Toimerstag, den :i. Februar 1010 24. Jahrgang Hamburger Echo verantwortlicher Redakteur: <8rnH Hüt»le in Hamburg. DaS »Hamburger »die* erscheint «glich, außer Montag». 8ltionnement8frei6 (Infi. „Tie Reue Welt" und „Tie arbeitende Jugend") durch die Poft bezogen ohne Bringegeld monatlich X 1,20, vierteljährlich X 3,60; durch die Kolporteure wächentlich 30 4 Irei in« Haus. Ein,. Nr. 6 4. SonntagS.Nummer mit illustr. Beilage .Tir Reue Welt- 10 4. Kreuzbandsendungen monatlich x g.70, für da» Ausland monatlich X 840. Redaktion: » , Expedition: Fehlandstrabe 11. 1. StoL PaMvUkg Oü A,h,andftra»e 1L Lrdgeschod. Anzeigen die lechSgeipaltene Pelit,eile oder deren Raum 36 4. Arbeit-markt. Vermietung», und glamilieiiaiizeigen 20 4 Anzeigen Niiiiahnie Fehlandltr.il. Erdgeschoh ibi» 5 tthr nachmittag«», in den Filialen (bi« 4 Uhr nachm.), sowie in allen Annoncen-Bureaur. Platz, u. lalenvorschriften ohn- verbindlichkeit. 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Die Wahlschlacht ist geschlagen und nach einem beispiellos heftigen Wahllamps läßt sich jetzt, nachdem offiziell das Ab- stimmungsresuüat festgestellt ist, das Schlachtfeld übersehen. Mit Spannung wird jeder, der sich um die Politik kümmert, dem Ausgang entgegengesehen haben. Ein vollständiges Resultat konnte für die gestrige Nummer trotz ansttengender, bis in die ersten Atorgenstunden dauernder Arbest nicht geliefert werden, weil in einigen wenigen Bezirken das komplizierte Zählgeschäft sich nicht glatt abwickeüe, in einigen auch die Vertrauensleute nicht genau folgen konnten. Wir bringen das Gesamtresultat für die einzelnen Parteien und Kandidaten an anderer Stelle der heutigen Nummer, lassen aber hier die für die Beurteilung des Wahl- resullats wichtigen Zahlen folgen. Es wurden Stimmen abgegeben für: in Gruppei in Gruppe H Sozialdemokratie .. 8 652 133 939 Vereinigte Liberale 41 644 48 465 Linke 40 611 22 858 Linkes Zentrum 28 852 13 767 Rechte 32 581 15 751 Im ganzen... 152 340 234 780 Die Mandate verteilen sich auf Gruppe I (24) Gruppe 11(12) Sozialdemokratie 1 8 Bereinigte Liberale 7 3 Linke 7 1 Linkes Zentrum 4 — Rechte 5 — Schon ein oberflächlicher Blick auf die Zahlenrechen der Stimmen und der Mandate für die einzelnen Parteien läßt das gewaltige Unrecht erkennen, das durch den Wahl- ^^btsumfturz und die Klasseneinteilung der Bürger der Masse dieser zugefügt worden ist. Nach den abgegebenen Stimmen haben in der Gruppe I 12 695 Bürger gewählt, in der Gruppe II 19 565. Erstere geben die Entscheidung über 24 Mandate, letztere über 12. In der ersten Klasse kommen 6347 Stimmen auf ein Mandat, in der zweiten Klasse 19 565. Die Bürger erster Klasse haben bei dieser Wahl also ein reichlich dreifach so gewichtiges Stimmrecht gehabt wie die Bürger zwester Klasse./ Und diesesmal Tritt das empörende Unrecht der Klaffenwahl nicht einmal so kmß hervor, wie vor drei Jahren in der anderen StadchAfte, wo sich die Stimmen in beiden Klaffen wie 1:2 stellten (109 020 zu 222 120), die Stimmen der Wähler erster Klasse also viermal so schwer wogen als die zweiter Klasse. Diese Differenz erklärt sich aus der verschiedenartigen sozialenStruktur der bejdenStadthälften. Was wir schon bei Beurteilung der Chancen der Sozialdemokratie an der Hand des Wahlergebnisses von 1907 damals sagten, daß die jetzt zur Wahl stehende Stadthälfte für die Sozial - demokratie ungünstiger sei als die andere Hälfte, hat die Wahl vom 1. Februar dieses Jahres vollauf bestätigt. Wer Hamburg einigermaßen kennt, mußte es wissen. Und deshalb war die phantastische Rechnerei der Statistiker des Wahlrechtsausschuffes so frivol. Die Stadchälste rechts der Alster mit den vornehmen Stadtvierteln Harvestehude, Roterbaum 2t., wo die oberen Zehntausend ihren Hauptsitz haben und neben chnen der „beffere" Mittelstand stark vertreten ist, wo auch zahl- reiche Beamte ihre Wohnstätte haben, hat relativ eine viel ge - ringere Arbeiterschaft, als die Stadthälfte links der Alster, die große proletarische Stadwiertel wie Hammerbrook, Barmbeck, Bill- wärder Ausschlag, Veddel rc. mit umfaßt. In diesen Stadt- vierteln wird die Zahl der sozialdemokratischen Bürger natürlich weiter stark anschwellen, in den nicht- oder weniger proletarischen Bezirken wird das Anwachsen naturgemäß ein geringeres sein. Gleichwohl oder gerade deshalb können wir mit dem jetzigen Resultat, soweit es die Stimmenzahlen betrifft, voll - auf zuftieden sein. Nach den Stimmenzahlen der beiden Klassen haben in der ersten Klasse 721 und in der zweiten Klasse 11161 sozialdemokratische Bürger gewählt. 1907 waren es in der anderen Hälfte 465 und 11273. In der größeren Zahl sozialdemokratischer Bürger erster Klasse prägt sich gewissermaßen auch die größere Wohlhabenheit der jetzt wählenden Stadl - hälfte aus. Diese Zahlen geben aber keinen Vergleichsmaßstab ab. Um einen solchen zu haben, müssen wir auf die Wahlen von 1904 zurückgreifen, wo in der gleichen Stadthälfte, aber noch nach dem Bezirkswahlsystem, gewählt wurde. Damals fielen von im ganzen abgegebenen 24 238 Stimmen 9145 gleich 37,7 pZt. auf die sozialdemokratischen Kandidaten. Es wählten aber die fünf Barmbccker Bezirke mit, in denen von 3227 abgegebenen Stimmen 1670 aus die Sozialdemokratie fielen. Inzwischen ist Barmbcck der andern Wahlhälfte zugeteill worden und hat jetzt nicht mit* gewählt; die 1670 Stimmen müssen also in Abzug gebracht werden. In den Stadtteilen, die jetzt wieder gewähll haben, sind 1904 im ganzen 7475 Stimmen für die Sozialdemokratie abgegeben worden. Jetzt haben dort 11 882 Bürger (1. und 2. Klasse zusammen) sozialdemokratisch gewählt. Das ist in den sechs Jahren ein Zuwachs von fast 60 pZt. Wobei noch zu erwägen ist, daß im Sanierungsgebiet der süd - lichen Neustadt gerade zahlreiche minderbegütertc Bewohner ver- trieben worden sind, ohne in der Nähe eine Wohnung wieder - finden zu können. Das ist ein Erfolg, der sich sehen lasten kann. Danach mag man ermessen, was es zu bedeuten Hal, wenn ein hiesiges liberales Blatt von einem „Rückgang" der sozialdemokratischen Stimmen faselt! Freilich, den Mandatgewinn ins Auge gefaßt, entspricht das Wahlergebnis zwar ziemlich genau dem, was wir erwartet hatten, aber nicht dem, was die Sozialdemokratie auf Grund ihrer'starken Stimmenzahl zu beanspruchen hätte. Würden nur die sämllichen 36 Mandare aus den sogenannten „allge - meinen Wahlen" nach gleichem Recht verteilt, so würden auf die Sozialdemokratie (bei 142 591 Stimmen gleich 37 pZt.) 13 Mandate entfallen sein gegen 9, die jetzt errungen worden find. In dieser Differenz prägt sich der Einfluß der Klassen- wähl aus, die ja von den Wahlrechtsumstürzlern eingefühttworden ist, um die Erfolgsmöglichkeiten der Sozialdemokratie zu kon- tingentieren. Daß die Differenz nicht noch erheblich größer, ist auf den Umstand znrückzuführeu, daß in dieser Stadthälfte ein verhältnismäßig starker Teil bürgerlicher Wähler in der zweiten Klasse ist. 100 841 Stimmen von Wählern der zweiten Klasse find auf bürgerliche Kandidaten gefallen gegen 86 846 bei den Wahlen vor drei Jahren. Die größere Zahl dürste in der Hauptsache auf die Stimmen von Beamten zurückzuführen sein, die auf dieser Alsterseite stark vertreten find. Die Wahlbeteiligung war, wie nach dem leidenschaftlichen Wahlkampf nicht anders zu erwarten, eine äußerst starke. In den abgeschlossenen Wählerlisten waren 34 935 Wähler verzeichnet. Von diesen haben 32 260 ihre Stimme abgegeben. Also eine Wahlbeteiligung von 92,3 Prozent. Ein Gesichtspunkt ist bei Würdigung des Wahlresultats besonders zu betonen. Welche Antwort hat es den Wahl- rechtsümstürzlern gegeben? Die Antwort ist ein ebenso vernichtendes Urteil, wie es vor drei Jahren in der anderen Stadthälfte gefällt wurde. Bon den 387 120 Stimmen, die im ganzen abgegeben wurden, fielen 231700 gegen die Wahlrechtsumstürzler und nur 155 420 für die drei alten Fraktionen, die den Wahlrechts- Umsturz auf dem Gewissen haben. Es haben also 19 308 Wähler gegen und nur 12 951 für den Wahlrechtsumsturz sich ewschieden. 60 Prozent der Bürger haben durch ihre Ab - stimmung entschiedenen Protest gegen den Wahlrechts - umsturz erhoben. Es ist also durch diese Wahl aufs neue be- stätigt worden, daß die Aufhebung der Rechtsgleichheit der Bürger gegen den Willen der großen Masse der Bürger beschlossen worden ist. Senat und Bürgerschaft haben sich mit dem Wahlrechtsumsturz in den schärfsten Gegensatz zu zwei Dritteln der Hamburger Bürger gesetzt, hinter denen auch noch die Masse der Hamburger Einwohner steht, die über - haupt kein Wahlrecht hat, weil ihr Einkommen nicht dazu reicht oder sie eS nicht in längerer ununterbrochener Folge von fünf Jahren hatten. Aber die Wahlrechtsumstürzler sind abgebrüht und unentpfiMich gegen die Sprache des Wahlresutats. Sie fühlen sich im Besitz der Macht und wollen sich in ihr auf jeden FaU erhalten. So schufen sie auf dem Wege der Ver - gewaltigung einer Minderheit ein neues „Recht", das die Ptinderheit für immer hindern soll, zu einer Mehrheit in der Bürgerschaft zu werden, selbst wenn sich Himer ihren Fahnen die große Mehrheit der Bürger sammelt. Einer der Häuptlinge der Wahlrechtsumstürzlcr, Dr. Rud. Möncke- berg, hat auch im Wahlkampf den brutalen Macht- standpunkt mit aller Schärfe herausgekehrt: „Wir sind an der Riacht und wollen sie uns erhalten! Das ist unser „gutes Recht!" Zur Erreichung dieses Zweckes ist jedes Mittel recht! Und gerade dieser Scharfmacher und Sozialistenftesser hat von allen Kandidaten der Rechten, die ihre Stimmen wesent - lich aus der „Creme" der Gesellschaft holt, die meisten Stimmen erhalten: .6926, davon 6368 aus der ersten Klaffe. Tas ge - stattet einen lehrreichen Einblick in die Gemütsverfassung der „maßgebenden" Kreise Hamburgs. Der Scharfmachergeift beseelt sie und macht sie unempfindlich gegen die Stimme des Rechts wie des politischen Gewissens. Und ein verblendetes Kleinbürgertum leistet dieser Ge - sellschaft willig Heerfolge, wo es gilt, das Recht der großen Masse niederzutreten. Auch daS haben die jetzigen Wahlen deutlich gezeigt, über deren Einzelerscheinungen noch weiteres zu sagen sein wird. Der Ausgang des englischen Wahl - kampfes^ y. London, 31. Januar 1010. Die englischen ParlamenlZwablen sind so gut wie abgelaufen. Die Resultate aus den wenigen Wahlkreisen, die noch auSstehen, können an dem Gesamtergebnis der Wahlschlacht nichts mehr ändern. Die Konservativen haben über hundert Sitze gewonnen und werden ungctähr in gleicher Stärke wie die Liberalen in da» Unterhaus einziehen. Tie liberale Regierlingspartei hat keine eigene Majorität mehr, sie wird nur noch mit der Hilse der irischen Nationalisten regieren können. Die zrandidaten der Arbeiter - partei und der sozialistifcl»en Organisationen haben int allgemeinen nicht besser abgeschnitten, als die Liberalen. Als das Gesamt - resultat dieser Wahl ist also ein entschiedener Ruck nach rechts festzustellen. Dieses Ergebnis ist zu einem sehr großen Teile für die Soztaldemotrarie eine jener Erjclninungen, über die man weder llm noch sich treuen, sondern die man zunächst zu begreifen •t.. n soll DaS Schicksal der Arbeiterparteiler und der Sozia - listen hat seine besonderen Ursachen und bildet ein Kapitel für sich. Aper in dem Rückgang des Liberalismus zugunsten der Äonser- vattven hat man in erster Linie nichts anderes, als eine Verschie - bung der politischen Machtverhältniffe im Schoße der Bourgeoisie selber zu erblicken, über die sich zu beklagen cs insofern unsinnig wäre, als sie nur die getreue politische Widerspiegelung der naturnotwendigen wirtschaftticben Entwicklungsrichtung Groß - britanniens selber ist. Denn der moralische Sieg der Konser - vativen über die Liberalen ist im Grunde nichts anderes, als der Sieg der reaktionären, schutzzöllnerischen und imperialistischen Polittk, die in stets wachsendem Maße dem nackten Klafieninteresie des größten Teiles der englischen Bourgeoisie entspricht, über die traditionelle demokratische Ideologie des englischen Liberalismus, der von diesem Augenblicke an aufgebört hat, der politische Ausdruck der Interessen der herrschenden Klaffen Englands zu sein. Um was handelte es sich eigentlich bei diesem Kampfe? Nicht um das Vetorecht des Oberhauses öder sonst eine Frage der rein politischen Organisation des Staates, sondern um_5ie ganze Art, wie die engliictje Bourgeoisie fortan ihre Jntereffen ihren aus - ländischen Konkurrenten und zugleich den arbeitenden Klaffen im eigenen Lande gegenüber vertreten soll: ob durch Freihandel und direkte Besteuerung des Besitzes im Jnlande, oder durch imperia - listischen Schutzzoll und indirekte Besteuerung der Konsumenten. Und die Wahlen haben gezeigt, daß ein immer größerer Teil der besitzenden Klaffen sich für die zweite Lösung, die der Konser - vativen, ausspricht. Sic gehorchen dabei keinem andern Triebe, als dem der wirffchaftlichen Selbstcrhaltung vom Standpunkte ihres Klassenintereffes aus. Die Stellung Englands auf dem Weltmarkt ist nicht mehr, was sie früher war. Die britischen Industriellen und Kaufleute sind nicht mehr die Produzenten und die Händler der ganzen kapitalistisck;en Welt, sondern sie sind durch den wirtschaftlichen Aufschwung der anderen Länder, namentlich Deuffchlands und der Vereinigten Staaten, aus der tatsächlichen Monopolstellung verdrängt worden, die sie während des größten Teils des neunzehnten Jahrunderts inne hatten. Dieser Prozeß geht noch immer weiter vor sich. Nicht nur geht die englische Aus - fuhr ständig zurück, sondern auch auf dem inneren Markte drängt die ausländische Konkurrenz stets weiter vor. Da erscheint den englischen Kapitalisten der Sckmtzzoll als die Rettung vor dem Untergang — freilich nicht der Nation, sondern ihrer Klaffen, intereffen. Als Mittel zur indirekten Besteuerung des lonsu miercndcn Volkes ist es übrigens wie kein anderes dazu anyc tan, die Last dcr Staatsausgalx!» für Militarismus und Marinis mus von den Schultern der Besitzenden auf die der Besitzlosen ab - zuwälzen. Denn der Schutzzoll versteht sich nicht ohne Jmperialis mus und Militarismus zu Wasser und zu Lande; die deutsche Regierung zwingt ja auch durch ihre provokatorisckie RüstungS Politik die englische zu immer kostspieligeren und tuahniinnigercii Schiffsbauten und Verstärkungen ihres Heeres. Um die Kosten der Rüsinngspolitik zu decken, hatte dcr libe - rale Schatzkanzler Lloyd George bekanntlich in dem Budget, deffen Ablehnung durch die Lordsfammcr die Ausschreibung der Wahlen veranlaßte, eine Besteuerung des Grundbesitzes borge sehen, die an sich nichts weniger als anmaßend war, aber nichts destowcniger von der Grundaristokratie mit furchtbarem Ent. rüstungsgeschrei ausgenommen wurde — man hat ja in Deutsch land bei der Erbschaftssteucrdcbatte gesehen, wie empfindlich die Herren Junker in diesem Punkte sind. Die Liberalen versuchten, danach den Wahlkampf gegen die politische Vertretung des Groß grundbesitzcs, die Lordskainmer, daS Oberhaus, zu fuhren. Aber cs wurde schon jedermann klar, daß es ihnen nicht gelingen würde, mit dieser Parole zum Siege zu gelangen, als die Kon - servativen mit der der schutzzöllnerischen Tarifreform heraus- rücktcn. Diese schlug ein, weil sie nicht nur rein politische, son dern viel unmittelbarere und wichtigere wirtschaftliche Intereffen berührte. Schon drei Wochen vor den Wahlen drehte sich der ganze Kampf zwischen Liberalen und Konservativen nur noch um die Frage: Freihandel oder Tarifreform? Schon die Berdrän flunfi dcr liberalen Wahlparole durch die Konservativen war ein konservativer Sieg. Denn daß cs den Konservativen gelingen würde, nicht nur die ländliche Bevölkerung, die bei einer Ver teuerunp der Lebensrnittel wenig zu verlieren und viel zu ge - winnen hat, sondern auch den größten Teil der städtischen Bour - geoisie nm die Fahne des Schutzzolles zu scharen, war von vorn herein klar. So war denn der vergangene Wahlkampf ein politischer Klassenkampf, wie man ibn seit Jahrzehnten in Großbritannien so heftig nicht mehr gesehen hat. Es waren einfach zwei ver - schiedene bürgerliche Jnteressentengruppen. die einander gegen- üverstandcn. Die Konservativen hatten hinter sich: die bauet lichen und städtischen Grundbesitzer, den reaktionären Teil dcs Kleinbürgertums, den Teil des Proletariats, ter sich von ihrer skrupellosen Demagogie hatte betören lassen, in der Schutzzoll Politik ein Mittel zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zu sehen, und jene Gruppen von industriellen und kommerziellen Inter - essenten, die direkt an der Sperrung de? inneren Marktes ober an den Lieferungen für Hccr und Marine intcrcffiert sind, wie die Metallfabrikanten und Schiffsbauer. Dem Liberalismus blieb der größte Teil der Kleinbourgcoisie und der Arbeiterschaft gc treu, die in dem Freihandel die Garantie ihrer Intereffen als Konsumenten erblickten, sowie jene Industriellen und Kaufleute, die — wie in der Textilindustrie und dem Exporthandel — an dem Bezug billiger Rohstoffe au» dem Ausland, an dem fried lichen Verhältnis zu den andern Ländern und an niedrigen Löhnen (unb darum an dem niedrigen Preis der Lebensmittel i in überwiegendem Maße interessiert sind. Der Ausgang dieser Wahlen bedeutet demnach vor allem einen Ruck der Bourgeoisie nach rechts, einen wichtigen Schritt, den die herrschenden Klaffen Englands in der Richtung zum Protektionismus und zum Imperialismus getan haben, also im Grunde nichts anderes, als eine der Verschärfung der wirtschaft lichen Klaffcngegensätze entsprechende Zuspitzung des politischen Gegensatzes zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat. Wie diescs sich bei diesen Wahlen verhalten hat und welche Lehren sich für ihn aus dem Schicksal der sozialistischen Kandidaten und Arbeiterparteiler ergeben, davon soll in einigen Tagen die Redc sein, nachdem man an der Hand der vollständigen Wahlergebnisse und namentlich der Stimmenzahlen ein genaues Bild der Lage bekommen haben wird. Politische Uebersicht. Aus dem Reichstage. Berlin, 1. Februar. Wie wir gestern schon voraussagten, so ist es heute gekom men bei der Abstimmung über die Berechtigung des unserm Ge- noffeu Lcdebour anläßlich der Janusck-aueriade am letzten Sonnabend erteilten Ordnungsrufes. Sozialdemokraten und Freisinnige, denen sich die Polen zugesellten, erklärten den mtt der Gcsctiäftsordnung des Reichstages nicht zu vereinbarenden Ordnungsruf für unberechtigt, die Konservativen mit dem anti semitischen Schwanz, Zentrum und Nationalliberale für berech - tigt durch ihre Abstimmung. Dadurch ist für diesmal die Fatali tät der Vizepräsidentenfrage behoben. Lange wird cS freilirti wohl kaum dauern, daß der ehemalige, als völlig unfähig bc fundene Leiter des Kolonialamts einen weiteren UnfähigteitS beweis als Leiter der Geschäfte des Reichstage» erbringt. Be - merkt mag nur noch werden, daß, wie allgemein privatim bei sichert wurde, die Nationalliberalen durch ihre Stellungnahme zu der gestellten Frage keineswegs sich mit dem passiven Ver halten de» zweiten Vizepräsidenten zu der frechen Provokation des Janusäiauers einverstanden erklären wollten. Darauf kommt es hier aber auch gar nicht an; die Tatsache bleibt be [28] (Nachdruck verboten.) „Soldaten sein schön!" Bilder aus Kaserne und Lazarett. Bon Karl Fischer. Seit diesem Tage war Bolter wie umgewandelt. Viel zu - gänglicher wurde er. Alle rodeten mit ihm, und zu allen wurde er zutraulicher. Tags daraus hatte ihn Unteroffizier Baumert auf die Seite genommen. „Nehmen Sie sich in acht vor den anderen Unteroffizieren," hatte er ihm zugeflüstert. „Werden Sie nicht leichtsinnigI" „Jawohl, Herr Unteroffizier. Ich danke Ihnen." „Wenn einer Ihnen etwas antun will, braucht er Sie bloß zu melden, dann liegen Sie drin!" „Ich werde mit meinen Reden m Zukunft vorsichtiger sein." Es hatte Volter gefreut, in Unteroffizier Baumert einen Freund der Mannjck)aft zu finden. Viel Verständnis wird er wohl für solche Ideen nicht haben, dachte er sich. Aber vielleicht hat die Strömung der Zeit auch in seinem entlegenen Winkel einige Wellen getrieben, die ihm den ersten Anstoß zum Denken gaben.... Satte sich Volter bisher immer im Hintergründe gehalten, so beteiligte ei sich jetzt an allen Gespräckfen unter den Gefreiten. Er fand stets die richtigsten Worte. ... Auch mit den Kranken seiner Station unterhielt er sich oft. Er fühlte eine versäumte Pflicht, die er nun nachholen wollte. In diesem Eifer verschwand sein Trübsinn, und eine große Er - leichterung kam über ihn. . Nach und nach lernten ihn alle gern haben, weil ihui nie etwas Nachteiliges nachaefagt werden konnte und weil er keinen Unterschied mit seinen Srameraben machte. Ohne daß sic cs merk - ten, standen alle, mit denen er umging, unter seinem Einfluß. Die Gefreiten in der Stube vermißten ihn bald, wenn er nicht in ihrer Mitte war. War er aber da, mußte er reden oder erzählen. Er tat es gern. Mochte das Gesprächsthema sein, wie «» wollte, er wußte es in seine Bahnen zu lenken. Bornemann als Wortführer verblaßte. Bornemann war selbst zufrieden mit dem Wechsel, und wo er konnte, sekundierte er Volker. Die freien Stunden wurden ausgesüllt. Bei dem ständigen, regsamen Gedankenaustausch verging die Zeit schnell, ohne beson - ders wahrgenomrnen zu werden. Bald war der warme Sommer da und mit ihm erwachte startet tvr Wunsch nach Freiheit und Erlösung vom Militärdienst. „Weißt Du's schon, Volter? Ein Zugang ist Heuke auf unsere Station gekommen, und zwar von Deiner Kompagnie." Voller war gerade von Krankenwache gekommen, als ihm Bornemann diese Neuigkeit mitteilte. „Wer ist es denn?" fragte er interessiert. „Sergeant Schneider!" „Ahl" „Was sagst Du nun?" „Der?" Voller fielen alle die Widerwärtigkeiten vom vorigen Jahre ein. „Nicht wahr. Du bist überrascht? Den Bruder kenne ich näm - lich auch. — DaS ganze Bataillon kennt ihn! Verschickienc Kollegen aus Deiner Kompagnie haben mir von ihm erzählt, daß er einer der Windigsten fein soll. Er soll schon viele ins Lotti gebracht haben. Nun ist er krank und auf unserer Station. Da könntest Du's ihm eigentlich beibringen." „Was wird der wohl für ein Gesicht machen, wenn er mich wiedersieht?" dachte Voller. „Vom ersten Tage an hat er mich mit Haß verfolgt und mir dock» nichts anhaben können, weil ich stets bemüht war, meine Pflicht zu erfüllen. Und nun ist er bei mir auf Station." „Was fehlt ihm denn?" fragte er Bornemann. „Kollegs damit ist eö bei ihm bös! Der hat sich bei irgend Einer was Schönes geholt." „Das auch nocki," dachte Volter. „Wie wird ihm wohl zumute sein?" „Unteroffizier Baumert ist zum Mittagessen gegangen. Er bat mir befohlen, Dir zu sagen, daß Du von den Zugängen den Krankheitsbericht aufnehtnen sollst. Da kannst Du dem Sergeanten gleich mal zeigen, daß er hier seinen großen Schnabel zu halten hat." Voller war neugierig, den Sergeanten zu sehen. Die Neugier war bei ihm mit feiner niedrigen Absicht verbunden. Aber es interessierte ihn, zu erfahren, wie auf den von allen gehaßten Sergeanten der unerwartete Schicksalsschlag gewirkt hatte. schnell holte er sein Mitlageffen aus der Lazaretlküchc. r'ic andern Gefreiten hatten schon gegessen, saßen auf ihren Schemeln und unterhielten sich. Auf den Stationen gab es nicht viel zu tun. Der allgemeine Dienst begann für sie erst wieder kurz vor bet Nachmiltaasvisite der Assistenzärzte. „Pröhl, hast Du Dir schon einmal vom Wentzel erzählen lassen, was er im Garten gesehen hat?" „ ,'a. Erst gestern hat er mir einen großen Vortrag gehalten." „Wer ist denn dieser Wentzel?" fragte Böhlickc Bornemann. „Kennst Du den nock; nicht? Mensch, daS ist eine Type! Das ist ein früherer Festungsgefangener, der geisteskrank toar, und nun noch im Lazarett herumbummelt, dis er entlassen wird." „Ach denl Den kenne ich ja auch!" rief Böhlickc. „Ich wußte bloß nicht, wie er heißt. Was erzählt er denn?" „Der klopft doch immer für den Oberinspektor die Teppiche aus. Auch steckt er oft in feiner Wohnung. Weiß der Teufel, was er da treibt. Also der erzählt ganz kalt, er hätte beobachtet, wie der alle Knabe, der Oberinspektor, mit dem Pfengslückchen des Brilleninspektors herumpoussiert." „Nanu," fiel Sonapp ein. Der Alte ist doch verheiratet!" „Mensch, Sonapp, Du bist aber nod> zu naiv. DaS ist doch ganz piepe!" „Aber wenn daS seine Frau sieht?" „Er wird's schon so machen, daß es seine Frau nicht sieht. Deshalb drücken sic sich auch in den versteckten Ecken deS Gartens herum. Hast Du sie noch nicht zusammen gesehen?" „Das schon. Aber wer denkt sich denn da gleich so was! Der alle Mann und das junge Mädchen! Die kann doch höchstens sechzehn Jahre all fein." — „Jetzt weiß ick auch," sagte Pröhl, „iveshald er uns ver - bietet, auf den Wall zu geben. Der will mit dem Gohr ungestört dort oben lustwandeln!" „Wentzel will sogar gesehen haben," fing Bornemann wieder an, „wie sie sich abgeknulscht haben." „Ist das möglich?" rief Böhlickc. „Der alte Krauter mit der —" „Wentzel erzählt noch ganz andere Geschichten. Fragt ihn nur mal." „Aber das kann der Inspektor doch gar nicht!" zweifelte Sonapp. „Denkt doch nur —* „Warum soll er cs denn nicht können? Bon den Aerzten sieht ihn keiner. Denn er gehl nur spazieren, wenn die nicht da sind. Und vor den Leichtkrankcn, die in den Garten dürfen, und vor uns nimmt er sich in acht. WaS könnten wir ihm auch schließlich anhaben? Wenn er schlecht gegen uns wäre! Aber zu und ist er ja die Liebenswürdigkeit selbst. Und der Kriecher, der Brillen- bengst, ihr Vater, ist vielleicht noch froh darüber. Der sagt viel - leicht nock»: Welche Ehre, Herr Rat! Das sieht dem Speichellecker gleich." „Na, den hast Du ja immer gern gehabt," höhnte sonapp. „Dabei wird das Pfengstückchen noch stolz! Seitdem sie sich bau dem alten Kerl rumwursteln laßt, trägt sie ihre blödsinnige Nase noch höher als sonst." „Vielleicht ist das gar nicht wahr!" sagte Böhlicke. „Wentzel Hal sicher wieder geschwindelt." „Was der sonst erzählt, mag vielleicht Schwindel fein, aber das glaube ich. Das macht ihm auch Spaß. Deshalb liegt ei immer auf der Lauer unb beobachtet ihn." Volter war beim Essen nur mit halbem Ohr dem Gespräw gefolgt. Er mußte immer an Sergeant Schneider denken. Nach - dem er mit feiner Mahlzeit fertig war, holte er sein Notizbuch aus feinem Spind und schickte sich an, auf Station zu gehen. „Nanu, Voller! Willst Du schon rauf?" rief ihm Borne- mann zu. „Will mir mal den Sergeanten Schneider ansehcnl" ant - wortete Voller. „Bring's ihm nur bei!" „Wir werden ja sehen!" rief er noch zurück, als er die Stube verließ. Voller tonnte ihn sofort wieder. Aber wie verändert sah er aus. Nichts mehr von dem herausfordernden zynischen Blick. Gedemiitigt und kleinlaut stand er an seinem Bett im blau gestreiften Kraukenrock. Potter mußte fast lächeln, wie er vor ihm stand und an sein Benehmen in der Kompagnie dachte. „Wann haben Sie sich angesteckt?" fragte er ibn dienstlich „Vor vierzehn Tagen." Polter sah ihm an, daß es ihm durchaus nicht angenehm war, gerade ihm Rede und Antwort zu stehen. Das hilft nun mal nichts, dacksie Poller. Du mußt schon in den sauren Apfel beißen. — Die Antworten notierte sich Botter in seinem Notizbuch. „Wo Ivar das?" fragte er weiter. „Müssen Sie da? alles wissen?" „Sonst würde ich nicht fragen. Das muß alles mit in den Krankenbericht. Wenn Sic genau angeben können, wer das Weib gewesen ist, wird nach ihr geforscht; und hat man sie gefunden, kommt sie vielleicht zwangsweise in ein Krankenhaus, wenn sie eine Prostituierte ist. Denn cs können sich doch noch mehr an stecken. — Wo war das also? Und wie heißt sie?" „DaS war — hier. Aber wie sie heißt — weiß ich nickn." „Haben Sie dafür gezahlt?" „Muffen Sie das — auch wissen?" jtagte er zögernd. „Jawohl." '.di habe sie nicht bezahlt." „sic können also nicht angeben, wer das Weib gewesen wat?" „Nein." „Was hat der Arzt gesagt, daß Ihnen fehlt?"