Nr. 149. Tmmerstag, den 29. Juni 1911. 2». Jahrganq Hamburger Echo. Dar „Hamburger (f-dio" erscheint täglich, außer Montags. Abonnementspreis (intl. ..Die Neue Welt - und „Tie arbeitende Jugend") durch die Post bezogen ohne Bringegeld monatlich * 1,20, vierteljährlich X 3,«0; durch die Kolporteure wöchentlich 30 4 frei ins HauS. Ein,. Nr. 6 4. Eonntagr.Nummer mit illustr. Beilage „Tie Neue Welt" 10 4 Kreuzbandsendungen monatlich x 2,70, für dar Ausland monatlich x. 3,50. Redaktion: «.„niUnra Qß Expeditio n: Fehlandstraß« 11, 1. Stock. iYllNlvnlg OO Fehlandstraße 11, Erdgeschoß. Verantwortlicher Redakteur: ®. Döring in Hamburg. Anzeigen die sechSgespaltene Petitzeile oder deren Raum 35 A, Arbeitsmarkt, Bermietunqs und Famillenanzeigen 20*. Anzeigen Annahme Fehlandstr. 11. Erdqeichoß (bis 5 Uh, nachmittags», in den Filialen, sowie in allen Annoncen, Bureaus. Play- und Talenvorschrisicn ohne -ßerbindllctieeit. 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Seit dem großen sogenannten S ch u l k r i e g von 1879 hat die belgische Politik noch nie in dem Maße im Zeichen des Kulturkampfes gestanden, wie gerade jetzt. Die klerikale Re - gierung selber hat diesen Kampf entfesselt, indem sie eine Vor - lage zur Reorganisation des Schulwesens einbrachte, die be - kanntlich unter dem Vorwand der Einführung des obligatori - schen Elementarunterrichts — allerdings nur „im Prinzip" und mit lediglich „moralischen" Sanktionen — eine neue skandalöse Begünstigung des Klosterunterrichts mit öffentlichen Geldern bezweckte. Die Vorlage rief unter dem nicht-klerikalen Teile der Bevölkerung eine große Erregung hervor und die beiden Oppositionsparteien, die Arbeiterpartei und die Liberalen, vereinigten sich zu einer Aktion des Wider - standes bis zum äußersten in- und außerhalb des Parlaments. Nach einigen Wochen führte diese Aktion bereits zum Erfolge. Der Führer des „altklerikalen" Flügels der Regierungspartei, Woeste, ließ die Regierung mit ihrer Vorlage im entscheiden - den Augenblick im Stich, und der junge König benutzte die ihm gebotene Gelegenheit, sich bei der Mehrheit der Bevölkerung populär zu machen, und entließ den Premierminister Schollaert, der die persönliche Verantwortung für die seinen Namen tragende Schulgesetznovelle trug, mitsamt ein paar seiner Kollegen. Ein neues Ministerium kam zustande, das freilich ebenso klerikal und ultramontan ist, wie das vorige, das jedoch vom König nur die Aufgabe zugewiesen bekam, die laufenden Geschäfte der Regierung bis zu den Neuwahlen im nächsten Jahre zu erledigen; die Schulgesetznovelle soll bis dahin nicht wieder auf der Bildfläche erscheinen. Von den näch st jährigen Neuwahlen erhoffen nun die antiklerikalen Oppositionsparteien den endgültigen Sturz der klerikalen Regierungsmajorität überhaupt, und zwar beson - ders deswegen, weil man eine allgemeine Neuwahl bei gleich - zeitig?! Vermehrung der Zahl der Abgeordnetenmandate er - wartet. Unter gewöhnlichen Umständen ist nämlich alle zwei Jahre nur die eine Hälfte der Mitglieder der Abgeordneten - kammer der Neuwahl unterworfen. Nun ist jedoch am 31. De - zember 1910 die Volkszählung in Belgien vorgenommen wor - den, und die Tradition will, daß nach jeder Volkszählung, also alle zehn Jahre, die Zahl der Abgeordneten pro Wahlkreis (in Belgien wäbU jeder Kreis mehrere Mgeordnete) entsprechend dem Zuwachs oct Bevölkerung vermehrt wird und daß die Abgeordnetenkammer aufgelöst und eine allgemeine Neuwahl zum Parlamente vorgenommen wird. Es scheint nun die Ab - sicht des Königs zu sein, auch im nächsten Jahre so zu ver - fahren und durch Auslösung des Parlaments eine Neuwahl mit einer erhöhten Anzahl der zu vergebenden Mandate her - beizuführen. Von einer solchen Neuwahl erwarten nun die Oppositionsparteien, und zwar schon aus einfach wahltechnischen Erwägungen heraus, die auch dann ihre Gültigkeit behalten würden, falls die Zahl der antiklerikalen Wähler in der Zwischenzeit nicht angewachsen sein sollte, die sichere Um - wandlung der klerikalen Mehrheit in der Abgeordnetenkammer, die jetzt noch acht Stimmen beträgt, in eine Minderheit. Die Aussicht auf eine solche Situation, bei der für die Liberalen und für die Arbeiterpartei die Möglichkeit gegeben wäre, zusammen zu regieren, hat nun die beiden antiklerikalen Oppositionsparteien dazu geführt, ihre Kräfte im höchsten Grade anzustrengen und zu vereinigen zu einem gemeinsamen Kampfe gegen die klerikale Regierung, der bis zu dem Augen - blicke ihres Sturzes andauern soll. Liberale und Sozialisten bilden fortan einen antiklerikalen Block nach allen Regeln der Kunst. Der parlamentarische Führer der Ar - beiterpartei, Genosse Vandervelde, erklärte es ganz offen in feiner Antwort auf die Programmrede des neuen Premier - ministers : „So lange die Drohung der Schulgesetznovelle nicht vom Horizont verschwunden ist — das heißt, bis zu der Parlamentsauflösung und bis zum Sturze der klerikalen Re - gierung überhaupt —, gibt es nur noch eine Linke!" Uüd in der Tat, es gibt nunmehr nur noch eine antiklerikale Fraktion im Parlament. Die liberale und die sozialistische Fraktion halten regelmäßig ihre Frakiionssitzungen gemein - sam ab, legen ihre Taktik gemeinsam fest, erlassen gemeinsam Kundgebungen und treten überhaupt in ihrer ganzen Tätigkeit als ein geschlossenes Ganzes auf. Und diese liberal-sozialistische Blockgemeinschaft beschränkt sich keineswegs aus die parlamentarische Tätigkeit, fortbcrn sie dehnt sich auch aus die Aktion im Lande und sogar zum Teil aus die O r g a n i s a t i o n s a r b e i t aus. Während der Kampagne gegen die Schulgesetznovelle hatte man schon be - deutend mehr gemischte (liberal-sozialistische) Versammlungen und Demonstrationen veranstaltet, als nur rein sozialistische oder rein liberale. Indessen wird diese Praxis auch jetzt noch, nachdem die Schulgesetznovelle von der politischen Bühne ver - schwunden, fortgesetzt und immer mehr verallgemeinert. Symp - tomatisch ist in dieser Hinsicht die Umwandlung des Charakters der für den 15. August vorbereiteten Wahlrechtsdemonstration der Arbeiterpartei. Seit mehreren Monaten schon hatte die Arbeiterpartei beschlossen, am 15. August dieses Jahres in den Straßen Brüssels eine große Demonstration zugunsten des allgemeinen, gleichen Wahlrechts vom 21. Jahre an zu ver - anstalten, an der die Arbeiterschaft des ganzen Landes soweit wie möglich teilnehmen soll. Die Demonstration sollte ge - wissermaßen die neue Kampagne der Arbeiter - partei für das gleiche Wahlrecht einleiten. Der Kampf gegen die Schulgesetznovelle hatte bann zur Folge, daß die Demonstration immer mehr gleichzeitig als Wahlrechts - und als Demonstration gegen das Schulgesetz hingestellt wurde. Nach dem Sturze des Ministeriums Schollaert faßte man sie wiederum im wesentlichen als Wahlrechtsdemonstration auf. Nun aber zeigte es sich in den letzten Wochen immer deutlicher, daß die Liberalen aus fast allen Teilen des Landes die Absicht haben, an der Demonstration teilzunehmen und sie in eine gemeinsame Veranstaltung der beiden Oppositionsparteien mit einem rein antiklerikalen Charakter umzuwandeln, und zwar obwohl ein sehr großer und einflußreicher Teil — darunter fast sämtliche Parteiführer — der liberalen Partei ausgesprochene Gegner des gleichen Wahlrechts sind und sich noch vor einigen Monaten durch ihre Abstimmung bei der Debatte über die Thronrede für die Beibehaltung des Mnimalalters von 25 Jahren und für eine gemilderte Form des Pluralwahlrechts aussprachen. Ferner wird es auch immer wahrscheinlicher, daß bei der nächstjährigen Parlamentswahl in allen ober so gut wie in allen Wahlkreisen Pic Arbeiterpartei und die Liberalen den Wahlkampf gemein^ Jam mit liberal-sozialistischen Kandidaten - listen führen »erben. Ein fester gefügter bürgerlich-proletarischer Block, eine größere Konfusion, eine vollftänbigere Verwischung des Klassencharakters der Politik der Arbeiterpartei ist wohl kaum denkbar und sogar für belgische Verhältnisse — obwohl man ja in diesem Musterlande des „praktischen Revisionismus" wahr - haftig an manches gewöhnt ist — außerordentlich. Die schlimmsten Folgen dieser Blockpolitik für die Arbeiterpartei werden indessen erst nach dem Sturze der klerikalen Regierung zu Tage treten. Es zeigt sich nämlich immer deutlicher, daß die reformistischen Führer der Arbeiterpartei, mit dem Ge - nossen Vandervelide an bet Spitze, die bestimmte Absicht haben, bann mit den Liberalen zusammen eine Regierungs - mehrheit unter einem Ministerium zu bilden, in das der Resolution des Internationalen Kongresses von Amsterdam zum Trotz auch mehrere S o z i a l i st e n eintreten sollen. Die Namen der sozialistischen Ministerkandidaten gehen bereits von Mund zu Mund — es sind dies in erster Linie die Genoffen Anseele, Bertrand und Vandervelde, der letztere sogar als Kolonialminister. Und in seiner schon erwähnten Antwort auf die Programmrede des Premierministers Baron de Broqueville formulierte Genoffe Vandervelde bereits mit geradezu offiziöser Ausführlichkeit und Genauigkeit das Programm dieser liberal-sozialistischen Blockregierung, dessen Hauptpunkte die gesetzliche Regelung der Kinderarbeit, Alters - pensionen, die Schulpflicht und das gleiche Wahlrecht sein „sollen". Indessen — ganz soweit sind wir in Belgien denn doch noch nicht. Die Arbeiterpartei selber hat — obwohl ihre mangelhafte organisatorische Verfaffung sie in den meisten Fällen dazu verurteilt, lediglich eine Art Maffenstaffage für Die diktatorische Tätigkeit der Parlamentsfraktion abzugeben — schließlich auch noch ein Wort darüber mitzureden, ob die anti - klerikale Blockpolitik in ihrem Namen bis zu diesen äußersten stonsequenzen durchgeführt werden soll und darf. Nun ist ja leioer keine Täuschung darüber möglich, daß bei der Schwäche — man tonnte fast sagen: bei der Abwesenheit — der poli - tischen Organisation des belgischen Proletariats, bei dem überaus niedrigen Grade seiner sozialistischen Durchbildung, bei der Schwierigkeit für die marxistische Opposition, ihre Stimme etwa durch die Preffe bis zu der Masse durchdringen zu laffen, bei der Macht der Suggestion, die auf die Tauer durch die gemeinsamen Versammlungen und Demonstrationen der Liberalen und Sozialisten auf die ungebildete Maffe aus - geübt wird, nur sehr geringe Hoffnung auf eine Umkehr in der Arbeiterpartei vor dem Anbruch der liberal-sozialisti - schen Regierungsherrlichkeit vorhanden ist. Das hindert frei - lich die marxistische Minderheit in der Arbeiterpartei nicht daran, schon jetzt mit all ihrer Macht auf diese Umkehr hinzu- arbeitem Zurzeit sind die Genoffen, die dieser Minderheit an - gehören, gerade damit beschäftigt, ein geschloffen eres und nach außen hin demonstrativeres Auftreten ihrer Tendenz zu or - ganisieren, damit es der belgischen Arbeiterschaft nicht ganz an Gegengift fehle gegen ihre Infektion mit vulgär-antikleri - kalen Anschauungen und bürgerlich-demokratischen Illusionen eines friedlichen Hineinwachsens in den Zukunftsstaat, unter betn wohlwollenden Auge einer gemeinsamen Regierung von Arbeiterführern und politischen Vertretern des Unternehmer- lums und der Großbourgeoisie. Politische Uebersicht. Die Wahlrechtsfrage im Dreiklaffenhans. Tie Verhandlung über den Wahlrechtsantrag im preußi - schen Dreiklaffenhause ist m ihrem Endeffekt so ausgelaufen, wie vorher erwartat werden konnte. Tie Reaktionäre aller Schattie - rungen wähnen noch so fest im (sattel zu sitzen, daß sie dem Verlangen nach Beseitigung der Dreiklaffenschmach trotzen zu können glauben. Einmal schon haben Konservative und Zentrum in holder Gemeinsamkeit eine „Wahlresorm" hin - tertrieben, die nicht einmal eine war, sondern nur das Trei- klaffenwahlreckt noch mehr zur Karikatur gemacht haben würde, lind am Dienstag haben audb die Nationalliberalen v-iug. Qrar.fjrs- pcn WahtrechtSantrag nochmals beiseite— zu schiebew denn daß er mit dieser Lerhanülwng begraben sein werde, werden kaum die Konseroatiben im Ernste annehmen. Daß trotz aller in ihren Nuancen verschiedenen ablehnenden Haltung der Parteien die Frage zu erneuter Behandlung zu - gelaffen werden mußte, daß alle Parteien ihre Stellung dazu präzisieren mußten, darin liegt die Anerkennung, daß die Wahl- rechtsfrage in Preußen eine nicht mehr zu ignorierende Bedeu - tung erlangt hat.