Nr. 143 ommbend, den 22. Juni 1912 26. Jahrgang LamburgerEcho \ 6it ♦ m i ^°» U k °^ ne ^aubastnchr, bei Franz Würzberger, Annenstr. 17. Vimsbiittel. KniMMkt bei Carl Tre:;er, Fruchtallee 42. boheliift, vvtieiivorl, «rost-Boritcl und Wintertzudr bet Ernst Sroßkopf, Meldorferstr. 8. Barmbeck, llDlciihorit bei heodltt f 1 || Hill || 4 ««<<'. Hertzstr. 145. bohciisclde, !L'ornielÜe, Hamm, Horn, Schistbeck und Blllwärver bei Earl Ortel, Baustr.26 Haiilmerbrool bis Ausschläger Billdeich bei Rud. Fuhrmann, Süderlaistr. 1 ft. Rotkiiburgsort und Veddel bei Th. Reimer, Lindlcystr.bä ^""»Sburg bei H. Rtöller, »chu-ilr. 13. Etlbeck, Wandsbeck, Hinicheufelde und Oft * Barmbeck bei Franz Krüger, kurze Reih« 34. Altona bei Friedr. Ludwig, Bükgerstr. 22. Ottensen, Bahrcnseld bei Job Heine, Bahrenfelderstr. 129. "scheint tSgllch, oufitt Montag». ML ;“'!ä'ä”Wä « Titi ins ©aus. «in». 9k. 6 *. Sonnlagd-Nummer mit lauftt. Beilage .Die Neue Wels 10 * Kreuzbandsendungen monatlich x 2,70, für da» Ausland monatlich x 4.—. Anzeigen bie sechsgespaltene Petitzeile oder deren Raum 40 *, Arbeitsmarkt, vermtetungs- und stlamiltenanzeigen 20*. Anzeigen Annabme stehlandstr. 11, Erdgeschoß (bis 5 Uhr nachmittags!, in den Filialen, sowie in allen Annoncenbureaus. Platz, und Datenvorschriflen ohne Berbmdiichleit. Reklamen im redaktionellen Teil werden weder gratis noch gegen Entgelt ausgenommen. Buchhandlung und Buchdruckerei-Kontor: Fehlandstr. 11. Erdgeschoß. Redaktion: Expedition: Fehlandstraße 11, 1. Stock. PllMourg " Fehlandstraße 11 Erdgeschoß. Verantwortlicher Redakteur: Karl Petersson In Hamburg. Hierzu zwei Beilagen. Stouts- unö MsAttslkttel. Der Klaffenkampf unserer Zeit, der sich in der großen Welt, im MakrokoSmus, abspiclt, wird am deutlichsten widergcspiegclt im Mikrokosmus, in der kleinen Welt, wo man seine charakte- ristiscben Begleiterscheinungen am besten zu erkennen vermag. Auch kann man hier den Umtrieben, den Schleichwegen und den unschönen Mitteln überhaupt, mit denen die oberen ZchntMscnd ihre Privilegien zu befestigen trachten, besser auf die Spur kom - men, als in der großen Welt, wo der Blick mchr von den Einzel - heiten abgelenkt wird. Ein Bild des modernen Klassenkampfes im Mikrokosmus gibt erschöpfend und höchst lehrreich eine Broschüre, die dieser Tage erschienen ist und die den Kampf der Arbeiierkiaffe gegen den Kapitalismus in der kleinen, gegen 20000 Einwohner zählenden, sehr industriellen Stadt Eilen - burg im Kreise Merseburg der Provinz Sachsen darstellt.") Durch das Eingreifen des genügend bekannten Reichsver - bandes gegen die Sozialdemokratie und durch die massenhafte Entsendung von Berliner und Hamburger Streik - brechern nach Eilenburg haben die dortigen Kämpfe eine weit mehr als lokale Bedeutung erlangt, und sie sind vielfach benutzt worden, um die Förderung der großindustriellen Scharfmacher und ihres journalistischen Trosses nach verstärktem „Schutz für die Arbeitswilligen", mit anvern Worten nach einer neuen Zuchthausvorlage zu unterstützen. Die ver - dienstvolle Broschüre beweist nun, daß die Eilenburger Ereignisse weit eher geeignet sind, für die klassenbewußten Arbeiter Schutz gegen die Prakiiken der Firma Hintze & Co. zu verlangen. Da jetzt gerade wieder mit aller Macht in das große Nacht - wächterhorn geblasen und über den angeblichen „Terroris - mus der Sozialdemokratie" und der freien Gewerk - schaften so häufig geklagt wird, so bekommt Die Broschüre noch ihre besondere Aktualität. Der alte Oberscharfmacher Bueck, der in seinen alten Tagen bekennen mußte, daß er sein Lebensziel, die Vernich - tung des Koalitionsrechts und die Zertrümme - rung der freien Gewerkschaften, nicht erreicht habe, und der damit die von den Scharfmachern bezahlte Presse zu Krokodilslränen rührte, hatte vor bald zwei Jahren das Signal zu den Kämpfen in Eilenburg gegeben, indem er behauptete, in Eilenburg habe er gesehen, wie die ganze Einwohnerschaft unter dem Terrorismus der Sozialdemokratie schmachte. Er nahm mm Anlaß, seine Mirscharfmacher zum „furchtbaren Ent- ‘‘"tW !3J bjsp Veit Sieg zu erzielen. Er meinte, dann würden die Herren Scharfmacher von dem kommenden Geschlecht als Retter des Staates und der Gesellschaft gepriesen werden, „vor allem als die Retter unserer hochentwickelten Kultur, die zugrunde gehen müßte, wenn die Sozialdemokratie das Zepter in die Hand bekommen sollte". Da der große Bueck sonach das kleine Eilenburg zum Anlaß genommen hat, um die ganze kapitalistische Welt zum „Kultur - kampf" gegen Sozialdemokratie und freie Gewerkschaften auf - zurufen, so lohnt es sich heute, nach der vorliegenden aktenmäßigen Darstellung, zu rekapitulieren, was in Eilenburg vorgegangen. Sozialdemokratie und freie Gewerkschaften sind inzwischen an dem Bueckschen Bannfluch nicht zugrunde gegangen, sondern blühen und gedeihen fröhlich weiter. In Eilenburg waren noch im vorigen Jahre die Arbeits - bedingungen sehr ungünstig; es wurden noch Wochenlöhne von ,k. 1 2, .^14 und ./Z 16 gezahlt. Als nun die Wirkungen der „bewährten Wirtschaftspolitik" und der famosen „Finanz - reform" sich geltend machten und die Arbeiter mit solchen Löhnen absolut nicht mehr leben konnten, begann es unter ihnen zu gären. Es war vorauszuschen, daß es zu L o h n k ä in p f e n *) Der Kampf der Sozialdemokratie um die Vorherrschaft in Eilenburg. Tie Zerstörung einer reichsverbändlerischen Legende. Im Berlage des Gewerrschaftskartells Eilenburg. 1912. fommen werde, und die Arbeiter rüsteten sich durch Ausbau ihrer Organisationen. Statt nun einzusehen, daß die Bewegung unter den Arbeitern eine unausbleibliche Folge der Lebensmittelteuerung sei, erklärten die Unternehmer alles für ein Produkt „sozialdemo - kratischer Hetzereien" und suchten als Gegengewicht eine „natio- nale" Arbeiterorganisation zu gründen. Der bekanNie Reichs - verband sandle einen „Arbeitersekretär", ein abgefallenes Mit - glied des Metallarbeiterverbandes, nach Eilenburg. Dieser ließ dort sogleich ein Flugblatt los und erging sich in den gröbsten Schmähungen gegen Sozialdemokratie und Gewerkschaften; er suchte den erstaunten Eilenburger Arbeitern einzureden, wie sehr sie unter dem „Terrorismus" der Sozialdemokratie zu leiden hätten. JL 4000 jährlich gaben die Unternehmer für diesen „Arbeitersekretär" und die von ihm begründete „nationale" Arbeiter- respeklive Streikbrecherorganisation aus. So begann der Kamps, und gleich daraus kam auch der erste Streik in den Dermatoidwerken, wo Der niedrigste Stunden - lohn 19^., der durchschnittliche 28^. betrug ; Familienväter waren mit 22 StunDenlohn eingestellt. Zur Arbeitseinstellung kam dann Die Aussperrung und die Abtreibung von Lokalen, Die mehr oder minoer regelmäßigen Begleiterscheinungen der Lohnkämpfe; dann kamen die Versuche, die Gewerkschaften und mit ihnen das Koalitionsrecht zu erdroffeln. Die Vernichiung dieses wichtigsten Volksrechles ist immer Das verborgene Ziel derer, die einen verstärkten „Schutz für die Arbeitswilligen" fordern. Um Das Idyll mit den niedrigen Löhnen aufrechtzuerhalten, ließen die Unternehmer nunmehr Streikbrecher in Masse anwerben. Diese Elemente betrugen sich derart. Daß Die bürger - liche Einwohnerschaft in Eilenburg nicht minder empört war, als Die im Ausstand befindlichen Arbeiter. Sogar die bürgerliche Preffe legte sich scharf gegen die Hintzegarde ins Zeug. Was von dem Terrorismus der Streikenden — in Rachbetung der Märchen des Herrn Bueck — erzählt wurde, erwies sich als eitel blauer Dunst. Diese Tatsachen zu verbreiten, ist wichtig angesichts der fort - gesetzten Bemühungen der Scharfmacher für eine Wiederbelebung der vor 12 Jahren begrabenen Zuchthausvorlage. Zwar ist ein konservativer Vorstoß in dieser Richtung im Reichstage miß - glückt. Allein wir sehen, wie der Einfluß der Großindustriellen immer mehr sich auch bei den liberalen Gruppen geltend macht. Zahlreiche Nationalliberale sind neuerdings für „mehr Arbeiter - schutz" gewonnen, und in diesen Tagen hat auch der Hansabund diese Forderung unter seinen „neuen Richtlinien" ausgenommen. Reaktionäre Blätter wiederholen Den Ruf nach Der Zuchthaus- vorlage fast täglich. Man sicht, wie Der Liberalismus auch in diesem Falle durch das beharrliche Schwenken des „roten Lap- pu<* fio) emfcyusyrrrn uno wr »leattum m tne Atme treiben läßt. Denn Der liberale Spießbürger glaubt steif und fest an das Märchen vom „Terrorismus der Sozialdemokratie", unter dem angeblich nicht etwa nur bie Stadt Eilenburg, sondern die ganze bürgerliche Gesellschaft mit ihrem Kriegsheer von einer halben Million Soldaten und mit all ihren Reichtümern schmachtet. Das müßte eine traurige Kultur sein, die von den Scharf - machern mit den Hintzebrüdern gerettet werden sollte. Die Kultur muß im Gegenteil gegen diese Elemente beschützt und vor ihnen gerettet werden. Politische Uebersicht. Die Reichstagscrsaywahl in Hagcnow-Grcvesmühlen. Tas Wahlergebnis, das vollftändig noch nicht porliegt, ent - spricht dem, was^inan rm voraus erwarten konnte, daß nämlich die unvermeidliche Stichwahl zwischen Konservativen und Fortschrittlern auszufecbtcn ist. Die mitgeteilten Zahlen bringen dagegen insofern eine Ueberraschung, alsj wenn sie durch das endgültige Resultat nicht noch verschoben werden, der Fort - schrittler den Konservativen überholt hat. Im Januar hatte Pauli 7063 Stimmen, der Fortscbrittler 6140 unö der sozialdemokratische Kandidat 6151 Stimmen. Jetzt hat Pauli nur 6139 Stimmen, der Fortschrittler S i v k o v i ch dagegen 6589 und Genosse Kober 4065 Stimmen erhalten. Pauli bat also trotz der gewaltigsten Anstrengungen und der flrupellosesten Wahl - niache der Konservativen^ mehr als 900 Stimmen verloren, während der Fortschrittler 440 stimmen gewonnen hat. Daß mit einem Verlust an sozialdemokratischen Stimmen zu rechnen sei, haben wir schon vor der Wahl dargclegt. Es ist das nicht nur eine Folge davon, daß die alten Wählerlisten benutzt wurden, sondern auch auf die sommerliche Abwesenheit vieler Saisonarbeiter zurückzufübren. Der Einfluß dieser Umstände hat sich jedoch größer erwiesen, als vorher angenommen werden konnte. Den Konservativen und Agrariern ist der Stimmenverlust ibrez Mannes und die Zunahme der fortschrittlichen Stimmen sehr schmerzlich und die »Teutsche Tagesztg." sucht ihren Schmerz zu mildern, indem sie den Zuwachs des Fortschrittlers sozialdemo - kratischer „Taktik" zuschreibt. Sie behauptet, in dem fozialdemo- k.atischen Stimmenverlust liege der Schlüssel zu der ver - änderten Sachlage: „Während der konservative Stimmen - verlust sich aus der regelmäßig beobachteten verminderlen Wahl - freudigkeit bei Nachwahlen einigermaßen erklären lägt, hat die Sozialdemokratie ganz offenbar nicht nur den Wahlkampf „ge - dämpft", sondern auch eine erhebliche Anzahl von Wählern für den befreundeten Freisinn ab kom - mandiert. Dadurch erklärt sich dann mühelos der Gewinn des Freisinns; und die Folge ist, daß diesmal nicht der Sozial - demokrat, sondern der Freisinnige mit dem Konservativen in Stichwahl kommt. Auf diese Weise hofft mau, das Mandat für die Linke zu gewinnen, obwohl diese au 1500 Stimmen gegen den Januar verloren hat. Man wird ab- r arten müßen, ob wirklich der nationallivcrale Teil der Wähler des Herrn Sivkovich durchweg einem Freisinnigen die Stimme geben wird, der sicher nur als ergebener Vasall der Sozialdemokratie in den Reichstag einziehen würde." Cb das Agrarierblatt das selbst glaubt, wissen wir nicht. Aber auch dann ist es ein schlechter Troii für den eigenen Stimmen« Verlust. Die Rechnung, daß die Nationalliberalen den Konser - vativen noch zur Hilfe Kommen, wird sich um so schwerer erfüllen, als der Fortschrittler Sivkovich, wie seine eigenen Leute .m Wahlkampf verkündet haben, der nationallivcralen Partei näher steht als mancher andere. Selbstverständlich werden auch die sozialdemokratischen Wähler in der Stichwahl helfen, den Kon - servativen hinauszuwerfen. Tie Stichwahl hat der von der Wahlprüfungskommission des Reichstags wegen seines Verhaltens bei der Jaituarwabl ge - rüffelte Wahlkommiffar v. P l e s s e n schon auf den n ä ch st e n Freitag, 28. Juni, festgesetzt. Mau will die „schreckliche" Zeit der Wahlagitation so bald wie möglich abkürzen und Ruhe haben vor jeder Wahltätigkeit. Ein später eingehendes Telegramm meldet: H a g e n o w , 21. Juni. Nach dem vorläufigen amtlichen Wahlergebnis wurden bei der Neuwahl in Hagenow-Grevesmühleu abgegeben für Sivkovich (liberal) 6062, für Pauli (fi.) 6736 und für Kober (SD.) 4267 Stimmen. Es fehlen noch fünf kleine Orte. Somit findet zwischen Pauli und Sivkovich Stich - wahl statt. Ein neuer Angriff auf das RcichStagswahlrecht. Die Feinde des allgemeinen, gleichen, direkten Wahlrechts, das den Bolksmassen einen steigenden Einfluß auf die Gesetz - gebung verschafft, gehen fortgesetzt darauf aus, dieses Wahlrecht url den auf ihm fußenden R«tch»varlametttartrmus zu diskrcdi- .liwcn. teilt ]oia)«r <'er|ucp fuumu naj wieoer in <-.m.«i „Deutschen Reichsarchiv?", in dent sich folgende Satze finden: .Für jeden Beruf, für jedes Amt wird beute eine gewisse Be - fähigung verlangt. Ter Weichensteller muß eine Prüfung ab- legen, der Handwerkslehrling hat nachzuweisen, daß er etwas von seinem Fache versteht. Nur von dem Gesetzgeber, de in Abgeordneten, werden für sein Amt keinerlei Fähigkeiten verlangt. Jeder Teutsche, der 25 Jahre alt ist und sich im Besitz der bürgerlichen Ehrenrechte besindct, ist zum Gesetzgeber reif, ob er lesen oder schreiben kann, ob er etwas vo.i den Aufgaben des Reichstages versteht oder nicht, ist ganz gleich - gültig. Die demokratische Staatsphilosophie konstruiert sich den Parlamentarismus als den Sammelpunkt der besten, er - leuchtetsten und vertrauenswürdigsten Geister. Je mehr die Herr - schaft des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts zum Reichstage ihren Einfluß auSüble und eine maß- und rücksichts - lose Agitation jegliche Autorität, jegliches Ansehen, jeglichen inneren Wert des einzelnen in den Staub zog, ist es völlig anders geworden. Tie Tiätengewäbrung hat noch ein übriges dazu getan. Heule ist das besoldete und versorgungs- berechkigteProlet.entum aus dem Wege zur Macht, die Gesetzgebung zu beherrschen oder den Parlamentaris - mus zum Stillstand zu bringen. So verflüchtigt sich das demokratische Ideal vom Parlamentarismus, und wenn sich die Tinge weiter im Zuge der letzten Reichstags - wahlen auswachsen sollten, dann werden in nicht allzu langer Zeit approbierte Proletarier die Entscheidung über Form und Inhalt unserer Rcichsgesetzgcbung haben." Diese gehässige Auslassung gegen das Parlament des allge - meinen, gleichen Wahlrechts ist entweder Ausfluß grenzenloser Ueberbebung irgend eines Intellektuellen, der den Universitäts- besuch für die alleinige Quelle aller Weisheit und alles Könnens anstcbl, oder er ist von ausgeprägter Feindschaft gegen die sich emporriiigende Arbeiterklasse eingcgeben. Vielleicht trifft auch beides zu;ammen. Von der demokratischen Staatsphilosophie hat der Urheber jener Sätze jedenfalls eine sehr mangelhafte Vor - stellung. Sie will dem ganzen Volke den ihm gebührenden Einfluß auf die Gesetzgebung sichern. Wenn heute weniger „er - leuchtete Geister" im Reichstag sitzen als zu ^Beginn des neuen Teutschen Reichs, so ist das jedenfalls nicht Schuld des ReichS- tagSwahlrechts. Uebrigens sind die „erleuchteten Geister" keines - wegs immer die besten und verständigsten Gesetzgeber; davon haben die vielen Professoren in der 48er Frankfurter Nationalversamm - lung einen draitiswen Beweis geliefert. Auch in den ersten Legis - laturperioden des deutschen Reichstags, als die Sozialdemokratie erst ein kleines Häuflein von Abgeordneten stellte, haben dort neben relativ wenigen hervorragenden Männern sehr viele Alittcl Mäßigkeiten gesessen. Das wird immer so sein und ist and) in Parlamenten, die auf Grund reaktionärer Wahlrechte gewählt worden, ebenso. Oder hat etwa das prenßisd;e Treiklassenparla ment ein höheres geistiges Niveau als der Reichstag? Tas demokratische Ideal vorn Parlamentarismus verflüchtigt sich also keineswegs, weil es im Sinne des Verächters des allge - meinen, gleichen Wahlrechts niemals bestanden hat. Der Nerger ist nur, daß die Arbeiterklasse durch ihre Vertreter einen wachsenden Einfluß auf die Gesetzgebung gewinnt. Das läßt ja der Schlußsatz über die „approbierten Proletarier" deutlich er - kennen. Diese „approbierten Proletarier" sind nämlich sogar manchen „erleuchteten Geistern" in richtigem politischem Urteil und in der Kenntnis der Volksbedürfnisse gar sehr über. Darum die Tränen über die angeblich wunderliche Wirkung der allge- meinen, gleichen Wahlrechtsl Die Sozialdemokratie auf dem Laude. Die Angst vor der Sozialdemokratie und vor der Aus - dehnung ihres Einflusses speziell auf dem Lande nimmt bei manchen Gegnern geradezu groteske Formen an. Da ist die Reichsversicherungsordnung ausgesprochcnermatzen mit zu dem Zweck geschaffen, um der Sozialdemokratie z u schaden, indem man ihren Einfluß in den Krankenkassen beschränken wollte. Und jetzt hat ein weiser Mitarbeiter der „Post" entdeckt, daß da wieder eine neue „Gefahr" von der Sozialdemokratie droht. Er beschäftigt sich mit der Frage bet Landkrankenkassen und der Möglichkeit, mit diesen neuen sozialpolitischen Einrichtungen bie Sozialdemo - kratie v o m Lande fernzuhalten. Er kommt aller - dings zu dem eigenartigen Resultat, die Sozialdemokratie mit der vollständigen Rechtlosigkeit der Bauern be- kämpfen zu wollen, und muß wider Willen eingestehen, daß es gar keiner Agitation für den Sozialismus aus dem Lande be - darf. daß allein die praktische sozialpolitische Arbeit der Sozial- demokraten imstande sei, die Bauern zu gewinnen. Ter Artikelschreiber rst fest davon überzeugt, daß die Sozial- demokratie trotz der neuen Versicherungsordnung ihren Einfluß in den Lrtskrankenkaffen behalten loerde. Daraus zieht er den Schluß, die Ortskrankenkassen müssen unter allen Umständen I bekämest und vom Land ferngtzbalten werden. Die Sozia' ccuioiiaiie aauiere jux ow Qxlsla^i.w. Keine Der andern poli tischen Parteien, die die Reichsversicherungsordnung geschaffen haben, hätte cs für notwendig gefunden, für irgendeine der zu- gelassenen Kassen zu agitieren. Die Regierungen aber begünstig - ten die sozialdemokratische Arbeit für die Ortskassen: „In Baden werden Landkrankenkassen über - haupt nicht errichtet werden, und allem Anschein nach werden Thüringen und Braunschweig nachfolgen. Was aber am meisten in Erstaunen setzen muß, ist die Tatsache, daß aucki die preußische Regierung sich allen Ernstes anschickt, die Bildung von Landkrankenkassen wenigstens dort nicht zu- zulassen, wo bereits Ortskrankenkassen vorhanden sind. Wie wir hören, wird im Rheinland und Westfalen und wahrscheinlich auch in andern preußischen Provinzen allgemein nach diesen Grundsätzen verfahren werden. Ein solches Vorgehen ist nach der bisherigen Haltung der preutzisd)en Regierung ganz und gar unverständlich. ... Da Rheinland und Westfalen und auch andere preußische Provinzen zum größten Teil mit dem platten Lande industrialisiert sind und in den meisten Orten bereits Ortskrankenkassen bestehen bürsten, so darf von vornherein an - genommen werden, daß, falls es in diesen Provinzen überhaupt zur Bildung von Landkrankeiikaffen kommen wird, dieser sicher verschwindend wenige sein werden. Damit hat die preußische Re - gierung prinzipiell ihren früheren Standpunkt aufgegeben, sie scheint nur einstweilen an dem Entschluß festzuhalten, daß auf dein Lande beziehungsweise dort, wo bisher Ortskrankenkassen noch nicht vorhanden ivaren, die Errichtung von Landkrankeu kasscn vor sich gehen soll. Wir sagen „einstweilen", da man sich gar nicht zu wundern braucht, wenn im letzten Augenblick mit einem Male wieder anders bestimmt wird. Der preußische Staat, der eine hochentwickelte, sich immer mehr ausdehnende Industrie Die Tochter. Roman in zwei Bänden von Korsiz Holm. Das Reckst, Lisen in volkstümlicher Koseform beim Vornamen zu nennen, hatte sich Adrian sehr unbefangen usurpiert. Und zwar schrieb sich dieser Brauch bei ihm von einem Erlebnis her, das ein anderer schwerlich zum Anlaß dafür genommen hätte. Wenige Tage nachdem Lisa in Berlin eingetragen war, hatte er sie einmal besucht; weislich zu der Nachmittagsstunde, wo Gunnar in einem Cape die norwegischen Zeitungen zu lesen pflegte. — Zunächst überreichte er ihr mit preziös eckiger Grazie eine umständlich in Seidenpapier und Watte verpackte Orchidee. Dann kramte er einigen Klatsch über gemeinsame Bekannte aus, wie er ihn stets auf Lager hatte ober auch im Augenblick erfanb. — Er besaß ein erstaunliches Talent, sich aus ben knappsten Anbeutungen unb Anzeichen die erstaunlichsten Geschichten zu - sammenzuphantasieren, mit einer Fülle von Einzelheiten, bei denen es ihm auf Wahrscheinlichkeit viel weniger ankam als aus Amüsantheit. — Es lag übrigens keine planvolle Bosheit in diesen Lästerreden; sie entsprangen vielmehr der Lust, alles als Erster zu wissen — also der Sicherheit halber, bevor es geschah. — So konnten sich kluge und freie Leute über seine Art nicht gut moralisch entrüsten: er war ja selbst jeder moralischen Ent - rüstung gänzlich unfähig . . . Sogar wenn er seinem besten Freunde mit kaltem Blute ein Verbrechen nachsagte, geschah baS nicht etwa, um ihn anzuklagen, sondern um zu zeigen, was für ein lustiger und famoser Kerl jener wäre . . . Lisa hatte diese Sturzsee von Worten ohne viel Interesse und ziemlich zerstreut über sich hinbrausen lassen. Sie kannte Andrians Histörchen ja . . . Nur eines wunderte sie: er machte heute dabei einen so erregten, verlegenen Eindruck und sprach, als ob er selbst nicht mit der gewohnten Begeisterung bei der Sache wäre... . ... Schließlich bemächtigte sich ihrer ein peinliches Gefühl, bas sie sich nicht recht zu deuten wußte, für denen instinktive Sicherheit sie jedoch nur zu bald den Beweis empfangen fällte: ganz aus dem Stegreif machte Andrian plötzlich den Versuch, handgreiflich zärtlich gegen sie zu werden. rr Empört sprang sie aus und wie» ihm bie, Tur. Er aber ging keineswegs, sondern sagte sanft und elegisch., „Das hab ich mir doch gedachtI Zu dumm, fowas! — Daß wir zwei nicht zusammenkommen sollen . . .! Ich ... — Daß Sie diesen norwegischen Barbaren vor mir kennen lernen mußten ! — Denn bei Ihrer blöd unb hoffnungslos mono, gamen Veranlagung . . .1 - .Mein Gott was weiß benn er Don IhnenI - Wir zwei . . .! — Was kann er Ihnen geben? — Da» Primitivste, nicht wahr? — In meiner Hand . . .1 — Die^leiiten Dinge würden Ihnen aufgehenI Sie könnten eine von den ganz großen Frauen werde» ..." Lisen hatte es bei bie>eni Erguß vor Staunen bie Rebe ver - schlagen. Jetzt wieberholte sie kühl unb energisch: ' jittc, verlassen Sie sofort mein Zimmer!" ■ Aber Fräulein £Iai . . .1 Lisell Sie werden doch Nicht bös sein? — Ja, glauben denn Sie, er — Stenerfen — märe so wie Sie? — Ich kann Ihnen sagen: er ist sehr polygam. Da könnt ich Ihnen Geschichten erzählen . . .1 Vergangnen Winter . . „Bitte, ^as interessiert mich nicht." „Weil Sie's mir noch nicht glauben! — Ich sag Ihnen: die beste Parade ist der Hieb. — Daß der Sie über kurz ober lang betrügt, is sonnenklar. Sie könne» nix Geschetters tun, wie ihm zuvorkommen." „Jetzt ist es aber genug!" rief Lisa zornig. „Ich geb ja schon! Sie brauchen durchaus nicht läuten. Ich geh schon! — Aber vergessen Sie nicht: ich sieh Ihnen immer zur Verfügung." Tann hatte er sich mit ergeben hängenden Schultern zur Tür hinausgedrückt. Und seit dieser Szene redete er sie, wenn sie sich auf der Probe oder abends begegneten, schlankweg „Lisel" an. Vielleicht wollte er sich die Erinnerung an den Korb dadurch versüßen, daß er vor Dritten so tat, als stünde er sehr intim mit ihr; vielleicht bildete er sich mit der Zeit selber ein, daß dies der Fall sei . . . Lisens Zorn über ibn verrauchte langsam. Es mar nichts zu machen: auf die Dauer konnte man diesen närrischen Kerl nicht ernst genug nehmen, um ihm böse zu bleiben. Nicht einmal Gunnar war ihm böse. Als er an jenem Nach - mittag heimgekommen war, hatte er nach einem kurzen Rundblick durch das Zimmer mit sehr schlauem Gesicht gefragt: „Nun, wie war die Liebeserklärung?" „Woher weißt Tu . . .?" Da hatte er mit dem Finger nach der gefleckten Blüte ge - deutet, die in einem Glas auf dem Tische stand. „Ich sehe es von die Lasterblume — for zum wenigsten drei Mark in Äbonnemang. — Wann Andrian ein Taler bezahlt, ist es immer eine solche Geschickte." Viel auszustehen halte Lisa auf den Proben. Bei Tage gelang c3 ihr wohl, die Verstimmung, die sie von ihnen heim- brockte, abzuschültekn unb für ihre freie Zeit halb zu vergessen. Nachts aber träumte sie häufig bavon, hatte sie Albbrücken wie ein Schüler vor dem entscheidenden Examen. Es ging dort auch sonderbar genug zu. — Außer dem leitenden Regisseur saßen noch eine Menge Leute im Parkett, die anfangs alle mithereinredeten. Das größt: Wort führte der Maler, der die Dekorationen und Kostünie entworfen hatte, sicherlich ein sehr gescheiter und talentvoller Mensch; nur daß er Dom Theater blutwenig verstand . . . Ihm kam es überall auf „bie Linie" und „den Fleck an, er wollte immer Bilder stellen. Das eigentlich schauspielerische erschien ihm uninteressant, ja fast lächerlich und verächtlick. so durchkreuzte er mit feinen An - ordnungen in einem fort die Absichten des Regisseurs, und dieser tvünschte ihn heimlich zum Henker. — Aber das war noch nicht Nie-: von den fünf Dramaturgen hatte jeder eine andere Meinung und durfte sie stürmisch äußern. Durch die verrücktesten Einfälle zeichnete sich Andrian aus ... Lisa, als der Neuling, wurde von dem ganzen Kollegium am meisten mit guten Lehren verfolgt. Sie wußte nicht mehr, wo sie hinhören solle, und war oft nahe daran, in Tränen aus - zubrechen. In der Mittellogc des ersten Ranges aber saß Gunnar neben dem Direktor. Er schäumte vor Zorn und schimpste so baut über „diesen idiotischen ZirkuS", daß man bis auf die Bühne hin jedes Wort verstand. Hellmann jedoch tat, als ob er nichts davon höre. Mit seinem unbewegten Gesicht schaute er ohne ein Zeichen von Anteilnahme in ben Wirrwarr. ES war, als wenn er auch hier die anbern für fick benken ließe und sich dabei allmählich eine eigene Meinung bilde. Denn plötzlich eines Tages begab er sich an die Rampe zum Regisseur, schob ben, figürlich gesprochen, beiseite und nahm von Stund an die Leitung der Proben selbst in die Hand. Und nun half kein Dreinreden mehr. Die gutgezogenen Dramaturgen hielten sowieso den Mund; und Gunnarn und den Maler ließ Hellmann ruhig sprechen. Er drehte sich höflich nach ihnen um, unterbrach die Probe deswegen und hörte zu, wie sie ihre Meinung des langen unb breiten begründeten. Tann nickte er unb tagte: „Das werden wir schon kriegen. — Also, bitte weiter!" Aber es wurde nichts geändert; alles blieb genau so, wie er es sich nun einmal in den Kopf gesetzt hatte. — Gunnarn war dasselbe ja schon auf Proben zu vielen seiner Stücke begegnet, und er konnte wissen, daß er im Grunde immer gut dabei ge - fahren war: Hellmann war ein ungewöhnlich geschickter Regisseur und steckte voll von Einfällen, die künstlerisch oft recht skrupellos waren, ihre Wirkung auf das Publikum und die Kritik jedockf so gut wie nie verfehlten. — Aber trotz dieser Erfahrung geriet der Dichter manchmal in helle Raserei. .Ich will wissen, ob ich der Verfasser von das Stück bin ober nicht? schrie er. „Aber natürlich," erwiderte Hellmann trocken und gleickfam mit einem sanften Staunen. „Dann soll es so gespielt werden, wie ich es sage!" „Selbstverständlich! Aeußern Sie nur Ihre Wünsche!" „Das habe ich gemacht zum wenigsten zehnmal." „Tann hab ich taic wahrscheinlich nicht rechl verstanden." „Sie wollen c8 nicht verstehenI — Ich dachte Überhaupt, Herr Wicrbitzky inftrueeret das Stück?" „Ja a,” entgegnete der Direktor gedehnt und wendete sich an den Regisseur: „Sie nehmen es mir doch nicht übel, daß ich Ihnen ein bißchen helfe, Herr Wicrbitzky?" „L, im Gegenteil. Herr Direktor!" „Wenn das ein bißchen sein soll . . .1" lackte Gunnar auf. „Warum schreiben Sie es dann nicht auf den Zettel, daß Sie es sind?" „O, ich bin nickt ehrgeizig," gab Hellmann mit einem feinen Lächeln zurück. Ein Murmeln erhob sich unter den Dramaturgen; ein Lächeln erhellte ihre Gesichter. — Es war doch ein Mordskerl, ihr Herr und Meister! Auch Gunnar wußte natürlich, waS es zu bedeuten hatte, wenn dieser kluge Rechner für die Ausführung eines Stückes nicht selbst verantwortlich zeichnete: starke Zweifel an dem Erfolg pflegten die Ursache zu sein ... — AIs dem Dichter das nun mit so stiller, versteckter Bosheit unter die Nase gerieben wurde, ging die Wut mit ifym durch. „So inftrucert es der Teufel!" schrie er. „Aber wann Sie mein Stück nicht so spielen, wie ich es will, dann soll e8 ein anderer spielen!" „Sie wollen es zurückziehen?" fragte Hellmann mild. „Ja, das tu ichl Das soll Gott wissen! Das soll ich wirklich tun!" „Schön!" war die kühle Antwort. „Aber bitte schriftlich! Tas ist bei mir Hausgesetz. Mündlich — da wollen die Herren Dichter es nachher immer nicht gewesen fein. — — Und nun bitte. Fräulein Olai, weiter! Ten letzten großen Satz noch einmal!" Was war gegen diesen unbeirrbaren Gleichmut zu machen! Ebensogut hätte man sich mit der leeren Sufi streiten können . . . Wenn sich die beiden Kämpen am Abend nach so einem Zusammenstoß wieder begegneten, machte Hellmann diplomatisch einen Scherz über die übliche Probenaufgeregtheit, und Gunnar ging woh! oder übel auf diesen Ton ein. Er empfanb sogar eine gewisse Erleichterung, eine Art Dankbarkeit dabei. — (gortfeeung folgt.) Kunst, Wissenschaft und Leden. DaS Grundstück des Neuen Theaters am Besenbinderhof hat in topographischer und kulturhistorischer Hinsicht eine recht reizvolle Vergangenheit. Der Hammerbrook, also das Land von der Norder- ftrafic inklusive an südlich bis zum Stadldeich, ist erst durch die Auk- höhung mit dem Trümmerschutt, der aus dem großen Brande von 1842 stammte, bebaubar geworden. Bor siebzig Jahren noch glich diese Gegend, die heute von triften Häuserblocks auSgesüllt ist, etwa dem jetzigen Marschgelände zwiichen Steinbeck und Billwärder (wenn man sich die störenden Fabrikschornsteine im Süden wegdenkt). Ter zwischen Besenbmderhof unb der heutigen Norderstraße liegende Geesi- abhang war vom Hühnerposten an dis zum Strohhause mit einer Reihe prächtiger Gärten bedeckt. Die Häuser am Besenbinderhof, zu denen sie gehörten, waren herrschaftliche Familienhäuser reicher Patrizier. Man wohnte hier (wie ant weiteren Zuge der Geestböfchung in Borgfelde und Hamm) bereits „auf dem Lande". Spuren der alten, soliden Vornehmheit trug zum Beispiel noch das Innere des erst jetzt durch den Erweiterungsbau des GewerkichaftShauseS ver - schwundenen Hauses, in dem die Bureaus des Maurerverbandes unter - gebracht waren. Der schönste und berühmteste Garten der Gegend war der and der Mitte beS 18. JahrhuitbertS stammende des Herrn Pierre Hiß, dessen prächtiges HauS dem heutigen Kreuzweg gerade gegenüber lag. genau an der Stelle des Neuen Theaters. Im Jahre 1825 wurde daS Hißsche Besitztum zu einem „Tivoli" iiingciuanbelt: ES wurde, dir damaligen Geschmacksrichtung entsprechend, eine „erstklassige" össentliche Wirtschaft mit Orangenen („Wintergarten") eingerichtet. Ter Abhang wurde zu sehr hüb'chcn Terrassen benutzt, von denen man einen