Nr.  112. 
Sonntag,  Veil  15.  Mai  1910. 
24.  Jahrgang. 
Hamburger  Echo. 
.  Das  »Hamburger  «cho»  «scheint  tüattch.  auSer  Montag«. 
«bounemeutSpreiS  (tntl.  „Die  Neue  Welt"  und  „Die  arbeitend«  Jugend")  durch  Die  Po» 
Mjogen  ohne  Bringegeld  monatlich  *  1,20,  vierteljährlich  *.  8,60;  durch  die  Nolporleure  wöchentlich  80  A 
M  ins  Haus.  Ein,.  Nr.  6  *.  Sonntags-Nummer  mit  «llustr.  Beilage  »Die  Neu«  Welt»  10  4. 
Nreuzbandsendungen  monatlich  *  2.70,  für  da»  Ausland  monatlich  *  8.60. 
Berantwortlicher  Redakteur.  «rnst  Nöpke  in  Hamburg. 
Redaktion:  ,  ««  Expedition: 
Fehiandftrah«  11,  L  Stock.  ■Vttniulttfl  <M)  Fehiandstratze  11.  Erdgeschoß. 
«n,eigen  die  sechsgespaltene  Petit,eil«  oder  deren  Raum  36  4.  Arbeltsiuarkt.  riertnietungS-  und 
Namilieuan,eigen  20  4.  Sluzeigen  Sluuahme  Fehlandstr.  11.  Erdgeschoß  ibie  5  Uhr  uachmtttagSi, 
in  den  Filialen  (bis  4  Nhr  nachm.j,  sowie  in  allen  Annoncen-Bureaux.  Platz-  u.  Datenvorschristen  ohne 
Verbindlichkeit.  Rekiamen  im  redaktionellen  Lell  werden  web«  gratis  noch  gegen  Entgelt  ausgenommen. 
Buchhandlung  und  Buchdruckerei-Konlor:  Fehlandstr.  11.  Erdgeschoß. 
(V4  St.  Paukt,  ohne  Amandastraße,  bei  Heinr.  Koenen,  Annenstr.  17.  Eimsbüttel,  Langenfelde  bei  Carl  Dreyer,  Fruchtallee  42.  Hoheluft,  Eppendorf,  titroh-Borstel  und  Winterhude  bei  Ernst  Großkopf,  Lehmweg  51.  Barm  deck,  Uhlenhorst  bei  Theodor 
Ist  tflhHT  Petereit,  Bachstr.  12.  Hohenfelde,  Borgfelde,  Hamm,  Horn,  Schiffbeik  und  «jllwärder  bei  Carl  Ortel,  Baustr.  2b.  Hammerbrook  bts  Ausschläger  Billdeich  bei  Rud.  Fuhrmann,  Schwabenstr.  33.  Rotenburgsort  und  BcSdei  bei  Th.  Reimer,  Lindleqstr.  8',. 
()  Ulllim*  Wilhelmsburg  bei  Carl  C  Tichl,  Meyerstr.  12,  1.  Et.  Eilbcck,  Wandsbcck,  Hittschenfelde  und  Lft-Barmbeik  bei  Franz  Krüger,  Kurze  Reihe  34.  Altona  bei  Friedr.  Ludwig.  Bürgerstr.  118.  Lttenscn,  Bahrenfcld  bei  Joh.  Heine,  Bahrenfelderstr.  12». 
Hierzu  drei  Beilagen  und  das  Illustrierte  Unter- 
haltuugsblatt  „Die  Nene  Welt". 
Des  Pfingstfestes  wegen  erscheint 
die  nächste  Nummer  des  „Hamburger 
Echo"  am  Mittwoch,  18.  Mai. 
Pfingsten. 
„Hinaus  In  den  Wald  am  h-llschimm«nden  Morgen! 
Da»  liebtet  die  Sinne  und  hebet  die  »ruft." 
St.  Frohme 
Pfingsten  gehört  dem  Walde.  Als  der  Zcharfmacher 
Winter  überwunden  und  die  schaffende  Natur  wieder  reichlich 
von  Licht  und  Wärme  durchflossen  war,  hat  sie  ihren  General -
streik  beendet  und  mit  saftigem  Grün  und  Blumen  und  Blüten 
die  Fluren  geschmückt.  Nun  aber  hat  sie  zu  dem  Niedlichen  das 
Erhabene  gesellt  und  die  Riesen  der  Vegetation  mit  wallender 
Pracht  umkleidet.  Zur  rechten  Zeit,  um  gegen  die  Zonnen- 
glut  das  schirmende  Laubdach  darzubielen  und  erquickende 
Kühle,  gewürzt  von  köstlichen  Düften,  zu  spenden. 
Und  welche  bunte  Wunderwelt  ergötzt  da  den  aufmerk -
samen  Beobachter  der  Kleinlebewesen,  die  sich  da  vergnügt 
tummeln,  ihren  Liebestrieb  sich  ausleben  lassen,  unbehelligt  von 
der  Littenpolizci,  und  freilich  auch  im  Existenzkampf  vom 
Recht  des  Stärkeren  skrupellos  Gebrauch  machend,  ungefähr 
wie  die  —  Menschen.  Aber  die  Menschen  haben  Geist  und 
führen  darum  den  Daseinskampf  unter  einander  teils  viel 
raffinierter  und  im  großen  Stil,  als  Klassenkampf,  der  sie 
zwingt,  den  individuellen  Kleinkampf  in  mancher  Hinsicht  ein -
zuschränken. 
Wie  die  Waldbäume  die  kleinen  Pflanzen  und  das  winzige 
Getier,  überragt  der  Mensch  durch  Geist,  Vernunft,  Kultur  die 
tierischen  Geschöpfe.  Aber  im  Existenzkampf  unter  einander 
stecken  sie  noch  in  der  Tierheil,  und  es  gibt  Philosophen  und 
Politiker,  die  aus  der  Darwinschen  Abstammungslehre  den 
Schluß  ziehen,  daß  das  Recht  des  Stärkeren  auch  für  die 
Menschenwelt  für  alle  Zeiten  seine  Gültigkeit  behält  und  der 
Existenzkamp  unter  den  Menschen  für  immer  weiter  tobt,  ob 
auch  in  wechselnden  Formen. 
Er  nennt's  Vernunft  und  braucht's  allein 
Nur  twrssicher  als  jede-  Tier  zu  sein" 
spottet  Mephisto.  Und  der  jüngst  verstorbene  Dichter  Liliencron 
sang  in  seinem  „Poggfred": 
„Ist  unser  Leben  eine  Rennbahn  nicht, 
Wo  jeder  jeden  sucht  zu  überholen? 
Und  wenn  der  Vordermann  den  Hals  sich  bricht, 
Wird  voller  Frohgcfühl  der  Nächste  johlen. 
Er  stürmt  mit  rücksichtsloser  Zuversicht 
Ans  Ziel,  erreicht's  mit  seinen  Siegersohlen; 
Erreicht  cs  nicht,  denn  eine  Nasenlänge 
Schlägt  ihn  sein  Hintermann  im  Hufgedränge." 
In  die  Lüfte  den  flügellosen  Leib  zu  erheben,  weite  Strecken 
in  hoher  Region  zielsicher  zurückzulegen,  mit  dem  Adler  um 
die  Wette  die  See  zu  überqueren  hat  der  Mensch  im  zwanzig -
sten  Jahrhundert  erreicht.  Aber  Mangel,  Not  und  Elend 
grinsen  noch  allenthalben  und  verdüstern  den  Lebenshorizont 
Tausender,  und  der  wüste  und  verwüstende  Kampf  um  Mein 
und  Dein  wütet  sort  und  fort. 
Hal  der  menschliche  Geist  keine  höhere  Funktion,  als  den 
Dienst  im  bellum  omnium  contra  omnes  (Kampf  aller 
gegen  alle),  durch  Vervielfältigung  und  Schärfung  der 
Waffen  und  des  Kampfes? 
Der  Bourgeois,  Philister,  Banause  glaubt  es  und  steht 
der  Ueberzeugung  des  Proletariats,  daß  des  Geistes  Kraft  und 
Macht  eine  Aera  allgemeiner  Wohlfahrt,  Freiheit  und  des 
Friedens  schaffen  wird,  mit  gleicher  Verständnis-  und  Jnlcr- 
esselosigkeit  gegenüber,  wie  so  lange  dem  glänzenden  Werke 
Zeppelins.  Wir  aber  haben  uns  erhoben  zu  den  Zinnen  und 
Gipfeln  der  sozialistischen  Wissenschast;  da  weitet  sich  der  Ge -
danke  und  überschaut  die  großen  Linien  des  historischen  Werde -
gangs.  Da  gewahrt  er  die  Mächte,  welche  in  der  Natur 
überhaupt,  mit  Einschluß  des  Menschen,  walten,  wie  die -
jenigen,  die  speziell  in  der  Menschengesellschaft  regieren.  Da 
erkennt  er  ihre  Unterschiede.  Da  erkennt  er,  wie  sich  die 
Klassen  bilden,  wie  ihre  Kämpfe  entstehen,  wie  ihr  Aufstieg 
und  Niedergang,  ihr  Blühen  und  Welken  sich  vollzieht.  Und 
da  edennt  er  auch,  daß  die  Klassenscheidung  und  die 
Klassenkämpfe  in  der  Menschenwelt  nur  vorüber -
gehende  Erscheinungen  sind,  und  die  Mission  des 
Proletariats,  die  klassenlose  Gesellschaft  herbei -
zuführen,  dauernde  Harmonie  und  allgemeine  Beglückung,  im 
Gegensatz  zum  Tierreich. 
Das  ist  die  Frucht  des  Geistes,  den  das  Menschengeschöpf 
vor  allen  Tieren  voraus  hat.  Aber  nicht  jenes  Geistes,  den  die 
Frommen  den  „Heiligen"  nennen  und  am  P  singst  fest 
feiern,  sondern  des  Geistes,  der  in  der  Materie  wurzelt,  aber 
mit  unbegrenzter  Triebkraft  stets  neue  Schößlinge  entfaltet 
und  emporwächst  zu  „zedergrünen  Höhen",  wie  irer  schwedische 
Dichter  singt,  die  unendlichen  verborgenen  Kräfte  der  Natur, 
der  Materie,  enthüllt  und  den  menschlichen  Zwecken  dienstbar 
macht  und  das  Reich  der  Kultur  immer  mehr  erweitert. 
Die  Kultur?  Nein,  die  ist  noch  nicht  geschaffen,  so -
lange  noch  die  ökonomische  Eris  (Streit)  unter  den  Menschen 
waltet.  Aber  auch  die  Kultur  wird  der  Geist  begründen.  Der 
Geist  des  Wissens,  der  Kraft  und  Solidarität  im  Proletariat 
wird  den  Klassenkampf  mitsamt  den  Klassen  aus  der  Welt 
schaffen  —  durch  Sen  Klassenkamps.  Dann  erst  wird  die 
Zivilisation  abgclöst  werden  von  der  Kultur  und  ihren  Riesen -
wuchs  ins  Unendliche  entfalten. 
Der  proletarisch-sozialistische  Klassenkampf  ist  die  agathe 
Eris,  der  heilsame  Kampf,  der  letzte  Kampf,  der  den  Kampf 
unter  den  Menschen  in  den  Orkus  versenkt  und  den  ewigen 
Frieden  in  der  Menschenwelt  heimisch  macht. 
Thronwechsel  und  versalsnngskrise  in  England. 
y.  London,  12.  Mai. 
Noch  vor  zehn  Jahren  hätte  ein  Ereignis,  wie  der  Tod  des 
englischen  Königs,  kaum  anders  denn  als  eine  Hofpersonalie  re -
gistriert  und  besprochen  werden  müssen.  In  dem  System  der 
parlamentarischen  Regierung  Englands  spielte  damals  die  kon -
stitutionelle  Monarchie  in  der  Wirklichkeit  eine  bloß  dekorative 
Rolle,  und  ein  Thronwechsel  hätte  kaum  andere  Bedeutung  ge -
habt,  als  daß  das  Kopsbild  des  Herrschers  aus  den  Briesmarken, 
Münzstücken  und  dergleichen  durch  ein  anderes  hätte  ersetzt  wer -
den  müssen;  darüber  hinaus  wäre  wohl  alles  beim  alten  geblieben. 
Jetzt  aber  ist  das  anders  geworden.  Tie  Monarchie  hat  im 
Laufe  der  letzten  Jahre  im  politischen  Leben  Englands,  und  zwar 
nicht  nur  in  der  äußeren,  sondern  auch  in  der  inneren  Politik,  so 
erheblich  an  selbständiger  Bedeutung  und  an  Einfluß  gewonnen, 
daß  ein  Thronwechsel  wie  der  jetzt  nach  dem  Tode  Eduards  VII. 
singetcetene  ein  politisches  Ereignis  ersten  Ranges  darjtellt. 
dessen  Konisquenzen  gar  nicht  zu  üoersehen  sind. 
Diese  Vermehrung  ihrer  Macht  hat  die  englische  Monarchie 
in  erster  Linie  den  Liberalen  zu  verdanken.  Es  bat  fett 
Jahren  keine  politische  Frage  von  Bedeutung  gegeben,  in  Ser  die 
Liberalen  nicht  bestrebt  gewesen  wären,  die  tatsächlichen  Be- 
sugnisse  und  die  Einflußsphäre  der  Monarchie  zu  erweitern, 
natürlich  in  der  Erwartung,  an  ihr  eine  um  so  festere  Stütze 
ihrer  Parteiherrschaft  und  der  Klassenherrschaft  der  Bourgeoisie 
überhaupt  zu  finden.  So  auch  wieder  in  der  jetzigen  Verfassungs -
krise,  in  der  die  liberale  Regierung  so  manövriert  bat,  daß  ihre 
einzige  Siegeshoffnung  im  Kampfe  gegen  das  Vetorecht  des 
Oberhauses  fortan  in  der  Intervention  der  Krone  beruht,  von 
der  sie  einen  geradezu  revolutionierenden  Eingriff  in  das  parla. 
mentarische  Regierungssystcm  erwartet.  Dieselben  liberalen 
Blätter,  die  noch  vor  drei  Monaten  die  Bitte  des  Kabinetts  um 
die  Intervention  des  Königs  als  eine  Verletzung  der  parlamenta -
rischen  Regierungsform  und  einen  verfassungswidrigen  Schritt 
verschrien  —  nachdem  es  sich  nämlich  herausgestellt  hatte,  daß 
der  Premierminister  Asquith  die  von  ihm  in  Aussicht  ge -
stellten  königlichen  Garantien  nicht  bekommen  konnte  —  geben 
nunmehr  offen  zu.  daß  es  in  der  Oberhausfrage  in  der  Praxis 
keinen  andern  Ausweg  mehr  gibt,  als  die  Wahl  zwischen  einem 
Kompromiß  mit  den  Konservativen  und  dem  Gang  zum  König. 
Zwar  heißt  es  jetzt  im  Gegensatz  zu  damals,  daß  die  Bitte  um 
die  königliche  Intervention  nichts  weniger  sein  würde,  als  eine 
Demütigung,  sondern  vielmehr  die  verfassungsmäßige  Ausübung 
des  Rechtes  des  Ministerkabinetts,  „dem  Könige  einen  Ratschlag 
zu  erteilen";  aber  es  liegt  Har  auf  der  Hand,  daß  ein  der -
artiger  Schritt  trotz  aller  verdlümender  Redensarten  beweisen 
würde,  daß  die  liberale  Regierung  zu  schwach  ist,  um  mit  dem 
Oberhause  fertig  zu  werden;  und  jedenfalls  würde  er  in  noch 
viel  größerem  Umfange  als  bisher  dazu  beitragen,  die  Macht  der 
Monarchie  auf  Kosten  des  Parlaments  $u  vermehren.  Es  ist 
nicht  überflüssig,  einen  Augenblick  bei  dieser  Feststellung  zu  ver -
weilen  und  auf  ihre  Konsequenzen  hinzuweisen,  um  zum  xten 
Male  die  Bodenlosigkeit  der  Illusion  derer  zu  illustrieren, 
die  von  der  Borwärtsentwicklung  der  bürgerlichen  Demokratie 
ein  allmähliches  „Hineinwachsen  in  den  Zukunflssraat"  erwarten 
und  die  geglaubt  haben  und  vielleicht  noch  glauben,  der  englische 
„Neuliberalismus"  mit  dem  „revolutionären"  Budget  und  dem 
„Kamps"  gegen  da§  Oberhaus  stelle  den  Anfang  einer  neuen, 
fortschrittlichen  Periode  in  der  Entwicklung  der  bürgerlichen 
Demokratie  dar.  Wir  vermögen  in  der  Stärkung  der  Monarchie 
keinen  Fortschritt  in  der  Richtung  zu  der  politischen  Demokratie 
zu  erblicken.  Im  Gegenteil,  wenn  man  sich  selbst  drastisch  vor 
Augen  führen  will,  in  welcher  Richtung  die  „Entwicklung"  der 
bürgerlichen  Demokratie  vor  sich  geht,  so  denke  man  nur  an  die 
Stellung  zurück,  die  die  Vorfahren  der  englischen  Liberalen  von 
heute  vor  zweieinhalb  Jahrzehnten  der  Monarchie  gegenüber 
einnahmen.  Damals  begründeten  sie  die  parlamentarische 
Regierungsform  der  bürgerlichen  Demokratie  dadurch,  daß  sie 
den  König  aus  dem  Wege  räumten,  indem  sie  ihn  einfach  um 
einen  Kopf  kürzer  machten.  Jetzt  beweisen  sie  ihren  Männerstolz 
vor  Fürstenthronen  dadurch,  daß  sie  vor  dem  König  auf  dem 
Bauch  rutschen  und  von  ihm  als  eine  Gnade  die  Maßregel  gegen 
die  Lordskammer  erflehen,  die  sie  selber  durch  die  Ver -
weigerung  des  Etats  sich  zu  erobern  zu  feig  waren.  Ein 
netter  Fortschritt  in  der  TatI  Aber  der  Dämmerfchein,  in  dem 
die  Gläubigen  der  neuen  Aera  des  Liberalismus  die  „revolutio -
nären"  Taten  der  Asquithregierung  sehen,  nimmt  sich  doch  eher 
als  die  melancholische  Abenddämmerung  einer  Verfallperiode, 
denn  als  der  Sonnenaufgang  einer  neuen,  „glorreichen 
Revolution"  aus. 
Es  wird  nachgerade  eintönig,  wenn  man  immer  und  immer 
wieder  dasselbe  betonen  muß.  Aber  es  ist  von  Wichtigkeit,  daß 
der  Arbeiterschaft  auch  außerhalb  Englands  über  das,  was 
man  von  dem  englischen  „Neuliberalismus"  zu  halten  hat, 
klarer  Wein  eingeschenkt  wird.  Tenn  der  Liberalismus  Hal  in 
England  denn  doch  noch  eine  glorreichere  Tradition  und  eine 
größere  Macht  hinter  sich,  als  in  kontinentalen  Ländern,  wie 
etwa  in  Deutschland,  so  daß  sogar  noch  ein  erheblicher  Teil  der 
englischen  Arbeiterklasie  an  die  Möglichkeit  glaubt  —  und  sich 
nur  deswegen  noch  bow  Sozialismus  fernhält  —  durch  die 
Weiterentwicklung  des  Liberalismus  und  der  demokratischen 
Einrichtungen  des  bürgerlichen  Staates  ihr  Ziel  der  proleta -
rischen  Emanzipation  stufenweise  erreichen  zu  können.  Also: 
Wenn  d  a  s  am  grünen  Holze  des  Musrerlandes  der  Demokratie, 
England,  passiert,  was  können  denn  da  noch  die  dürren  Stecken 
des  kontinentalen  Liberalismus  und  Parlamentarismus  für 
Früchte  tragen? 
Nun  ist  es  nicht  einmal  sicher,  daß  die  liberale  Regierung 
den  Mut  zum  Appell  an  die  Krone  finden  roirb,  jonbern  es  ist 
gar  nicht  ausgeschlossen,  baß  sie  sich,  um  biesen  Schritt  zu  ver -
meiden,  auf  ein  Kompromiß  mit  den  Konservativen 
einläßt.  Tie  Gerüchte  über  Verhandlungen  zu  diesem  Zwecke 
werden  mit  jedem  Tage  stärker  und  Sie  Neubesetzung  des 
Thrones  Hal  die  Kräfte,  die  auf  diese  Losung  der  Verfassungs -
krise  hinarbeiten,  zweifellos  ganz  außerordentlich  gestärkt. 
Man  stelle  sich  nur  die  gegenwärtige  parlamentarische 
Situation  vor:  Tas  Unterhaus  bat  Resolutionen  angenommen, 
wodurch  das  Vetorecht  des  Oberhauses  beschränkt  wird.  Ter 
Premierminister  erklärte,  daß  er,  wenn  die  Lordskammer  diese 
Resolutionen  ablehnen  sollte,  an  die  Krone  appellieren  werde 
und  daß  er  «s  in  dem  Falle,  wo  der  König  dem  Rate  des 
Kabinetts  nicht  folgen  werde,  entweder  auf  die  Demission  des 
Ministeriums  oder  auf  eine  Parlamensauflösung  ankommen 
lassen  würbe.  Inzwischen  wurde  das  Budget  von  1909  10  Gesetz, 
so  daß  an  die  etwaige  Anwendung  der  finanziellen  Obstruktion 
gar  kein  Gedanke  mehr  ist.  Rach  den  Parlamentsferien  sollen 
itin  die  Vetoresolutionen  an  das  Oberhaus  gehen.  Es  ist  nur 
eine  Moglicbkeit  vorhanden,  sie  boeb  burchzubringen,  und  das 
wäre  das  Eingeben,  eines  Koinpromißabkommens  mit  den  Kon- 
ferbatiben.  Sonst  bleibt  eben  nur  der  Weg  zum  König  offen; 
der  König  könnte  dann  durch  die  Ernennung  einer  genügenden 
Anzahl  liberaler  Pairs  eine  liberale  Mehrheit  im  Oberhause 
zustande  bringen.  Aber  kein  Mensch  glaubt  im  Ernste  daran, 
daß  der  König  je  so  etwas  tun  werde.  Und  wenn  mit 
Eduard  VII.  noch  ein  hvinziger  Strahl  der  Hoffnung  da  sein 
konnte,  er  werde  sich  unter  Umständen  zu  einem  derartigen 
schritt  hergeben,  so  ist  das  anerkanntermaßen  mit  dem  neuen 
König  ganz  und  gar  und  auf  immerbar  ausgeschloyen.  Tenn 
nicht  nur  ist  Georg  V.  viel  konjsrvativer  gesinnt  unb  in  viel 
größerem  Maße  burch  Gemeinschaft  bet  Jnteresten  und  Sym -
pathien  mit  den  Lords  verbunden  als  sein  Vater,  sondern  es 
wäre  von  seinem  Standpunkt  aus,  als  neugebackener  Herrscher, 
im  höchsten  Grade  unklug,  wenn  er  sich  gleich  beim  Beginn 
seiner  Regierung  durch  einen  derartigen  Staatsstreich  der  libe -
ralen  Partei  zuliebe  parteipolitisch  kompromittieren  würde. 
Wenn  aber  der  König  dem  Premierminister  die  verlangten 
Garantien  verweigert,  so  kommt  cs  zu  Neuwahlen,  bet  denen 
diesmal  nicht  mehr  das  Oberhaus,  sondern  die  Krone  selber  im 
Vordergrund  sieben  würde.  Und  die  Liberalen  wissen  ganz 
genau,  daß  ein  Wahlkampf  gegen  die  Krone  für  sie  mit  einem 
politischen  Massenselbstmord  gleichbedeutend  wäre.  Es  kommt 
noch  hinzu,  daß  schon  gegen  die  baldige  Parlamentsauflösung 
an  sich  eine  starke  Abneigung  besteht;  konnte  doch  ein  Witzbold 
sagen,  daß  eS  nicht  weniger  als  670  treffliche  Gründe  gegen 
eine  Auflösung  gebe,  nämlich  genau  so  viel,  als  es  Abgeordnete 
gibt,  und  auf  der  ministeriellen  Seite  sind  diese  Gründe  sicher -
lich  noch  viel  trefflicher  als  auf  den  Bänken  der  Opposition. 
Es  bliebe  freilich  noch  eine  andere  Möglichkeit,  das  wäre 
die  Zuflucht  zum  Referendum.  Sowohl  der  Premierminister 
Asquith  wie  der  Führer  der  Konservativen.  Balfour, 
haben  diese  Möglichkeit  vorsichtigerweise  offen  gelassen,  und  jeden -
falls  nichts  gegen  das  Prinzip  der  Urabstimmung  der  Wähler 
über  Verfaffungsfragcn  eingewendet.  Aber  es  ist  scbr  unwahr -
scheinlich,  daß  es  je  zur  Anwendung  dieses  Prinzips  kommen 
könnte,  und  zwar  nicht  bloß  der  damit  verbundenen  verfasfungs- 
rechtlickcn  Schwierigkeiten  wegen,  sondern  vor  allem,  weil  damit 
der  Arbeiterpartei  und  dem  Sozialismus  ein  gewaltiger  Trumpf 
in  die  Hände  gespielt  werden  würde.  Tas  wäre  in  der  Tat  ein 
sehr  bedenklicher  Präzedenzfall;  denn  es  ist  leicht  einzusehen,  daß 
die  Einführung  des  Referendums  mit  dem  liberal-konservativ'. 
System  der  Parieischaukel  aufräumen  würde,  wodurch  jetzt  nc 
die  Masse  der  engjischen  Arbeiter  an  der  Leine  gehalten  wird; 
es  ist  für  die  bürgerlichen  Parteien  viel  gefährlicher,  die  Arbeiter- 
wähler  über  eine  bestimmte  Maßregel,  etwa  ein  Achtstundentag- 
gesetz  oder  ein  Arbeitslosenversicherungssystern,  abstimmen  zu 
lassen,  als  die  „Verwirklichung"  derartiger  Refortnen  dem  ver- 
wickelteren  und  vorsichtigeren  parlamentarischen  Räderwerk  zu 
überlassen.  Und  außerdem  wollen  die  irischen  Nationalisten  nichts 
vom  Referendum  hören,  da  es  für  sie  viel  schwerer  wäre,  ihre 
Autonomieforderungen  durch  eine  Urabstimmung,  als  etwa  durch 
parlamentarische  Pressionsmittel  durchzusetzen;  und  die  Iren  sind 
jetzt  die  Herren  die  Situation,  ohne  die  die  Regierung  nichts 
werden  kann. 
Tas  sind  die  unmittelbaren  Möglichkeiten  der  jetzigen  politi -
schen  Situation.  Man  wird  vielleicht  erst  in  drei  oder  vier 
Wochen  sagen  können,  welche  von  ihnen  Wirklichkeit  werden  soll. 
Zurzeit  ist  die  Stimmung  entschieden  dem  Kompromiß,  d.  h.  der 
Kapitulation  der  Liberalen  vor  den  Konservativen  günstig,  um 
so  mehr,  als  die  durch  den  Tod  Eduards  VII.  berborgerufene  und 
von  den  herrschenden  Klaffen  mit  anerkennenswerter  Virtuosität 
„erzeugte"  nationale  Trauer,  zugleich  mit  den  Loyalitätskund -
gebungen  für  den  neuen  König,  eine  Stimmung  geschaffen  Hai. 
die  für  eine  erneute  Annäherung  der  antagonistischen  bürget» 
lichenParteien  unter  dem  sentimentalenTeckmantcl  desPatriotis- 
mus  und  der  monarchischen  Gesinnung  sehr  vorteilhaft  wäre.  Es 
kann  sich  aber  jedenfalls  im  Grunde  um  nicht  viel  anders  handeln, 
als  darum,  welche  Form  die  neueste  Selbsterniedrigung  des 
Liberalismus  annehmen  wird  —  ob  die  Kapitulation  bot  den 
Konservativen  ober  die  Demütigung  bot  dem  Königsthrone. 
Politische  Uebersicht. 
Ter  Hausabund  wird  weiter  gerüffelt. 
Mit  feiner  Erklärung  zur  Wahlrechtsfrage  hat 
der  Hansabund  bei  den  industriellen  Scharfmachern  in  ein 
Wespennest  gegriffen.  Von  allen  Seiten  kommen  aus  be_m 
Scharfmacherlager  stimmen,  die  dem  Hansabund  unmiß- 
verständlick  klar  machen,  was  er  zu  tun  habe,  wenn  er  sich  die 
Freundschaft  der  Großindustriellen  erhalten  und  es  nicht  ganz 
mit  ihnen  verderben  will.  Der  „Köln.  Ztg."  und  den  „Berl. 
Pol.  Nacht.",  die  wir  gestern  zitierten,  schließt  sich  die  Berliner 
„Post"  in  noch  unzweideutigerer  Weise  an.  Vor  allem  wendet 
sie  sich  scharf  gegen  die  vom  Hansabund  erhobene  Forderung 
einer  Neueinteilung  der  Wahlkreise.  Wenn  sich 
diese  Neueinteilung  so  einrichten  liehe,  daß  die  Industriellen 
allein  oder  doch  hauptsächlich  den  Vorteil  davon  hätten,  so 
würden  sie  sich  eine  solche  gern  gefallen  lassen.  Dieses  Kunststück 
fertig  zu  bringen,  würde  aber  wohl  selbst  die  abgefeimteste 
Wahlkreisgeometrie  nicht  fertig  bringen,  wenn  man  sich  nicht 
offen  zu  dem  Zweck  bekennen  will.  Tas  will  man  natürlich 
nickst,  da  reaktionäre  Politik  nicht  ohne  eine  gute  Portion 
poIitischer  Heuchelei  bestehen  kann.  Und  darum  wollen 
die  Jndustriekönige  an  der  bisherigen  Wahlkreiseinteilung  nicht 
rütteln  lasiern  2te  „Post"  sagt  darüber: 
„Sollte  diese  Auffaffung  der  Forderung  einer  Wahlkreis- 
einteilung  von  der  Leitung  des  Hansabundes  gebilligt  werden, 
so  müsien  wir  heute,  bei  aller  Anerkennung  des  Eintretens  deS 
Hansabundes  für  die  Industrie,  bekennen,  daß  wir  von  der 
jetzigen  Wah  1kret§etntei  I  ung  unter  keinen 
Umständen  abgehen  können,  es  sei  denn,  daß  wirk -
same  Garantien  gegen  ein  weiteres  Ein -
dringen  der  Sozialdemokratie  in  das  Abgeord -
netenhaus  geschaffen  werden,  was  ja  auch  nur  im  Interesse 
der  vom  Hansabund  vertretenen  Kreise  ItegL_  Eine  Aende -
rung  der  Wahlkreiseinteilung  in  diesem  Sinne  würde  auch 
nicht  dem  im  Hansabund  ft'ark  vertretenen  Libe -
ralismus,  sondern  ganz  einseitig  der  Sozialdemo -
kratie  zugute  kommen,  sie  würde  in  ihren  Folgen  der  Indu -
strie,  dem  Handel  und  dem  Handwerk  erheblich  schaden,  ebne  den 
Angestellten  irgendwie  zu  nützen.  Wir  müssen  deshalb  alle 
Forderungen  des  Hansabundes  nach  einer  Aenderung  der 
Wahlkreiseinteilung  in  linksliberalem  sinne  ad -
le  h  n  e  n  und  ihn  daran  erinnern,  daß  er  mit  der  Ver -
tretung  einer  solchen  Forderung  d  i  e  si  ch  s  e  l  b  st  bei  seiner 
Gründung  gezogenen  Richtlinien  überschrei- 
t  en  würde." 
Tann  erinnert  das  Scharsmacherblatt  den  Hansabund 
daran,  daß  die  Großindustriellen  schon  im  Sommer  t.  I.  ihm  die 
Wege  vorgeschrieben  habe,  die  er  zu  gehen  habe: 
„Als  der  „Zentralverband  deutscher  Indu -
strieller"  in  seinem  Zirkular  vom  3.  Juli  1909  zum  Ein -
tritt  in  den  Hansabund  aufforderte,  geschah  das  unter  ganz 
bestimmten,  klar  formulierten  Voraussetzungen.  Ta  hieß  es  in 
dem  Zirkular: 
„Tie  unzweifelhaft  vorhandenen  und  allen  Teilen  be -
wußten  Gegensätze  werden  die  Leiter  des  Bundes  zur 
h  ö  ch  st  e  n  Vorsicht  mahnen,  sie  werden  Veranlassung 
geben,  alles  daran  zu  setzen,  daß  die  trennenden  Momente 
ausgeschaltet  bleiben,  die  Wirksamkeit  des  Bundes  also  be -
schränkt  wird  auf  die  Erörterung  der  vielen  großen  Fragen, 
die  alle  Teile  des  Bundes  gleichmäßig  berühren." 
Auch  so  hervorragende  Vertreter  der  Industrie  wie  Geheim -
rat  Funke  und  Geheimrat  Kirdorf  haben  bei  der  Gründung 
der  ersten  Bezirksgruppe  des  Hansabundes  im  Ruhrrcvier  in 
Essen  sich  in  diesem  Sinne  und  in  gar  nicht  mißzuberstebender 
Weise  ausgedrückt.  So  erklärte  besonders  Geheimrat  Kirdorf: 
|3S]  (Nachdruck  verdaten.) 
Das  Daus  Michael  Senn. 
Ein  Ciroler  Koman  von  Rudolf  Sreinr. 
Tie  Mathilde  saß  wie  immer  in  der  großen  Stube  unb 
stickte.  Unermüdlich  und  unbeweglich.  Als  wären  ihre  Schwester 
unb  der  Franz  Senn  gar  nicht  im  Zimmer.  Allein  hatten  sich 
die  beiden  fett  damals  an  der  Bahre  der  alten  Bergrätin 
nicht  mehr  gesprochen.  Und  das  war  nun  schon  bald  drei  Jähre 
her. 
Die  Lina  wußte  von  den  Besuchen  ihres  Mannes  bci_  den 
Angerer  Mädeln.  So  was  spricht  sich  in  einer  kleinen  siadt 
rasch  herum.  Man  konnte  iticht  sagen,  daß  Fvau  Lina  Senn 
deswegen  eifersüchtig  war.  Sie  hatte  ja  für  ihren  Mann  nie 
eine  echte  Liebe  empfunden.  Der  Verkehr  deS  Franz  bei  den 
Töchtern  der  Bergrätin  verursachte  ihr  aber  trotzdem  wilde 
rualen.  Es  war  die  Wut,  daß  ihr  Mann  immer  mehr  ihrem 
Cinfluis  entrann,  daß  er  anderöwo  eine  Zuflucht  gefunden  batte. 
Dabei  beherrschte  sie  aber  auch  oft  eine  lähmende  Angst,  die 
alte  Liebe  zwischen  Franz  und  Agnes  könnte  wieder  aufflammcn 
und  ihre  Rolle  könnte  bann  zu  Ende  gespielt  sein.  Sic  fürchtete 
bie  Macht  der  andern  als  etwas  Stilles,  llngrcifbareS,  an  da« 
sie  nicht  heran  konnte. 
Wegen  seiner  Besuche  bei  den  Angerer  Madeln  hatte  sic 
ihrem  Mann  schon  wiederholt  Szenen  gemacht.  Aber  der  Franz 
ließ  sie  reden.  „Du  gehst  Deiner  Wege  unb  ich  bie  meinen  1 
batte  er  gesagt.  Energisch  und  kühl  unb  ohne  in  Zorn  zu  ge -
nasen.  —  _  . 
Der  Sagstetter  LoiSl  hatte  der  Lina  burch  ihren  Bruder 
Toni  mitteilen  lassen,  sie  möge  beut’  unbedingt  nodh  gu  ihm 
kommen.  Der  Dominikus  Schluderbacher,  ein  berüchtigter 
Innsbrucker  Wucherer,  dem  der  LoiSl  seit  Jahren  als  eifriger 
Agent  Kunden  zutrieb,  wolle  nicht  mehr  länger  warten  und  nun 
endlich  einmal  sein  Geld  Wiedersehen. 
Den  schluderbachcr  hatte  der  Sagstetter  LoiSl  auch  der 
Frau  Lina  Senn  als  Geldgeber  versorgt.  Deswegen  war  die 
Sina  heute  so  aufgeregt  zu-ihrer  Mutter  geeilt  und  hatte  sich  so 
bezweifelt  gebärdet.  Die  alte  Raffetnerin  wen  auch  ganz  aus -
einander  gekommen.  So  eine  Bescherung!  Das  konnte  eine 
liebe  G’schicht'  abgeben,  wenn  der  Franz  um  die  ganze  Sache 
ersichrl 
Mutter  und  Tochter  fürchteten  sich  jetzt  vor  dem  Franz, 
seitdem  er  sich  Lina  gegenüber  ruhig  und  gleichgültig  verhielt. 
Tie  Lina  wußte  cs,  der  Franz  liebte  sie  nicht  mehr,  ja  war  nicht 
einmal  vorübergehend  in  sic  verliebt.  Diese  Zeiten  waren  vor -
bei.  Er  fühlte  nichts  mehr  für  sie.  Vollkommen  gleichgültig 
war  sie  ihm  geworden.  Höchstens  empfand  er  sie  noch  als  eine 
Last  und  Bürde,  die  er  vor  her  Oesfentlichkeit  tragen  mußte, 
weil  sie  eben  doch  feine  rechtmäßige  Frau  war.  Sie  morste  es 
aus  dem  Ton,  in  dem  er  mit  ihr  sprach,  und  sah  eS  aus  jedem 
Blick,  wenn  er  sie  überhaupt  einmal  anschaute. 
Franz  Senn  ließ  seine  Frau  vollständig  ihre  eigenen  Wege 
gehen.  Wenn  sie  droben  im  ersten  Stock  ihre  Einladungen  gab, 
dann  sperrte  er  sich  drunten  in  sein  kleines,  ödes  Kontor  mit 
den  weihgetünchten  Wänden  und  arbeitete  ober  las.  Solange, 
bis  es  droben  wieder  ruhig  war  und  die  letzten  Gäste  sich  ent -
fernt  hatten. 
Den  Gästen  feiner  Frau  zeigte  er  sich  nie.  Die  waren  das 
schon  gewöhnt.  Man  wußte,,  daß  Franz  Senn  ein  Sonderling 
war,  ein  Mensch,  der  gegen  seine  reizende  Frau  brutal  werden 
konnte.  Und  man  bedauerte  allgemein  die  arme  Frau,  bie  zeit -
lebens  an  diesen  rohen  Menschen  gefettet  war,  der  ihr  nicht  das 
geringste  Verständnis  cntgegenbrachte.  — 
Die  Raffeinerin  hantierte  aufgeregt  in  ihrer  Wohnung 
herum.  Es  mar  noch  die  gleiche  Wohnung  in  der  Runggadgasse, 
aus  der  Franz  seine  Braut  geholt  hatte. 
Um  sechs  Ubr  Abends,  trenn  es  schon  ganz  dunkel  war, 
wollte  die  Raffeinerin  mit  der  Lina  hinaufgeben  in«  Lädele 
zur  Monika  Gamperle.  verehelichten  Sagstetter.  Die  Lina 
zeigte  sich  bei  Tag  mit  ihrer  Mutter  nicht  gern  öffentlich.  Sic 
wollte  die  Brixuer  nicht  immer  wieder  an  ihre  Abstammung  er -
innern. 
Es  war  mitten  im  Winter.  Ein  zumeist  schneefreier  Winter 
an  der  Pforte  des  Südens.  Tie  Berge  bis  tief  herab  weiß  ver -
schneit.  Im  lal  war  kein  Schnee  liegen  geblieben.  Seit  einigen 
Tagen  zeigte  sich  infolge  der  trockenen  Witterung  sogar  beträcht -
licher  Staub  auf  den  Straßen. 
Trotzdem  konnte  es  empfindlich  kalt  sein.  Jene  scharfe, 
trockene  Kälte,  die  bis  auf  die  Knochen  geht.  Dafür  sorgte  schon 
der  eisige  Pusterer  Wind,  der  in  den  Brixuer  Talkessel  fegte. 
In  den  engen  Gaffen  der  Stabt  unb  namentlich  unter  den 
Lauben  herrschte  eine  dumpfe,  falte  Mellerluft. 
Die  Raffeinerin  setzte  sich  umständlich  ihren  dunkeln  Hut 
auf  und  zog  dar-  marine,  schöne  Jacket  an,  das  sie  im  vorigen 
Jahr  von  der  Lina  erhalten  hatte.  Die  Lina  war  gekommen. 
ihre  Mutter  abzuholen,  sie  wolltest  dann  beide  gemeinsam  zu 
dein  Sagstetter  Lois!  geben  unb  sehen,  wie  die  Sachen  eigent -
lich  standen.  In  Begleitung  der  Mutter  fühlte  sich  die  Lina 
bedeutend  sicherer  und  kühner  dem  Loisl  gegenüber. 
Jetzt  stand  die  Lina  mitten  in  der  niedern  Wohnstube  bei 
Rasseiners  und  schaute  der  Mutter  nervös  zu,  wie  diese  um -
ständlich  Toilette  machte.  Frau  Lina  Senn  war  wie  immer 
sehr  elegant  gekleidet.  Sie  trug  einen  warmen,  teuern  Pelz. 
In  der  Ecke,  wo  damals  der  große  Tisch  itand,  auf  dem  die 
Verlobungstafel  gedeckt  war,  saß  der  Änderte  und  schaute  mit 
frechen,  verächtlichen  Blicken  auf  die  noble  Schwester.  Ter  An- 
Serie  war  Gymnasiast  im  siebten  Kurs.  Er  sollte  jetzt  gerade 
bei  dem  spärlichen  Schein  der  kleinen  Petroleumlampe  für 
morgen  früh  ein  Kapitel  aus  Demosthenes  präparieren,  statt 
denen  stützte  erjüb  frech  mit  beiden  Ellbogen  auf  den  Tisch  unb 
glotzte  zu  bet  Schwester  hinüber.  t 
Die  Lina  fühlte  sich  immer  äußerst  unbehaglich  in  bem 
Heim  ihrer  Eltern.  Die  bloße  Lust  baheitn  verschlug  ihr  den 
Atem  und  war  ihr  unerträglich. 
„Tu  brauchst  nit  a  so  a  hochmütig  s  G’sicht  z’machen!" 
rief  der  Atiderle  nun  zu  seiner  Schwester  herüber.  „Tu  bist  a 
nix  besseres  g’wöhnt  g’wesen  wie  wir!" 
Der  Anderle  war  ein  hoch  aufgeschossener  Junge  und  sollte 
im  nächsten  Jahr  die  Matura  machen.  Die  Raffeinerin  war 
stolz  auf  ibn.  Fast  so  stolz  wie  auf  Lina.  Einen  „G  stu -
dierten"  hatte  sie  noch  nicht  unter  ihren  Kindern.  Aber  der 
Anderle,  der  sollte  auch  einmal  ein  geistlicher  Herr  werden. 
Das  hatte  sie  dem  hochwürdigen  Herrn  Kooperator  Tobias 
Wieser  schon  iviederholt  erklärt.  Ter  Änderte  Ivar  ein  freches 
Früchtl  geworden,  aber  ein  aufgeweckter  Bursch,  der  einen 
Hellen  Kopf  hatte  unb  ganz  gut  studierte,  weil  er  sich  nicht  schwer 
damit  tat. 
Frau  Katharina  Rafseiner  hielt  große  Stücke  auf  ihren 
Jüngsten.  AVer  wenn  er  mit  der  Lina  impertinent  wurde,  dann 
sonnte  sie  mit  ihm  grob  fein.  Tenn  bie  Lina  sorgte  brav  für 
ihre  Familie.  Das  mußte  man  ihr  lassen,  so  oft  bie  Mutter 
i'iclb  brauchte,  gab  sie  ihr  es  ohne  Murren.  Alle  Kleider,  bie 
sie  selbst  nicht  mehr  anziehen  mochte,  durste  die  Mutter  nach 
Hause  schleppen.  Die  Sina  war  ein  wirklicher  Segen  für  bie 
Familie  Rafseiner  geworben.  Die  Raffeinerin  hatte  jetzt  nicht 
mehr  halb  so  viele  Sorgen  wie  früher.  Das  ging  der  Lina  ja 
in  einem.  Wenn  die  Mutter  Geld  brauchte,  so  mußte  man  eben 
mit  bem  Toni  ober  bem  Peter  reden.  Tie  gingen  bann  schon 
zum  Sagstetter  Loisl  und  verschafften  die  nötige  Summe. 
Die  beiden  älteren  Brüder  waren  noch  immer  die  Tagdiebe 
wie  früher.  Jetzt,  da  ihre  Schwester  eine  so  gute  Partie  gemacht 
hatte,  brauchten  sie  sich  doch  nicht  mehr  zu  rackern!  Tie  sollte  nur 
sorgen  für  sie,  bie  Frau  Schwester!  Umsonst  taten  sie  ihr  keinen 
Gefallen,  sie  ließen  sich  tüchtig  bezahlen  von  ihr. 
Ter  Anderle  erhielt  von  der  Mutter  eine  kräftige  Abfuhr. 
„Halt’  Tei’  Maul!"  schrie  die  Raffeinerin.  „Wo  bie  Lina  so  gut 
ist  mit  Dir!" 
„Dö  —"  Der  Anderle  lachte  höhnisch.  Er  hatte  feine 
Schwester  nie  leiben  mögen  unb  mochte  sie  noch  nicht.  „To  toll 
si  g’fcbeiter  um  ihr  Kind  bekümmern  unb  um  ihr’n  Mann!  ’S 
redet  eh’  schon  bie  ganze  Stabt  davon,  daß  der  alleweil  auir 
rennt  zu  die  Angerischen.  Er  mag  sie  halt  nimmer  die  Sina!" 
rief  er  triumphierend. 
„Tu  —  i  werd’  Dir  —"  leiste  bie  Mutter  und  kam  näher. 
„Lass’  ihn  reden,  Mutter!"  wehrte  bie  Lina  hochmütig  ab. 
„’s  iS  ja  gleich,  was  der  sagt.  Gehn  wir  g’scheiter!" 
„I  reb'  lei,  was  die  Seus  sag ’n!"  sehne  der  Anderle  den 
beiden  Frauen  noch  nach.  „Dö  sag’»,  es  g’schicht  Dir  recht,  das 
mit  der  Agnes.  Tu  hast  den  Franz  nur  cing’fangen  und  iatz 
wird  er  Di  bald  davonjag’n!" 
Dröhnend  fiel  draußen  bie  Haustür  zu.  Die  Lina  hatte 
sie  zornig  ins  Schloß  geworfen.  Das,  was  der  Andcrle  da. 
brinnen  ihr  schadenfroh  nachschric,  bas  war  ja  ihre  eigene  ; vurcht. 
Denn  ihr  Mann  babon  erfuhr,  wie  sie  hinter  Kinern  Rücken 
gewirtschaftet  batte,  bann  konnte  eS  zur  Katastrophe  führen. 
Der  Lina  klopfte  bas  .Herz.  Bis  zum  Hals  hinauf  spürte 
sie  es,  während  sie  jetzt  neben  ihrer  Mutter  durch  den  sternen- 
hellen  Winterabend  ging. 
-.'llö  bie  beiden  Frauen  droben  in  der  Stadtgaffe  angelangt 
waren  ging  die  Raffeinerin  allein  hinein  in  das  Ladele  der 
Monika  (Siamperle.  Sie  mußte  cs  zuerst  ausspionieren,  ob  wohl 
niemand  außer  dem  Loisl  und  der  Monika  im  Ladcle  sei. 
Sic  Lina  durste  man  nicht  sehen  drinnen  beim  Loisl. 
5g cll ü  bie  Schusterin  ober  bic  Pfaffstallerin  ober  gar  die  Zirn- 
hölb  Anna  dagcwescn  wären,  da  hätten  sich  die  den  wahren  Sach 
verhalt  sofort  zusammengereimt  unb  es  bann  in  der  ganzen 
Stabt  ausgesprengt. 
Daher  ging  die  Raffeinerin  vorerst  allein  hinein  unb  hieß 
die  Sina  in  einiger  Entfernung,  an  einer  Ecke  der  Lauben,  wo 
es  schön  bämmerig  war,  warten. 
Im  Ladcle  der  Monika  (Slauiperle,  verehelichten  Sagstetter, 
befand  sich  niemand,  außer  der  Monika  selber.  Die  stand  breit-