenigstens diesen Teil der Neu- Belaftungen abzunehmen. Nur möge man Bei den oberen Zehn - tausend nicht immer mit der abgedroschenen Phrase von ihrer „Opferwilligkeit" kommen. Der ganze Gang der Verhandlungen über die „Finanzreform" beweist, daß nicht Lpferwilligkeit, sondern das Gegenteil Trumps und daß nicht Patriotismus, sondern Beuiepolitik an der Tagesordnung ist. Und welches Opfer be - deuten denn hundert Niilliouen, die noch zum größeren Teil dem kleineren und mittleren Besitz auferlegt werden sollen, wenn man bedenkt, daß allein in Preußen 50 000 000 Ntark Wett an be - weglichem und unbeweglichem Besitz der Besteurung entzogen werden. Wo das Volk sich über diese doppelzimzige SteucrpDl’t’f des liberalen Bürgertums täuschen läßt, wird es deren Wirkungen hinterher doppelt schmerzlich empfinden. Seligsprechung der Jungfrau von Orleans. Unser Schiller bat gewiß nicht geahnt, daß seine poetische Ver - klärung des „Mädchens von Orleans^ zirka ein Jahrhundert später vom P abstt u m travestiert werden würde, daS — am 18. d. M. mit üblichem Gepränge — Jeanne d'Arc „selig gesprochen" und in den schon so reich bevölkerten katholischen Olymp versetzt hat Denn bis zu Schillers Epoche wurde ihr auch in weiten Kreisen Frankreichs keine besondere Verehrung gewidmet, namentlich nicht unter den Ge - bildeten. Nur im Volk lebte sie in verdunkelter Erinnerung fort in ihrer engeren Heimat, und in Orleans wurde der Jahrtag des Ent - satzes der Stadt als lokales Fest begangen, als eine Art Kirmes mit Jahrmarktslärm und schwachem kirchlichen Einschlag (Hochamt und Umgang) — wie Max Nordau in einer Abhandlung vor mehreren Jahren konstatierte. Die bekannte Frau v. Stasi beklagte denn auch in ihrem Buch über Deutschland, daß Jeanne d'Arc noch von feinem fron« zösischeu Schriftsteller verherrlicht worden sei, auch nicht, nachdem Voltaire in feiner ,Pucell e", von der NufklärungStendenz verleitet, ihr Andenken veruitgliiiipst hatte, mehr noch als Shake - speare in seiner begreiflichen engländischen Parteilichkeit (in Heinrich VI.). Ein Ausländer ist er, schreibt sie über Schillers „Jungsrau", der versucht hat, den Ruhm einer französischen Heldin zu verkünden, deren unglückliches Schicksal für sie einuehnieu und deren Großtaten berechtigte Begeisterung für sie wachrufen müßten. Einen Umschwung brachte die große Revolution. In dem Bestteben, Aehnlichkeitcn zwischen den Verhältnissen der Republik und den großen Ereignissen der Vergangenheit zu konstruieren, sah man mit einem Male in Jeanne d'Arc eine Befreierin des Staats nach jakobi - nisch-sanSculottischem Zuschnitt. „Sie erschien al» Vorläuferin von Lazare Earnot, dem „Organisator der Sieges", von Dumouriez, dem Sieger von Valmy und Jemappe. Ihr Marsch nach Orleans erinnerte an den Zug der Rheinarmee" usw. Michelet. mehr Dichter als Historiker, verklärte sie bann im 1#. Jahrhundert als schwärmerische Patriotin und dabei als Demo - kratin. welche die ungeschulte BolkSkraft dem krieggeüdten Adel ent - gegensetzte und mit ihrem schlichten Verstand gut machte, was die Feudalen verdorben hatten. So wuchs sie zur heroischen Gestalt empor, und nun bemächtigte sich ihrer der K l e r i k a I i S m u S nach 1870 für feine Propaganda. Der Jeanne d'Arc- Kultus bildet einen Teil des ultramontanen Systems der Klerikalisierung Frankreichs. Er hatte feinen Platz neben dem „Herz Jesu"-Dienste (Sacre Coeur), der Errichtung der „Sühnekirche" auf dem Montmartre und andern. Die Patriotin, tm guten Sinne, trat in den Schatten vor der Heilig e it , die für den alleinseligmachenden Glauben und dabei für den legitimen König lebte, stritt, litt und starb. Man gewöhnte sich daran, die Erinnerung an sie mit Vorstellungen von Kreuzen und Kirchenbauern, von Beichten, Mesien und Altardiensu von Wuttdern und himmlischen Eingebungen zu verknüpfen. In den Salons wurde ihre Historie massenhaft dargestellt, in eine mystisch-kirchliche Atmosphäre getaucht. Aus den Plätzen der großen Städte wurden ihr Denkmäler errichtet. Sie ward der Mittelpunkt klerikaler Straßenkundgebuttgen, die Patronin der berüchtigten Patriotenliga DöroulsdeS, und im Vatikan wurde auf ihre Heiligsprechung bingearbeitet. Man erinnert sich der klerikalen Hetze gegen den Gymnasiallehrer ThalamaS in Lyon, der in der Geschichtsstunde den ultramontanen Schwindel eine nüchtern kritische Auffassung entgegenstellte, waS beffen erzwungene Versetzung nach Parts zur Folge hatte. Zur rechten Zeit kam Häher baS auf umfassenden Quellenstudien beruhende und mit den bekannten Vorzügen des feinsinnigen Literaten abgefaßte zweibändige Werk „Leben der Johanna von Arc" (Vie de Jeanne d’Arc) von Anatole France Er weist nach, daß die vorhaudeuen Urkunden und Berichte teils gefälscht, teils parteiisch gefärbt, teils Erzählungen auS zweiter und dritter Hand seien, und eS gelang ihm, heltdlickeud durch bett Nebel bet Legenbe historische Wirk - lichkeit zu entbecken. Unsre Freude an bet Schillerscben Tragöbie kann bitrch biefe Enthüllungen nicht beeinträchtigt werben. Wir wissen ja längst, baß wir eS ba mit einer prächtigen poetischen Schöpfung zu tun haben, zu welcher bie Phantasie beS Dichters reichen Stoff lieferte. (Siehe baS treffliche Schillerbuch von Franz Mehring.) Freilich erfahren wir aus bem Buch von Anatole France wesentlich NeueS. So namentlich, baß ber Entsatz von Orleans nichts weniger war alt eine Heldentat und der Zug nach RheimS sogar ein schwerer Fehler. Orleans war gar nicht eingeschloffen, man ging während der ganzen Belagerung in der Stadt frei auS und ein, versah sich mit Lebensmitteln, wie man wallte, konnte Herden lebenden Schlachtviehs, Wagenzüge, Söldnerhaufen einführen und zählte immer mehr Ver - teidiger als Angreifer. Die Belagerten hätten leicht mit den Engländern fertig werden können, wenn sie einige Energie gehabt hätten. Die Ankunft des 'Mädchens, dem der Rus einer Zanberuiächtigen voraufging, gab den Bürgern von Orleans Entschlußfähigkeit. Tas war das Wunder, das sie dort wirkte. Und wenn sie nicht die ihr wohl vom Erzbischof von RheimS eingegebene ftre Idee gehabt hätte, den Dauphin in RheimS zum Stiiuij zu krönen, wäre sie nach bet Auf- Ke düng der Belagerung von Orleans besser den Engländern in bie Normandie gefolgt und hätte den Sieg der Sache des Dauphins vollettdel. Ein Wunder war eS auch nicht, daß sie den König bei der ersten Begegnung als solchen erkannte. War es ohnehin nicht schwer, ihn ans den Höflingen herausznfinden, so sind ihr vermutlich auch Winke gegeben worden Die Zeugen der Szene waren keineswegs von dieser Erkennung verblüfft. Nach Anatole France haben wir in Johanna ein armes krankes Dors Mädchen zu erblicken, eine Hysterische, die zur Zeit ihrer Pubertätsentwicklung Gesichts- und Gehörs h a l l u z i Na - tionen hatte, welche gemäß dem Aberglauben des Zeitalters Kirchliche Formen annahmen. Sie glaubte aufrichtig an ihre himmlische Sendung zur Rettung Frankreichs, ließ sich aber dabei unbewußt von sehr welt - lichen, besondels geistlichen Suggestionen leiten. Nach dem Buch von Anatole France und besonder« aber nachdem sich die Republik von den Umstrickungen der klerikalen Boa befreit hat, kommt die Seligsprechung der Johanna zu spät. Sie wird die ur - sprünglich gehegte reaktionäre Absicht nicht erreichen und weiter keine Wirkung haben, a!8 daß im katholischen Himmel eine Heilige mehr plaziert ist. Politische Uebersicht. Ergebnis der Stichwahl im IS. hannoverschen ReichstagS- wablkreiS. Bei der Stichwahl am Sonnabend erhielten nach der bis - herigen Feststellung Hofbesitzer Hoppe (NL.s 11150 und Rhein (SD.) 6324 Stimmen. Fünf Wahlkreise stehen noch au». Bei ber Hauptwahl am 6. April erhielt Genosse Rhein 5850 Stimmen. Der Zuwachs ist offenbar aus eigenen Reserven unsrer Partei gekommen. Alle bürgerlichen Parteien sinb für den Nationalliberalen eingetreten. Der Kamps um die Reichsfinanzreform. Heute tritt nach Beendigung seiner Osterferien der R e i di c- - tag wieder zusammen. Die Zeit der Vertagung hat eine nicht unerhebliche Verschärfung und Zuspitzung des Kampfes um die Reichsfinanzreform gebracht. Die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung" glaubt, den Wiederzusammentritt de- Reichstags mit folgenden Worten begrüßen zu dürfen: „Aus seinem wichtigsten Arbeitsgebiet, der Reform findet er (der Reichstag) ein verändertes Bild vor. Erfüllt von ber Sorge, daß ber schleppende Fortgang der KommisiionS' Verhandlungen bie alsbaldige Wiederherstellung des deutjdien Finanzwesens verhindern könne, hat die öffentliche Meinung sich erhoben und in den Wochen seit der Vertagung des Reichstags allerorts mit größter Entschiedenheit den festen Willen zum Ausdruck gebracht, daß die Finanzresorm »och diesen Sommer unter Hintansetzung aller Parteigegensätze und Inter» effenwiderstände zum Abschluß gebracht werden muffe. Tie starke und spontane, aus bem Volke unb aus den Wählern hervorgehende Bewegung ist ein großer, ungewöhnlicher Vorgang; er beweist, daß das deutsche Volk über die ihm noch im vorigen Jahre mit Recht Oorgctoorfene Steuerscheu hinweggekommen und die Einsicht in die staatlichen Notwendigkeiten in beständigem Fortschritt begriffen ist. Die Vertreter des Volkes aber haben sich davon überzeugen müssen, daß vor den Wahlern nicht der» jenige am besten bestehen wird, der die meisten Steuern abgelehnt, sondern der, der das meiste zum Zu - standekommen der Finanzreform beigetragen hat. Heute dürfen wir hoffen, daß von dieser Ueberzeugung die Arbeiten der Finanzkommission und deS Reichstags in den bevor - stehenden entscheidungsreichen Monaten getragen werden Ins - besondere hat die Erbanfallsteuer in immer wachsendem Maße bei allen Volksschichten Freunde gewonnen. Sichtlich bat auch bie Opposition gegen biete Form ber Besitzbesteurung an Wiberstanbskraft erheblich eingebüfet. . . ." Wenn bas offiziöse Blatt glauben machen will, daß die Volks st immung zugunsten neuer Steuern „um- geschlagen" ist, so macht sie sich eines Täuschungs- Versuches schuldig. Jedenfalls steht die erdrückende Mehrheit der Nation nach tote vor in schärfster Opposition zu der Vermehrung ber indirekten Steuern; die An - hänger einer Finanzreform auf ber Grundlage dieser Steuern haben sich wahrlick) nicht vermehrt. Die Arbeiterklasse hat von vornherein zu einem System direkter Besteurung, grundsätzlicki auch zur N a ch I a ß st e u e r sich besannt. S i c war in diesem Punkte nicht in ber Hage, sich unter bem Drucke der Verhältnisse „mausern" zu müssen. Die „Bekehrung" entfällt lediglich auf bürgerliche Kreise. Das offiziöse Blatt erhofft übrigen» das finanzpolitische Heil von einer „parlamentarischen fiontingen- t i e r u n g". DaS heißt aber nichts andres, als beschleunig - tes Verfahren, Beschränkung der Debatten. Vergewaltigung der Opposition. Unb es wird dabei ganz zweifelsohne auch auf die Unter st ützung der Frei - sinnigen gerechnet. Die Sozialdemokraten werben natürlich gegen solch eine Praxis in entschiedenster Weise oppo - nieren. jedem Versuch, die Steuervorlagen durchzu» peitschen, den möglichst uär’.jten Widerstand entgegensetzen. Fürst Bülow gedenkt, dem Wiederzusammentritt bett Reichstags in Rücksicht auf die Finanzreform eine besondere Weihe zu geben. Er will die Abordnungen au» dem Reiche, die persönlich eine diese Reform betreffende Kund- gebung veranstalten wollen, heute empfangen. Es handelt sich vornehmlich um Abordnungen aus Bayern, ivachsen, Wiirttem- berg, Baden, Hessen und den thüringischen Staaten. Fürst Bülow wird bei dieser Gelegenheit gewiß schon unterrichtet sein über die neuen großen Protestkundgebungen, welche die Sozialdemokratie in verflossener Woche im ganzen Reiche ver - anstaltet hat. Mer diese Kundgebungen wird et natürlich ignorieren. Bei ber zweiten Lesung ber Branntwein- fteuerborlage soll ber Finanzkommission be» Reichstags nach ber „Milit.-Pol. florrefp." ein neuer Vor- schlag unterbreitet werben. Dieser sieht eine Art Ver - staatlichung ber Spirituszentrale vor, etwa nach bem Vorbilbe der Reichsbank. Der Urheber des neuen Gesetz- gebungSplanes soll Abgeordneter Dr. Paasche sein. Von weiteren Mitteilungen sind noch folgende zu beiiick- fi ästigen: Die konservative Gesamtpartei Anhalts stimmt ber Reichsfinanzreform nach dem Regierungs - vorschlage zu. Da» erklärte am Donnerstag in einet nationalliberalen Versammlung in Cöthen der Vorsitzende des Konservativen Vereins, Profeffor Lüdeke. Wohl hätten die Konservativen Bedenken bezüglich der Erbansallsteuer, könnten sich aber ber Notwendigkeit nicht verschließen, daß auch ber Besitz getroffen werben müsse. Nach einem Vortrage des LandtagSabgeordneten S t r o f f c r über die Reichsfinanzreform hat eine Versammlung deS deutschkonservativen Vereins in Breslau nach der „Schles. Ztg." einstimmig folgende Entschließung an - genommen, die bem Reichstag unb der konservativen Reichstags- fraltion übermittelt werden soll: „Die am 15. April vom deutschkonservativen Verein Breslaus einberufene allgemeine Wählerversamnilung richtet an den (Nachdruck verboten., Der Kuppelhof. Roman von Alfred Bock. 12. Glock vier, nach ein paar Stunden stärkenden «chlafeS, war der Dotzheimer wieder auf den Beinen. Im Stall fand er den Hannpeter bereits am Werk, eine Last Klee auf die Raufen zu verteilen, unb er lobte tm stillen den Fleiß seines neuen Helfers. „Gu Morse, Nachbar!" bot er ihm freundlich die Zeit. Ter Hannpeter drehte sich um. „Gu Morse 1" „Das war ein hübsch Wetterchen die Äadjt."_ „Das will ich meinen. Hast Du's schon gehört?" „Was dann?" „Beim DapperSluis hat ber Sturm die neu Scheuer zu- sammengesckimissen." Der Bauer tat einen Schritt zurück. „Donner aber auch!" „Wahrscheins hat sich der Wind da gefangen." „Das is möglich," jagte der Dotzhcimer. „Du kannst mir's glauben, ich in meiner Stub' hab' auch ein paarmal gedenkt, das Gebälk tät auf mich brechen." Der Hannpeter kam näher. „Babberlababbi Dein Haus hält fein Mann aus. Aber mein Gelerr. Da muß man sich wundern, daß njr passiert is." --Wie uns' Herrgott will," sprach der Bauer. ,^ch gehn etz risch emal aufs Feld unb guck, wie'S aussieht. Ich tein schwind wieder da." „Wo das Wafferspiel so recht braus geplatscht is, sein die Halm zerknickt," gab ber Hannpeter seiner Ueberzeugung Ausdruck. Mit einem „Gu Morse beisammen 1" trat Die Tine in den Stall unb machte sich an» Melkgeschäft. Der Hannpeter begleitete den Dotzheimer auf den Hof hj«. aus unb erstattete ihm über bie Unterhandlung Bericht, die er seinem Auftrag gemäß mit dem Zacharias Allendorfer gepflogen hatte. Danach erklärte sich dieser bereit, sein Gut dem Matz abzutreten, wofern auch ber Berz seinen Besitz ber Mariann überlasse. Art unb Weise der beiderseitigen Übergabe sollten beute nachmittag Gegenstand besonderer Beratung bilden, und zwar int Beisein des Bürgermeisters, der gestern abend bereits von allem verständigt worden war und sein Erscheinen zugesagi ^^Die Promptheit, mit der der FreierSrnann verfuhr, war dem Dotzheimer durchaus erwünscht. ES erübrigte nur noch, die Gäue zur „Brait" einzuladen. Der .Allerweltsvetter" versprach, auch das zu besorgen. Während der .Hannpeter in den Stall zurückkehrte, schritt der Bauer die Lohmühlsgaffe entlang, schwenkte in den Engpfad ein unb gelangte gleich darauf ins Freie. In der ganzen Ge- markung hatten bie Wassermassen den Feldfrüchten beträchtlichen Schaden getan. Jakobi sollte bie Ernte beginnen. Das waren trübe Aussichten. Des Dotzheimers Stirn legte sich in Falten. Reichliche Nieberschläge waren in dieser Gegend nicht selten, aber so schlimm wie gestern nacht hatte das Wasser seit Jahren nicht gehaust. Freilich, Wiesen und Weidegelände hatten keine Not darunter gelitten. Was predigte er denn immer? Steift Euch nicht auf den Körnerbau. Auf dem Basalt die dünne Ackerkrume brachte nur geringen Ertrag. Sage und Form der Grundstücke waren vielfach unwirtschaftlich. Hierorts bestand noch ber alte Flurzwang. Danach mußte die Bestellung der Becker zu gleicher Zeit unb mit den gleichen Früchten erfolgen. Bürgermeister unb Feld- geschworene pflöckten bie Wege ab, die den Fuhrwerken zugänglich waren. So oft er im Gemeinderat seine Stimme für die Feld- berainigung erhob, stieß er auf eine geschloffene Gegnerschaft. Seinen Pfennig bewilligte man. Und weil die Voreltern Ge - treidebauern gewesen waren, mußten es bie Nachfahren auch fein. Alles wie» hier oben auf Grasbau unb Viehzucht hin. Wohl geziemte sich's, auf Vätersitte und -brauch zu halten, aber mit bem Vorbehalt, daß man dabei vorwärtskam unb ber Zeit ihr Recht nicht verkürzte. Wozu hatte einem ber Herrgott den Verstand gegeben, wenn man ihn nicht gebrauchte? — Er ging den Haibacherweg hinaus bis zum Donnerswäldchen, wo seine unb des Allendörfers Grundstücke lagen, zusammen wohl an zweihundert Morgen. Ein stattlicher Besitz! Nocki ein paar Monate weiter, und ber Matz war darüber Herr. Ein bitteres Gefühl stieg in ihm auf. Gern gab er die Zügel nicht aus der Hand. Da hatte man sich fein Leben lang abgeschunden, unb so ein fremder Mensch kriegte den Schmand davon, ©tät, (tät! Sein Kind hatte doch auch teil baran. Unb am Enb war's gut, daß er rastete. Er batte das Leiden und mußte sich Schonung auferlegen. Für die vereinigten Güter war's von unschätzbarem Vorteil, daß der Karges kalt gestellt wurde. Der Hannpeter hatte verlauten lassen, daß der Allendörfer und sein Sohn nicht zum beiten miteinander stünden. So konnte man den Dochtermann desto leichter zu sich herüberziehen. Ein junger Ast lieh sich noch biegen. Gestaltete sich da» Verhältnis so, wie er wünschte, bann saß er auf seinem Altenteil und hielt den May am Kordel. Der muhte noch mancherlei lernen und durfte von Glück sagen, daß ihm sein Schwiegervater mit Rat und Tat zur Seite stand. — Der Dotzheimer ließ die Ereigniffe deS geftrmen Tage» noch einmal an sich vorüberziehen. Er wunderte sich bloy, daz er bas alles so gut überstanden hatte. Tas war ber beite Beweis, daß er trotz seiner Kränklichkeit noch einen „Stümper" vertragen konnte. Ueberhaupt dachte er heute viel ruhiger über bie ge - schehenen Dinge. Gewiß, im Dorf waren alle Mäuler in Be - wegung. Auf Wochen, ja auf Monate hinaus hatten bie „Drätscher" Stoff. Gott fei Dank, man war keinem etwas schuldig. Jetzt hieß eS, den Kopf erst recht hoch getragen. Schließlich würde der Klatsch audi einmal verstummen. DaS Wichtigste war, daß die Mariann sich duckte. Er hate ihr auch gehörig den Kern gestochen. Da fiel ihm ein: noch waren die Vorbereitungen zur Bewirtung der Gäste zu treffen. Man mußte sich tummeln. Die paar Stunden gingen schnell herum. Dem Hannpeter seine Frau sollte in der Küche Helsen. DaS Getränk lieferte der „Pflug". Sapperment! Ta schlug'« schon fünf. Alsbald trat er den Heimweg an. Am Rödekerhang, unfern der Straße, die in bedeutender Steigung zum Oberwalb führt, liegt der Totenacker, ein Viereck, von niedriger Mauer umhegt. In aller Frühe ist die Mariann heraufgekommen. So schnell ist sie gegangen, daß sie schier den Atem verloren hat. Verschnaufend steht sie am Tor. Drunten im Tal wogen die weihen Nebel Am Firmament ist der Mond noch sicksibar, ber bleiche Gesell. Ostwärts, wo ber Wall ber Berge im Dämmergrau liegt, treten bie Konturen all- mählich schärfer hervor. Die Wölkchen, bie ben Aether durch - schwimmen, färben sich rosenrot. Mit einem Stale blitzt es über die Kuppen, und der Sonnenball schwebt empor. Vor seiner Sichtflut fliehen die letzten ©djatten ber Nacht, das Gespinst in der Niederung zerrinnt, und in buntem Jarbenspiel tut sich das Gelände auf. Die Stariann hat fein Auge für all die Pracht. Sie sieht übernächtig aus, und ihr Gesickn zeigt die Spuren vergossener Tränen. Nun öffnet sie das Friedhofstor unb roenbet sich zur Linken, wo hart an der Mauer bas Grab ihrer Mutter liegt. Auf granitnem Sockel erhebt sich ein schlankes Marmorkreuz, dessen Vorderseite die Inschrift trägt: Hier ruht in Gott Katharina Luise Dotzheimer, geboren am 4. Juni 1854, geworben am 17. April 1889. Auf der Rückseite sieben die Worte dec- Psalmisren: Wo dein tiefes nicht mein Trost gewesen wäre. So wäre ich vergangen in meinem Elende. So oft bie Mariann baß Grab besucht, bringt sie - je naaj ber Jahreszeit — einen Blumenstock ober einen Blechkranz mit, heute in ihrer Seelenpein ist sie mit leeren Händen erschienen, nur von bem Gedanken geleitet, dah ihr leichter werde, wenn sie an der geweihten Stätte ihr Herz ausschütte. Sie kniet nieder I und faltet die Hände wie zum Gebet: „Mutter, ich kann Dir | gar net sagen, wie ich mich braft.*) Ich hab meinem Vater aus reinem Herz gestanden, wies mit mir und bem Frieb gewest is. Ich hab mich hoch unb heilig verschworen, und he traut mir doch net. He glaubt, scheint », ich tät mit dem Fried unter einem Hütchen spielen, und schiebt nu den Matz als Riegel vor. Nip Genaue» weih ich net, aber 'S i» mir so, als steckt der Hannpeter badehinter, ber ©chuhspitzenguckerI Dah waS im Werk iS, hab ich gest gleich gemerkt. AlSfort is der Matz um mich crum ge bandelt. He iS mir zuwibber. Unb heut is die Brait. Was soll dadrauS werden! Guck, daS iS schrecklich, daß ich mich bei keinem net aussprechen sann, außer bei dem Fried. Meine Kameradin - nen sein ganz anderster wie ich. Gest sagt bie Atzbächersmarie, sie tät deckenhoch springen, wann sie ein Bursch fräg wie ben Matz. Und mich schaupert'S, wann ick denk, daß he mir nah kommt. Mein Vater spricht, bas wär neumodisch, daß ick ben Fried gern hab. O nee. Das tiernhaben iS so alt wie die Welt. Ich hab schon in ber Konfirmandenstunb gelernt, daß man feinem Mann von ganzem Herz anbangen soll. Kann ich bann da» bei dem Matz? Ja, mit bem Fried, da» wär was ander». Etz zwingt mir mein Vater ben Bräuen**) auf. Bor Dir brauch ich nix zu verhalten. Tie Nacht fein ich braus unb dran gewest, zum Fried zu gehn. Dem is alleweil gewiß net gut und hätt mich mit Freuden ausgenommen. He wär auch mit mir fortgemacht, wann's sein müßt, nach Amerika. Ich hab mir'» vielmal überlegt. Ich sein meinem Vater sein einzig Kind. He hängt an seinem Vieh, an den Aeckern und Wiesen. Und ich hab auch mein ©pah babran. Das liegt im Blut. Uns' ©ach im Stich lassen, kann ich net. Mein Vater is ein frommer Mann, ober eigenköppig, alfemal audi krappig. Sollt's von seiner Krankheit kommen? Ich schätz, he is früher schon so gewest. Du muht'» ja missen, Mutter, 's gedenkt mir, wie ich noch ein klein Biindelchen war, hat he Dick einmal schrecklich ansgescholten. Und hast keine Widerwort geben, hast nur geflennt. Guck, wie mir so winneweh war die Nacht, iS mir das eingefallen. Und hat auch gerischvelt in meiner Kammer. Gell, Mutter, Du hast mir gefloppt? Sei ganz ruhig, ich kenn mein Weg. Du bist mit meinem Vater fertig worden, und ick muß sehn, wie ich mit dem Matz fertig werd. Ich hab ja Sorg, 's wird nir nutz mit bete Brait. Und wann ich in Hahnen- krallen fall, ich tun meine Arbeit und sein still." Also machte sie ihrem bedrückten Herzen Lust. Al» sie den .Friedhof verlieh, lagerte ein tiefer Ernst auf ihrem Gesicht, ihr Blick aber bekundete Entschlossenheit, sich in daS Unvermeidliche zu fügen.