Nr.  128.  Sonnabend,  den  5.  Juni  1900.  23. 
Hamburger  Echo 
Jahrgang. 
,  Da-  „Hamburaer  <?d)o*  erscheint  tSalich,  außer  Montags. 
SllwiineinentSprcis  llnfi.  „Die  Neue  Welt--  und  „Tie  arbeitende  Jugend--)  durch  bie  Post 
bezogen  ohne  Brmgegelb  monatlich  A  1.20,  vierteljährlich  A  8,60;  burch  die  Nolporleure  wöchenllich  30  4 
fiel  ins  vauS.  Ein,.  Nr.  6  A,  SonntagS-Nummer  mit  illuflr.  Beilage  »Die  Neue  Welt--  10  *. 
Nreuzbanbsenbungen  monatlich  A  2,70,  für  dar  Ausland  monatlich  a  3,60. 
Redaktion: 
Fehlandstratz«  11,  1.  Stock. 
-  .  nn  Expedition: 
Hamburg  »o  Fehlandstratz-  11.  Erdgeschoß. 
Beranlwortlicher  Redakteur:  Karl  VeterSson  in  Hamburg. 
Anzeigen  die  sechsgespaltene  Petitzeile  oder  deren  Raum  86  A.  ArdeitSmartt,  PermietungS-  und 
Familienanzeigen  20  A.  Anzeigen-Aiinahme  Fehlandstr.  11.  Erdgeschoß  ,dis  5  Uhr  nachmittags», 
in  den  Filialen  chiS  4  Uhr  nachm.).  sowie  in  allen  Annoncen-Bureaux.  Plah.  u.  Tatenvorschiisten  ebne 
Verbindlichkeit.  Reklamen  im  redaktionellen  Teil  werden  weder  gratis  noch  gegen  Entgelt  ausgenommen. 
Buchhandlung  und  Buchdruckerei-Kontor:  Fehlandsir.  11,  Erdgeschoß. 
aT  am  A  Pauli  einschl.  Schanzenstr.  bei  Heim.  Koenen,  Sophienstr.  44.  VimSbüttel,  Langenfelde  bei  Carl  Dreyer,  Fruchtallee  42.  Hoheluft,  (Eppendorf,  Grog-Vorstel  und  Winterhude  bei  Ernst  Großkopf,  Lehmweg  51.  Barmbeck,  Uhlenhorst 
nlllnlPlI  bei  Feodor  Petereit,  Bachstr.  12.  Hohenfelde,  Borgfelde,  Hamm,  Horn,  Schiffbkck  und  Billwärder  bei  Carl  Ortel,  Baustr.  26.  Hammerbrook  bis  Ausschläger  Billdeich  bei  Rud.  Fuhrmann,  Schwabenstr.  33.  Roteuburgsort  und 
V  Beddel  bei  Th.  Reimer,  Lindleystr.  85.  (»tlbeck,  Wandsbeck,  Hinschenfelde  und  Ost-Barmbeck  bei  Franz  Krüger,  Kurze  Reihe  34.  Altona  bei  Friedr.  Ludwig,  Bürgerstr.  118.  Ottensen,  Bahrenfeld  bei  Joh.  Heine,  Bahrenielderstr.  129. 
Hierzu  eine  Beilage. 
Die  neue  Nebenregierung. 
Die  Finanzkommission  des  Reichstages,  in  der  zuletzt  Junker 
und  Pfaff  mit  ihren  Anhängseln  aus  dem  Vollen  arbesteten,  hat, 
wie  aus  einem  unerschöpflichen  Füllhorn,  einen  förmlichen  Platz -
regen  von  neuen  Steuern  über  das  geduldige  Deutschland  nieder -
gehen  lassen.  Wenn  es  so  fort  geht,  kommen  wir  wieder  auf  das 
Steuerwesen  der  alten  preußischen  Könige  zurück,  welche  die 
Hüte,  die  Perücken,  die  Strümpfe,  die  Stiefel,  die  Pantoffeln 
und  hundert  andre  Gebmuchsgegenstände  ihrer  Untertanen  mit 
besonderen  Abgaben  belegten  und  so  die  Kosten  für  „lange  Kerle" 
uni  andre  Liebhabereien  zusammenbrachten.  Als  endlich  diese 
Weisheit  des  „erleuchteten"  Despotismus  verschwand  und  im 
modernen  Staat  das  Steuerbewilligungsrecht  an  Stelle  der  alten 
Willkür  eingeführt  wurde,  glaubte  mau,  einen  ungeheuren  Fort -
schritt  erreicht  zu  haben.  A  n  s  i  ch  war  das  gewiß  richtig.  Aber 
das  Volk  ist  doch  nur  vom  Regen  in  die  Traufe  gekommen,  da 
der  moderne  Staat  nicht  weniger  als  der  feudale  ein  Klassenstaat 
ist,  dessen  Gesetzgebung  von  den  oberen  Zehntausend  zu  ihrem 
Vorteil  gemodelt  wird.  Der  moderne  Bourgeois  läßt  das  Volk 
eben  so  gern  für  sich  zahlen,  wie  dies  der  römische  Patrizier  und 
der  feudale  Junker  taten. 
Die  Vorgänge  in  der  Finanzkommission  erinnern  sehr  lebhaft 
an  einen  andern,  der  sich  vor  etwa  neun  Jahven  in  der  Budget -
kommission  des  Reichstages  abspielte.  Bis  dahin  hatte  die 
Zentrumspartei  aufs  lebhafteste  die  „uferlose"  Flottenpolitik  be -
kämpft  und  mehr  als  einmal  erklärt,  die  Mittel  Deutschlands 
reichten  nicht  aus,  um  zugleich  ein  großes  Landheer  unv  eine 
Schlachtflotte  ersten  Ranges  zu  unterhalten.  Als  sich  die  Vor -
zeichen  eines  Umfalles  im  Zentrum  bemerkbar  machten,  erhob  der 
„demokratische"  Flügel  der  Partei  —  die  Roeren  und  Ge -
nossen  —  einen  grimmigen  Protest.  Aber  es  kam  das  neue 
Flottengesetz  von  1900,  das  dem  deutschen  Volke  für  den  Ausbau 
einer  neuen  großen  Flotte  eine  Neubelastung  von  5000  Millio -
nen  auferlegte.  Da  kam  dann  auch  der  „Umfall"  des  von  dem 
„Staatsmann"  Lieber  geführten  Zentrums;  die  neue  Flotte 
wurde  bewilligt.  Alsdann  ging  man  in  der  Budgetkommission 
an  die  Deckung  der  Kosten.  Es  ist  interessant,  aus  dem  Bericht, 
den  die  sozialdemokratische  Fraktion  damals  dem  Parteitage  er -
stattete,  die  bezüglichen  Stellen  hierher  zu  setzen.  Es  heißt  dort: 
„Vom  Februar  bis  zum  Juni  1900  wurde  in  der  Budget -
kommission  eine  Ftottenkomödie  aufgeführl  und  das  Zentrum 
machte  sich  dabei  das  Gesetz  so  zurecht,  wie  es  dasselbe  brauchte, 
um  seinen  Wählern  Sand  in  die  Augen  zu  streuen.  Die 
übrigen  Parteien  von  der  Flottenmajorität  sowie  die  Regierung 
hatten  sich  der  Gnade  des  Zentrums  überantwortet  und  sprangen 
gehorsam  über  den  Stock,  den  das  Zentrum  ihnen  vorhielt.  Zum 
Schein  wurden  eine  Menge  Fragen  vom  Zentrum  gestellt  —  eine 
Unmasse  Papier  mußte  beschrieben  und  bedruckt  werden  —  ehe 
das  Zentrum  definitive  Beschlüsse  in  der  Kommission  zulieh. 
Auch  den  Agrariern  des  Zentrums  wurde  ein  Brocken  hin- 
gcworfen.  Die  Regierung  mußte  die  Erklärung  abgeben,  daß 
sie  beim  Abschluß  neuer  Handelsverträge  die  Interessen  der 
Landwirtschaft  hinsichtlich  des  Zollschutze  ö  der  landwirt -
schaftlichen  Erzeugniffe  nachdrücklichst  wahrzunehmen  entschlosien 
sei.  Eine  besonders  heitere  Episode  bildete  die  Erledigung  der 
Kostendeckungsfrage  in  der  Kommission.  Auch  hierbei 
übernahm  das  Zentrum  die  Führung,  unter -
stützt  von  den  Nationalliberalen  und  den  Kon -
servativen.  Die  Regierung  ließ  sich  die  gebratenen 
Steuertaub  en  in  den  Mund  fliegen  und  hatte  sich  nur 
des  Steuerreichtums  zu  wehren,  welchen  die  Flotten -
mehrheit  in  verschwenderischer  Fülle  aus  Verkehrs-  und  Ver -
zehrsabgaben  über  das  Reichsschatzamt  ausschüttete.  Während 
zuerst  noch  beim  Zentrum  von  einer  ReichS-Erb- 
schafts-  oder  Vermögenssteuer  zur  Deckung  der 
Flottenkosten  die  Rede  war,  wurde  —  nachdem  die  Regierung 
diese  Art  der  Kostenaufbringung  abgelehnt  hatte  —  der  Steuer -
eifer  des  Zentrums  auf  dem  Gebiet  direkter  Besteuerung  sehr 
schweigsam  und  es  verzichtete  damit  auf  das  einzige  Mittel,  die 
Flotteninteressenten  wirksam  zu  den  Kosten  der  ihnen  Millionen 
einbringenden  Vorlage  heranzuziehen." 
Die  Aehnlichkeit  der  Situation  von  damals  mit  der  von 
heute  springt  in  die  Augen.  Damals  sagte  der  Schatzsekretär 
Herr  v.  Thielemann  lächelnd,  er  wisse  gar  nicht,  was  er 
mit  dem  vielen  Gelde  anfangen  solle,  und  auch  heute  bietet  di« 
Kommission,  nachdem  das  Zentrum  mit  den  Konservativen  die 
Führung  übernommen,  der  Regierung  mehr  als  sie  gefordert  hat. 
So  verstanden  es  schon  damals  die  Zentrumsdemagogen,  die 
so  viel  von  „Volksrechten"  und  „Sparsamkeit"  sprechen,  sich  der 
Regierung  unentbehrlich  zu  machen,  um  dann  mit  den 
Junkern  zusammen  jene  Nebenregierung  zu  bilden,  welche  durch 
ihre  Anmaßungen  schließlich  der  offiziellen  Regierung  unerträglich 
geworden  ist.  Junker  und  Pfaffen  gerieten  bei  der  Verteilung 
der  „Beute"  in  Streit  und  es  erfolgte  der  Bruch  und  die  Auf -
lösung  des  Reichstages.  Während  die  feindlichen  Brüder 
schmollten,  kam  die  Block-Episode,  die  nur  dazu  diente,  den 
Liberalssnms  lächerlich  zu  machen  und  ihn  seines  letzten  Kredits 
beim  Volke  zu  berauben. 
Inzwischen  haben  sich  Junker  und  Pfaff  wiedergefunden  und 
das  Zentrum,  das  sich  draußen  vor  den  Wählern  immer  noch  als 
„Volks"-  oder  gar  Oppositionspartei  auffpielt,  läßt  wiederum, 
um  den  Ausdruck  des  angeführten  Berichts  der  sozialdemo -
kratischen  Fraktion  von  1900  zu  wiederholen,  der  Regierung  die 
„gebratenen  Steuertauben"  in  den  Mund  fliegen  und  über -
schüttet  sie  in  verschwenderischer  Fülle  mit  „einem  stcuer- 
reichtum  aus  Verkehrs-  und  Verzehrsabgaben".  Mit  diesen 
Summen  hat  das  deutsche  Volk  di«  Machtgelüste  des 
Zentrums  zu  bezahlen,  das  sich  wiederum  der  Regierung 
unentbehrlich  machen  und  sich  als  Nebenregiemng  auftun  will. 
Ueber  die  Beute  werden  sich  Junker  und  Pfaffen  diesmal  ja 
wohl  verständigt  haben. 
Die  Regienmg  schwankt  natürlich,  ob  sie  daö  Dargebotene 
annehmen  soll,  das  heißt:  sie  tut  so.  Sie  gibt  vor,  „starke 
Bedenken"  zu  haben.  Wir  glauben  gern,  daß  dem  Fürsten 
Bülow  und  seinen  zunächst  beteiligten  Kollegen  gar  nicht  wohl 
in  ihrer  Haut  ist.  Ach,  wenn  man  die  „Frage"  durch  Zupfen 
von  Gänseblümchen  oder  Abzählen  der  Westenknöpfe  entscheiden 
könnte!  Das  wäre  so  schön!  Aber  sie  ist  gar  keine  „Frage" 
prehr,  und  wenn  der  Reichskanzler  sagt,  er  werde  bei  nächster 
Gelegenhest  im  Reichstage  „seine  Stellungnahme  klarlegen",  so 
wird  niemals,  der  die  Dinge  einigermaßen  zu  überschauen  ver -
mag,  auf  diese  Klarlegung  neugierig  sein.  „Staatsmännische" 
Eiertänze  haben  den  Reiz  der  Neuheit  denn  doch  verloren  und 
„ziehen"  nicht  mehr. 
Fürst  Bülow  hat  nur  noch  die  Wahl,  die  jetzt  wieder  mit  der 
Junkerkamarilla  verbündeten  und  dadurch  mächtig  gewordenen 
Zentrumsdemagogen  als  „Nebenregierung"  anzunehmen  resp, 
sich  von  ihnen  regieren  zu  lassen,  oder  die  ganze  „Finanzreform" 
fallen  zu  lassen  und  abzudanken. 
Da  haben  wir  wieder  die  alte  preußisch-deutsche  Herrlichkeit. 
Gegen  die  Opposition,  die  von  der  Linken  ausgeht,  ist  die  Re -
gierung  jederzeit  schroff  und  schneidig.  Mutet  man  ihr  zu,  wegen 
eines  von  der  Linken  durchgesetzten  Beschlusses  abzutreten,  so 
wird  das  von  der  „gutgesinnten"  Presse  jederzeit  mit  Hohn -
gelächter  abgewiesen;  vor  einer  Mehrheit  aus  Junkern  und 
Pfaffen  aber  hat  man  dort  den  geziemenden  Rcspest,  und  ein 
Kanzler,  der  sich  nicht  fügt,  der  fliegt.  So  sind  wir  nach  den 
großen  Novemberdebattcn  im  Reiche  wieder  so  weit,  daß  da» 
Reich  und  dessen  Regierung  von  einer  Nebenregierung  regiert 
werden.  Unter  einem  eventuellen  Nachfolger  Bülows  wird  das 
nicht  besser  werden. 
Wahrlich,  die  herrschenden  Klassen  arbeiten  mit  ungeheurem 
Eifer  an  ihrer  Abwirtschaftung! 
Politische  Uebersicht. 
WaS  die  Regierung  will. 
Ueber  die  Stellung  der  Reichsrcgierung  zu  den  von  der  kon. 
scrvativ-klerrkalen  Koalition  beschlossenen  Steuern  will  die  ..Na -
tionalzeitung"  von  „unterrichteter  Seite"  erfahren  haben,  daß  die 
Regierung  entschlossen  sei,  die  K  o  t  i  e  r  u  ng  s  st  e  u  e  r  ,  Die 
Mühlenumsahsteuer  und  den  Kohlenausfuhrzoll 
mit  aller  Schärfe  zu  bekämpfen. 
„Die  Kotierungssteuer  entspreche  der  Forderung  der 
verbündeten  Regierungen  nach  100  Millionen  Besitzsteuern  aus  dem 
Grunde  nicht,  weil  sie  nicht  allgemein  wirkt.  Eine  Steuer,  die  in 
einseitiger  Weise  ein  einzelnes  Gewerbe  belastet,  sei  keine  Bchitz- 
stcuer.  Die  Kotierungssteuer  könne  aber  weder  als  Ersatz 
für  die  Erbanfallsteuer,  noch  überhaupt  als  Be- 
sitzsteuer  in  Betracht  kommen.  Sie  müsse  von  der  Regierung 
abgelehnt  werden.  Was  von  den  100  Millionen  die  Erb- 
schaftsbesteurung  nicht  decken  könne,  sei  durch  allge. 
meine  Besitzsteuern  zu  ergänzen  und  nicht  durch  einseitige  Be -
lastung  von  Ewndel  und  Industrie.  Dabei  bleibe  es. 
Tie  M  ü  h  l  e  n  u  m  s  a  tz  st  c  u  e  r  sei  im  Reichstage  verlangt 
ivorden  als  eine  wirtschaftliche  Maßregel  zum  Schutze  der  kleinen 
Betriebe.  Da  es  aus  diesem  Grunde  verfehlt  sei,  sie  in  das 
Finanzgesetz  hineinzuarbeiten,  wie  der  Schatzsekretär  in  der  Rumpf, 
kommi'sion  nachdrücklichst  betont  hat,  sei  sie  für  die  verbünde, 
ten  Regierungen  im  Rahmen  der  Finanzresorm  gleichfalls 
nicht  annehmbar. 
Der  Kohlen  ausfuhrzoll  endlich  würde  in  die  ganze 
Konstruktion  der  Grubenindustrie  in  unmöglicherweise  eingreifen. 
Da  die  Zechen  ihn  selbstverständlich  auf  die  Konsumenten 
a  ü  w  ä  l  z  e  n  würden,  würde  eine  Verteurung  des  inländischen 
Kohlenmarktes  die  unvermeidliche  Folge  sein.  Die  Regierung 
wird  auch  hier  nicht  mitgehe  n." 
Aufs  bestimmteste  wird  dem  nationlalliberalen  Blatte  ver- 
sichert,  daß  der  Reichskanzler,  dessen  Stellung  zu  diesen 
drei  Steuern  sich  mit  den  hier  wiedergegebenen  ÄuSsührungen 
deckt,  aus  dieser  Position  nicht  weichen  werde.  Dar- 
auf  könne  man  sich  unbedingt  v  e  r  l  a  s  se  n. 
Etwas  Aehnliches  deutet  eine  Berliner  Meldung  der  „Köln. 
Ztg."  an.  Sie  besagt: 
„Daß  die  konservativ,  klerikalen  Steuerbar, 
schlüge,  wie  sie  aus  der  Rumpfkommission  hervorgegangen  sind, 
auf  den  selbstbewußten  und  entschiedenen  Widerspruch 
der  Regierung  stoßen  würden,  wird  angezweiselt  und  viel -
mehr  der  Meinung  Ausdruck  gegeben,  daß  der  Regierung  nichts 
andres  übrig  bleiben  werde,  als  sich  löblich  zu  unter- 
werfen.  Nach  sehr  ernsten  Mitteilungen,  die  ich  aus  maß- 
gebenden  Kreisen  erhalte,  könnten  die  Konservativen  hierbei  die 
Rechnung  ohne  den  Wirt  gemacht  haben,  die  Regierung  scheint 
immer  mehr  zur  Einsicht  zu  kommen,  daß  ein  weich -
liches  Nachgeben  gegen  die  k  l  e  r  i  k  a  I.  k  o  n  s  e  r  v  a  - 
tiven  Forderungen  unmöglich  und  mit  dem  Staats, 
wohl  und  der  Verantwortung  vor  der  Geschichte  unvereinbar  ist. 
Ob  entschiedene  Erklärungen  in  diesem  Sinne  in  der  nächsten 
Zeit  erfolgen  werden,  ist  noch  nicht  zu  übersehen  und  nicht  wahr -
scheinlich,  ledenfallr  aber  wird  der  Reichskanzler  sogleich  bei 
Zusan  A-.  ntritt  des  Reichstages  seinen  Standpunkt  ausführlich 
barleg nr,  und  dieser  wird,  wie  aufs  bestimmteste  versichert  wird, 
keinesfalls  eine  Kapitulation  vor  den  Forde -
rungen  der  Konservativen  bedeuten." 
Beide  Ausführungen  klingen  sehr  bestimmt,  nur  binden  sie 
Bülow  keineswegs  und  bis  der  Reichstag  wieder  zusammentritt, 
kann  er  sich  abermals  anders  besonnen  haben,  wenn  di«  inzwischen 
gepflogenen  Verhandlungen  mit  den  Parteien,  vor  allem  mit  den 
Konservativen  nicht  das  von  Bülow  gewünsckite  Resultat  haben. 
Für  ihn  Ivar  cs  ja  sehr  bequem,  die  konservativ-klerikalen  Steuer -
macher  sich  erst  einmal  „austoben"  zu  lallen.  Aber  hinterher  ist 
das  Einrenken  um  so  schwerer.  Aber  bei  dieser  Taktik  ist  wohl  die 
Erwägung  mitbestimmend,  die  Liberalen  noch  mehr  ein- 
zu  schüchtern,  um  sie  geneigter  zu  machen,  den  konservativen 
Wünschen  noch  weiter  entgegenzukommen. 
Turchpcitschung  der  Llcuervorlage  auch  im  Plenum. 
Die  „Kreuzzeitung"  gibt  einen  Ueberblick  über  die  Beschlüsse  der 
Rumps-Finanzkommission  des  Reichstages.  Zusammenfassend  hebt  sie 
folgendes  hervor: 
„An  Aufwand-  und  Verbrauchssteuern  enthielt  der  Regierungs -
vorschlag  folgende  Positionen: 
aus  Bier  100  Millionen  Mark 
100 
77 
20 
60 
33 
Branntwein  
Tabak  
Wein  
Elektrizität  und  Gas.. 
Anzeigen  
zusammen...  380  Millionen  Mark. 
Dem  gegenüber  hat  die  Finanzkommission  bewilligt: 
a)  auS  Bier  ;  100  Millionen  Mark 
b)  „  Spiritus  80 
„  Zoll  für  ausländische  Spirituosen.  3 
„  Parfüm«  10  93 
c)  „  Tabak  47  "  " 
d)  »  Schaumwein  5  „  , 
e)  ,  Glühkörpern  20  „ 
f)  ,  Zündwaren  25  „ 
g)  »  Kaffee  und  Tee  37 
h)  „  Mühlenuinsatz  10 
i)  ,  KohlenauSfuhr  25 
k)  „  Aufrechterhaltung  der  Fahrkartensteuer  20 
zusammen...  382  Millionen  Mark. 
Die  sämtlichen  Beträge,  die  in  die  obige  Rechnung  liugestellt  sind 
und  zusammen  382  Millionen  Mark  ergeben,  sind  auch  von  den  Ver -
tretern  der  verbündeten  Regierungen  als  richtig  berechnet  anerkannt 
worden.  Einem  grundsätzlichen  Widerspruch  begegnen 
nur  die  Vorschläge  unter  h  und  i,  betreffend  Mühlenumsatzsteuer  und 
Kohlenausfuhrzoll  in  Höhe  von  zusammen  35  Millionen.  Auch  für 
diese  Vorschläge  ist  ebenso  wie  für  die  übrigen  eine  Mehrh  eit  im 
Reichstage  gesichert." 
Diese  Mehrheit  besteht  nach  der  Berechnung  der  „Kreuzzeitung"  auS  : 
den  Deutschkonjervativen  mit  61  Mitgliedern 
dem  Zentrum  „  106 
der  ReichSpartei  „  25  „ 
der  Wirtschaftlichen  Vereinigung 
und  der  Deutschen  Resormpartei  .  24 
zusammen  216  Mitglieder 
also  17  über  die  absolute  Mehrheit. 
TaS  Junker-Organ  meint  nun:  „Kurze  Plenarberatungen 
könnten  dieses  Riesenwerk  bis  zum  l.Juli  zum  Ab -
schluß  bringen;  die  Mehrheit  im  Plenum  ist  dafür  vorhanden. 
Loraussetzung  ist  nur,  daß  aus  dem  Gebiet  der  sogenannten 
B  e  s  i  tz  st  e  u  e  r  nicht  noch  in  letzter  Stunde  eine  Störung 
ein  tritt" 
In  knapp  zwei  Wochen  möchte  also  die  .Kreuzzeitung"  die  ganzen 
Steuervorlagen  im  Plenum  des  Reichstages  erledigen.  Das  wäre 
nur  möglich,  wenn  der  neue  Block  absolut  einer  Meinung  und  ent -
schlossen  wäre,  die  Minorität  in  ihrem  Widerstände  einfach  zu  verge -
waltigen.  Dazu  ist  aber  die  Mehrheit  viel  zu  gering  und  auch  keines -
wegs  in  allen  Einzelsragen  geschlossen.  Außerdem  stehen  aber  noch 
die  neuen  Steuervorschläge  der  Regierung  aus,  vor  allem  die  Erb- 
anfallfteuer,  die  der  „Kreuzzeitung"  nur  noch  als  „Störung  in 
letzter  Stunde"  erscheinen.  Es  wäre  ja  so  schön  —  für  Junker  und 
Agrarier,  wenn  das  ganze  von  ihnen  gemeinsam  mit  dem  Zentrum 
gebundene  Steuerbukeit  ohne  viele  Umstände  zur  Annahme  gebracht 
werden  könnte.  Aber  so  glatt,  wie  die  „ffteujjeilung*  sich  die  Sache 
anSmalt,  wird  eS  doch  nicht  gehen. 
Sydow,  der  Mann  der  Konservativen. 
Daß  die  Konservativen  mit  dem  Schatz  sckretär 
Sydow  durchaus  zufrieden  sind,  läßt  sich  begreifen. 
Hat  er  doch  den  Matadoren  des  neuen  Blocks  bereitwilligst  die 
Unterlagen  für  ihre  Steueranträge  geliefert. 
Tie  „Konservative  Korrespondenz"  bestreitet  daher  nachdrücklich, 
daß  in  diesen  Tagen  oder  auch  in  den  nächsten  Wochen  an  einen 
Wechsel  in  der  Leitung  des  Reichsschatzamtes  zu  denken  sei.  Das 
offizielle  Organ  der  konservativen  Partei  stellt  sodann  Herrn 
Sydow  folgendes  Zeugnis  aus: 
„Im  Gegenteil  hat  gerade  die  entschlossene  und  ent -
schiedene  Mitarbeit  des  Reichsschatzamts  bei  der  Gestaltung  der 
Kommiisionsarbeiten,  die  bis  zum  letzten  Augenblick  in  der 
Finanzkommission  zu  beobachten  gewesen  ist,  für  alle  objektiv  Ur -
teilenden  8cn  klaren  Beweis  ergeben,  daß  der  Reichsschatzsekrctär 
Sudow  entschlossen  und  gewillt  ist,  die  ihm  im  Februar  1908  durch 
Allerhöchstes  Vertrauen  übertragene  nationale  Aufgabe  der  Ord- 
nung  der  Reichsfinanzen  unter  allen  Umständen  bald  zu  einem 
weite  Kreise  des  deutschen  Volkes  befriedigenden  Abschluß  zu 
bringen,  ohne  Rücksicht  auf  irgendwelche  vorüber, 
gehende  Parteikonstellationen,  denen'gegenüber  er 
sich  immer  streng  verfassungsrechtlich  vollkommen  freie 
Hand  gewahrt  bat."  _ 
Verdient  hat  Herr  Svdow  diese  „Beleidigung",  die  im  Grunde 
doch  nichts  anderes  ist,  als  ein  bösartiger  Hohn  auf  ihn 
und  bie  gesamte  Reichsregierung. 
Proteste  gegen  die  Lteuermache. 
Ter  Zentralausschuß  Berliner  kaufmänni- 
scher,  gewerblicher  u  n  b  inbustrieller  Vereine 
hat  in  seiner  Plenarsitzung  vom  2.  Juni,  in  bem  106  bem  Zen -
tralausschuß  angeschlossene  Vereine  unb  Verbänbe  durch  ihre  de -
legierten  vollzählig  vertreten  waren,  einstimmig  eine  Erklärung 
beschlossen,  in  der  eS  heißt: 
„Die  Finanzkommission  hat,  anstatt  große  tragkräftige 
Steuerobjekte  heranzuziehen  unb  ben  Fehlbetrag  burch  eine  alle 
leistungsfähigen  Schultern  treffenbe  Nachlaßbesteurung  zu  decken, 
in  einer  in  der  politischen  Wirtschaftsgeschichte  bis  jetzt  unerhör- 
ten  Art  der  Gesetzmacherei  einzelne  Gewcrbezwcige 
herausgegriffen  und  diese  mit  Steuern  bedroht,  deren 
Ertrag  in  keinem  Verhältnis  stünde  zu  der  damit  verbundenen 
Verteuerung,  Belästigung  und  Schikanierung,  und  deren  Koii- 
seq  uenzen  für  Hersteller,  Wiederverkäufer  und  Kleingewerbe- 
treibende  unübersehbar  wären;  sie  hat  die  Gelegenheit  be -
nutzt,  um  den  Versuch  zu  machen,  nicht  nur  das  mobile 
Kapital,  sondern  auch  die  Börse  empfindlich  zu 
treffen  und  damit  den  Lebensnerv  unsrer 
Volkswirtschaft  lahm  zu  legen  oder  zu  unter- 
b  i  n  d  e  n;  sie  hat  schließlich  in  dem  Anträge  auf  Einführung  einer 
gestaffelten  Mühlenumsatz  st  euer  in  die  Reichsfinanz -
reform  eine  reine  Jnteressenpolitik  dienende  E  r  - 
drosselungSsteuer  eingefügt,  die  zwar  nicht  ihren  Zweck 
erreichen,  Wohl  aber  die  Verteuerung  des  Mehles  unb 
bie  Verlegung  der  Vermahlung  nach  dem  Auslande  herbeifübren 
würde.  Sie  hat  also  die  weitere  Verteuerung  des  Brotgetreides, 
des  wichtigsten  Nahrungsmittel»  der  breitesten  Massen  des 
Volkes,  auch  bei  dieser  rein  finanz-  unb  nationalpolitischen  Ge -
legenheit  zu  förbern  gesucht.  Nach  «liebem  hält  cs  ber  Zentral- 
aüsschuß  an  ber  Zeit,  baß  ©anbei,  Industrie-,  Groß-  unb  Klein- 
gewerbe  ihre  bisherige  Reserve  aufgeben  unb  sich  zu  einer  g  c  - 
schlossenen  Kampforganisation  zusammenfinben." 
Murren  im  Zentrum. 
Da§  Zusammenarbeiten  des  Zentrums  mit  den  Konservati -
ven  an  der  großen  neuen  Volksbelastung,  das  von  den  großen 
Herren  und  sonstigen  Agrariern  im  Zentrum  betrieben  wird,  er -
regt  nicht  nur  in  katholischen  Arbeiterkreisen,  sondern  auch  in  den 
kleinbürgerlichen  Kreisen  des  Zentrums  Mißmut  und  Unzu- 
friedenheit.  Die  „Wests.  Rundschau"  gibt  dem  in  einem  Artikel 
„Reaktionärer  Vormarsch"  unzweideutig  Ausdruck: 
„den  Junkern,  die  noch  vor  Ostern  vor  der  Gefahr 
einer  schweren  Niederlage  standen,  ist  es  jetzt  mit  Hilfe  ihrer 
adligen  Freunde  aus  dem  Zentrum  gelungen,  überall 
siegreich  vorzudringen.  Auf  dem  Felde  der  preußischen  Finanz- 
retorm  sind  sie  heute  schon  die  unbestrittenen  Sieger,  und  hier 
haben  sie  ben  Triumph  ihrer  Macht  voll  ausgekostet.  .  .  Auch  bie 
Finanzresorm  im  Reiche  soll  gemacht  werden,  w  i  e  d  i  e  I  u  n  k  e  r 
wollen.  ...  Die  Finanzkommission  des  Reichstages  hat  .  .  . 
die  bereits  beschlossene  Verewigung  ber  Liebesgabe 
abermals  bestätigt.  Tas  gehört  zu  dem  ganzen  Bilde.  Während 
aber  bie  Junker  sich  selber  großmütig  Geschenke 
machen,  um  gleichzeitig  mit  dem  Reich  auch  ihren  eigenen  Be -
darf  an  Kleingeld  zu  decken,  bewilligen  sie  nicht  minder  großmütig 
auS  den  Taschen  der  Massen  eine  Verbrauchs -
abgabe  nach  der  andern;  ja,  sie  können  es  gar  nicht  er -
warten,  bis  sie  von  ber  Regierung  barum  gebeten  werben,  sondern 
bringen  selber  immerfort  Anträge  auf  Einführung  indirekter 
Steuern  ein.“ 
Dieser  Tadel  wird  die  maßgebenden  Zentrumsfiihrer  freilich 
nicht  bewegen,  von  ihrer  verderblichen  Tätigkeit  abzulasien.  Auch 
im  Zentrum  tstAgrarischTrumph  ,unb  wenn  bie  Gläubigen 
unjufrieben  werben,  bann  müssen  bie  Geistlichen  sie  toieber  zur 
Rube  bringen.  
Wieviel  Tribut  zahlt  da»  deutsche  Volk  den  Agrariern? 
Angesichts  des  heißen  Bemühens  der  Agrarier,  die  Finanzresorm 
auS  andrer  Leute  Tasche  zustande  zu  bringen,  dürfte  eS  angebracht 
sein,  die  breite  Oeffentlichkcit  einmal  darüber  auszuklSren,  welch  un -
geheure  Summen  diese  Agrarier  ans  der  Tasche  beS  deutschen  Volkes 
in  Form  von  Getreidezöllen  uiw.  ziehen. 
Die  „Franks.  Ztg."  gibt  folgende  Uebersicht: 
Die  deutsche  Getreideernte  betrug  im  Jahre  1908  in  runden 
Ziffern: 
Weizen  37,5  Millionen  D.-Ztr. 
Roggen  107,0  „  „ 
Malzgerste  30,5  .  „ 
Hafer  77,0  _  „  „ 
Die  deutschen  Zölle  betragen  für 
Weizen  -M-  6,50 
Roggen  „  6,— 
Malzgerfte  „  4,— 
Hafer  „  5,— 
Daß  die  deutschen  Getreidepreise  durchgehends  um  den 
Zoll  höher  find  als  die  Getreidepreise  der  zollfreien  Länder  ist  längst 
bewiesen  und  zeigt  übrigens  folgende  Gegenüberstellung:  Die  heutigen 
Preise  sind  durchschnittlich: 
in  London  in  Berlin 
für  Weizen  20,40  27,30 
„  Roggen  14,80  19,75 
„  Malzgerste  16,—  19,50 
„  Hafer  18,50  18,40 
TaS  deutsche  Volk  zahlt  also  für  das  unentbehrlichste  Nahrungs -
mittel  säst  genau  um  den  deutschen  Zoll  mehr  als  das  englische  Volk 
und  dieser  Zoll  fließt  voll  in  die  Taschen  der  Agrarier.  Er  be -
trägt  für: 
Weizen  206  Mill.  Mark 
Roggen  535  „ 
Malzgerste  122 
Hafer  385 
Zusammen...  1248  Dtill.  'Mark 
Rechnet  man  davon  ben  eigenen  Verbrauch  der  Landwirtschaft  ab 
mit  rund  30  pZt.  ober  375  Millionen  Mark,  so  bleibt  immer  noch 
bie  enorme  Summe  von  873  Millionen  Mark  jährlich, 
bie  bet  Lanbwinschaft  in  die  Tasche  fließt  unb  von  bet  übrigen  Be -
völkerung  deS  Reichs  getragen  wird,  von  ber  Bevölkerung,  bet  man 
jetzt  noch  400  Millionen  neue  indirekte  Steuern  zugedacht  hat, 
während  die  Herren  vom  Bund  ber  Lanbwirte  nebst  Anhang 
Himmel  und  Hölle  in  Bewegung  setzen,  um  ben  verhältnismäßig 
kleinen  Anteil,  ben  sie  an  den  von  ber  Regierung  geforberien 
100  Mill.  Besitzsteuer  in  Form  einer  Nachlaßsteuet  zu  tragen  hätten, 
von  sich  abzuwälzen. 
Zu  den  873  Millionen  au8  den  Getreidezöllen  sind  noch  diejenigen 
Profile  zu  rechnen,  welche  die  Herten  aus  der  Branntwein- 
st  e  ii  e  t  ziehen  (Liebesgabe),  sowie  die  vielen  Millionen  als  Folge 
der  Zölle  auf  Fleisch  und  Vieh,  Obst,  Gemüse  :c  rc. 
So  fressen  die  Agrarier  am  Starte  der  Nation.  Unb  diese  Schmarotzer- 
sippschaft  lehnt  sich  dagegen  ans,  daß  das  Reich  ein  kleines  Opfer 
in  ber  Form  einer  Erbschaftssteuer  von  ihnen  verlangt! 
Tas  agrarische  Geschäft  mit  den  Einsuhrscheinen  blüht. 
Für  das  nach  dem  Auslande  ausgeführte  Getreide  erhalten  bie 
Agrarier  ben  Zollsatz  in  Form  sogenannter  Einfuhtslbeine  ver -
gütet,  als  ob  es  sich  um  Wiederausfuhr  eingeführten  Getreides 
bandelte,  während  sie  in  Wirklichkeit  ben  Zoll  gar  nicht  bezablt 
haben.  Wie  wir  schon  früher  iiachwiesen,  wird  damit  ben  Agrariern 
ein  direktes  Geschenk  gemacht.  Sie  können  bie  Einfuhrscheine, 
bie  an  ber  Börse  gehandelt  werden,  verkaufen,  und  der  Erwerber 
kann  damit  ben  Zoll  für  andre  eingeführte  Produkte  bezahlen,  das 
heißt,  dem  Reich  entgeht  dafür  der  Zoll;  den  steckt  der 
ausführenbe  Agrarier  in  bie  Tasche.  Wie  lukrativ  daS  angenehme 
Geschäft  ist,  dafür  bringt  die  „Voss.  Ztg."  einige  interessante  An. 
gaben:  Nachdem  im  vorigen  Etatsjabr  nicht  weniger  als 
99,20  Millionen  Mark,  die  an  Einfuhrzoll  aufgekommen 
waren,  mittels  Einfuhrscheins  beglichen  worden  waren  gegen 
53,96  Millionen  im  Etatsjahr  1907,  ist  im  ersten  Monat  des 
neuen  Etatsjahres,  dem  April,  ein  Zollbetrag  von 
8,72  Millionen  Mark  durch  Einfuhrscheine  beglichen  gegen 
5,96  Millionen  Mark  im  April  1906  unb  4,15  Millionen  Mark 
im  April  1907.  Seit  Beginn  des  laufenben  Jahres  beträgt  die 
öumne  34,32  Millionen  Mark  gegen  23,in।  im  Jahre  tÜOi  unb 
16,90  im  Jahre  1907,  also  bisher  11,32  Millionen  Mark  mehr  als 
im  Vorjahr.  Von  den  angerechneten  Einfuhrscheinen  lauteten  im 
April  bieses  Jahres  für  nicht  weniger  a  l  o  4,94  Millio -
nen  Mark  über  Roggen,  ferner  2,44  Millionen  Mark  über 
Weizen,  1,23  Millionen  Mark  über  Hafer,  so  daß  auf  diese  drei 
Getreidesorten  allein  ein  Wert  von  8,61  Millionen  Mark  bei  der 
Ausfuhr  burdi  Einfuhrschein  vergütet  ist.  Umgekehrt  ist  bei  ber 
Einfuhr  ber  Zoll  mittels  Einfuhrscheines  beglichen  beim  Weizen 
in  Höhe  von  5,26  Millionen  Mark,  beim  Hafer  in  Höhe  von 
1,01  Millionen  Mark,  beim  Roggen  in  Höhe  von  nur  0,70  Millio. 
nen  Mark,  beim  Roggen  in  Höhe  von  nur  0,70  Millionen  Mark, 
bei  ber  Gerste  in  Höbe  von  0,56,  beim  Kaffee  in  Höhe  von  0,51 
unb  beim  Erdöl  in  Höhe  von  0,45  Millionen  Mark.  Der  gesamte 
Zoll  für  den  eingeführten  Roggen  betrug  0,71  Millionen  Mark, 
ist  also  mit  Ausnahme  eines  ganz  kleinen  Betrages  durch  Einfuhr- 
scheine  bezahlt.  Im  ganzen  bat  das  Deutsche  Reich  in  dem  einen 
Monat  April  für  den  ausgeführten  Roggen  4,25  Mill. 
Mark  mehr  an  Einfuhr  scheinen  bezahlt,  als  es 
für  den  ein  geführten  Roggen  an  Zoll  eingenom -
men  hat.  Dabei  sind  den  Konsumenten  im  Deutschen  Reiche 
durch  die  Roggenausfuhr  850  000  Doppelzentner  dieser  Brotfrucht 
verloren  gegangen. 
Liberal-biindlerischcr  Krakehl  in  der  Pfalz. 
Im  freigewordenen  Reichstagswahlkreis  Neustadt-Lan -
dau  scheinen  die  Nationalliberalen  doch  gegen  den  bündlerischen 
Stachel  löcken  zu  wollen.  Wie  schon  mitgeteilt,  verlangt  der  Bund 
der  Landwirte,  daß  der  Kandidat  —  falls  man  den  Nationallibe- 
ralcn  bie  Präsentation  bes  Kanbidaten  überlassen  sollte  —  in  wirt- 
scliaftlichen  Fragen  daS  Programm  des  Bunbes  anerkennt  unb  sich 
insbesonbere  in  der  Frage  ber  Reicbofinanzreforin  auf  dem  Boden 
ber  agrarischen  Anschauungen  stellt.  Eine  entsprechenbe  Resolution, 
bie  auf  einer  VertrauenSmännerkonferenz  deS  Bunbes,  die  am 
Pfingstmontag  tagte,  einstimmig  angenommen  wurde,  gibt  der 
freisinnig-liberalen  „Neuen  Bürgerzeitung"  in  Neustadt  in  ihrer 
Nummer  vom  2.  Juni  Veranlassung  zu  folgender,  nicht  mißzuver- 
stehender  Absage  an  die  Bündler: 
„Ter  Pfingstbeschluß  der  Bündler  bedeutet  in  unserm  Wahl -
kreise  eine  reinliche  Scheidung  zwischen  rechts  unb 
links,  die  längst  hätte  kommen  müssen.  Wir  glauben  nicht,  daß 
der  größte  Teil  der  vorderpfälzischen  Bauern  diese  Politik  des 
nackten  Klassenegoisnius  mitmachen  wird.  Jetzt  ist  end -
lich  einmal  Klarheit  geschaffen  und  der  Weg  für  einen  zielbewußten 
Liberalen  frei  Ein  liberaler  Mann  kann  die  Interessen  ber 
Pfälzer  Bauern  besser  vertreten,  als  ein  Vollbl  utagrarier, 
ber  bei  allen  seinen  Schritten  nur  bie  Interessen  beS  o  st  - 
elbischen  Großgrunbbesitzes  vertritt.  ....  Mit  ber 
albernen  Phrase  vom  Schuhe  bes  beutschen  Familiensinnes  kommt 
man  nicht  über  bie  Tatsache  hinweg,  daß  Vierfünftel  ber 
pfälzischen  Landwirte  von  ber  geplanten  Erb -
schaftssteuer  gar  nicht  betroffen  werde  n."  .... 
So  energisch,  wie  diese  Worte  fttb  anhören,  so  echt  liberal 
klingt  ber  Artikel  nach  unverfälschter  Schmachtlappenart  aus:  „Der 
Wahlkampf  ....  muß  so  geführt  werden,  bah  alles  persönliche 
streng  ausgeschaltet  wirb  unb  baß  zwischen  Liberalen  unb  Bund 
noch  ber  Weg  einer  Berstänbigung  für  bie  Stich -
wahl  offen  bleibt.  " 
Entschiebener  unb  kampfeslustiger  brückt  sich  bie  altliberale 
„Zweibrücker  Zeitung"  zu  der  Bundesresolution  aus.  Sie  schreibt: 
„Sie  (die  Resolution)  ist  ein  gutes  Beispiel  für  die  A  n  in  atznng 
der  Bundesführer  und  für  die  jesuitischen  Ge- 
plogenheiten,  die  im  Bund  der  Landwirte  immer  mehr  in 
Schwung  kommen  Die  Resolution  kommt  einer  Kriegs- 
erflärung  gleich  und  es  wird  im  Wahlkreise  Neustadt-Landau 
zum  Kampf  kommen,  ber  infolge  beS  bündlerischen 
UcbermutcS  und  deS  Umstandes,  dah  es  sich  für  die  National, 
liberalen  um  die  Behauptung  des  letzten  pfälzischen  Mandats  han -
delt,  vorauIsichtlich  sehr  erbittert  geführt  werden  wird." 
Es  wird  weiter  darauf  verwiesen,  dah  der  Wahlkampf  nicht 
ohne  Einfluß  auf  die  nächsten  Wahlen  sein  wird,  bann  heißt  eS  in 
brzug  auf  die  Kandidatur  Roesicke  in  Kaiserslautern: 
„Daß  die  Liberalen  eine  Kandidatur  Roesicke  nicht  zum 
dritten  Male  schlucken  werden,  darüber  ist  man  sich  wohl 
auch  beim  Bund  klar  Vom  parteipraktischen  Standpunkt  ist 
es  sogar  erwünscht,  wenn  es  zu  einer  Klarstellung  der  beider- 
fettigen  Machtverhältnisse  käme." 
Nach  diesen  Pretzäutzerungen  erscheint  die  Spaltung  zwischen 
Bund  und  Liberalen  unüberbrückbar,  wenn  nicht  im  letzten  Mo- 
mente  die  Liberalen  doch  noch  den  Kotau  vor  dem  Bunde  machen. 
Christliche  und  freie  Gewerkschaften. 
Von  den  Verhandlungen  des  E  v  a  n  g  e  l  i  s  ch.  s  o  z  i  a  l  e  n 
Kongresses  ist  noch  jene  zu  erwähnen,  die  sich  mit  dem 
Thema  „Geistige  Strömungen  in  der  deutschen 
Gewerkschaftsbewegung"  befaßte.  Referent  war  Lizen -
tiat  Schneemelcher  -Berlin.  Der  Herr  ist  von  der  Gewerk-