Nr. 274. Sonnabend, den 22. November 1913. 27. Jahrgang. Hamburger Echo. Das »Hamburger Scho" erschein« täglich, außer Montags. «bonnementspreiS (intl. „Tie Neue Welt" und „Tie arbeitende Jugend") durch di« Toft bezogen ohne Bringegeld monatlich x 1,20, vierteljährlich x 3,60; durch die Kolporteur- wöchentlich SO * frei ins Haus. Einz. Nr. 5 A. Sonntags-Nummer mit illustr. Beilage „Tie Neue Welt" 10 *. Nreuzbandfendungen monatlich x 2,70, für das Ausland monatlich x 4,—. LergnlworlNcher Redaktewr I. Reid« tn Hamburg. Redaktion: Anmlntm Expedition: «ehlandstraße 1L L Stock. * UBIUUI S oo Fehlandftraß« 1L Erdgeschoß. Anzeigen di- si-b-ngespallene Petirzeile oder deren Naum 4o ■*, Arbeitsmarkt, Aermietungs- und Familienanzeigen 20*. Anzeigen-Aunahme Fehlandstr. 11, Erdgeschoß «bis 5 Uhr nachuiittag«,. in den Filialen, sowie in allen Annoncen-BureauS. Platz- und Datenvorschristen ohn« Brrdindlichlrit, Reklamen im redaktionellen Teil werden weder gratis noch gegen Entgelt ausgenommen. 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Marx und Engels haben nach der Niederwerfung der deutschen Revolution von 1848 und 1849 sich nicht jenen Illusionären beigesellt, welche als Flüchtlinge im Auslande glaubten, sie brauchten nur ein paar Jahre zu warten, bis die Revolution in Deutschland von neuem ihr Haupt erheben würde und sie als „siegende Geschlagene" stolz wieder in ihr Vaterland einziehen könnten. So natürlich und begreiflich diese Hoffnungen waren, so grausam wurden sie enttäuscht. Die Revolution kam nicht wieder, und eine zehnjährige Kirch - hofsruhe lastete auf denselben Gauen, welche von den ge - waltigen Fluten der Revolution überschwemmt worden waren. Die beiden großen Sozialisten forschten im Exil nach den Ursachen der bürgerlichen Revolution in Deutschland, die sie schon als historisch überwunden betrachteten und hinter der sie schon die große proletarische Bewegung unserer Zeit sich bilden sahen. Sie fanden, daß es die wirtschaftliche Krise vor 1848 gewesen war, welche die Revolution zum Ausbruch gebracht hatte. Nach 1848 aber war eine Periode der Prosperität eingetreten, und daraus zogen Marx und Engels den durch die Tatsachen später bestätigten Schluß, daß die bürgerliche Revolution sich in absehbarer Zeit nicht er - neuern werde. So exakt geht der russische Mnisterpräsident Kokowzow nicht zu Werke, der zurzeit in Berlin weilt und dort allerlei Orakelsprüche in die Welt hinaussendet. Er hat den neu - gierigen Vertretern der Presse gesagt, daß nunmehr eine friedliche Epoche eintreten werde, wenn erst die schlimmsten Nachwirkungen der Katastrophen auf der Balkan - halbinsel überwunden sein werden. Das wird ihm von andern gläubig nachgebetet, und bei solchergestalt gehobenem Autori - tätsbewußtsein ist es kein Wunder, daß dieser Mann auch glaubt, der russischen Revolution historisch und end - gültig den Abschluß verkünden zu können. Die russische Revolution, sagt er, ist tot und auf immer tot. Anscheinend, aber auch nur anscheinend sind für ihn dieselben Gründe maßgebend, welche Marx und Engels bewogen haben, eine Wiederkehr der bürgerlichen Revolution in Deutschland einstens für ausgeschlossen zu erklären. In Rußland, sagt er, habe sich der Wohlstand innerhalb der letzten Jahre außer- prdentlich gehoben, und vielen Leuten, die früher zu klagen hatten, gehe es außerordentlich gut. Während Marx und Engels ihre Anschauung damals auf eine Prosperität in der Geschäftswelt gründeten, die wirklich vorhanden war, spricht Kokowzow von einer solchen, die tat - sächlich nicht besteht. Er meint, wer sich erkundigen wolle, ob die Revolution wiederkommen könne, der dürfe nicht zu den Abgeordneten der Duma gehen, sondern er müsie die Industriellen, die Kaufleute und das gewerbetreibende Bürger - tum befragen, und diese würden dann antworten, daß eine neue Revolution „ganz unsinnig" wäre. Dieser Ausspruch ist für den leitenden russischen Staats - mann außerordentlich charakteristisch. Die vorschreitende Industrialisierung Rußlands, die doch schon beträchtliche Gebiete erfaßt hat, kann ihm doch nicht unbekannt sein. In Petersburg sind zurzeit über 60 000 Arbeiter im Ausstand, und das ist für Rußland doch eine bemerkenswerte Er - scheinung. Aber der leirende Staatsmann vermag deren Bedeutung nicht abzuschäyen, oder er will es nicht. Daß die Schuldenlast der Bauern bei der Agrarbank um 500 Millionen Rubel gestiegen ist, suchte er mit einer mehr als kühnen „Gegenrechnung" aus der Welt zu schaffen, und auch die 400 000 Wanderarbeiter, die alljährlich nach der deutschen „Ostmark" kommen, scheinen ihm weiter keine Bedenken zu machen. Kurzum, er beharrt darauf, daß in Rußland eine zweite Revolution unmöglich sei. Für'große politische Gesetze, sagt er, sei Rußland „noch nicht bereit". — Das heißt doch nichts anderes, als daß die Reaktion in Ruß - land jetzt wieder gekräftigt und dreist genug ist, um alle volkstümlichen Reformen zu vereiteln. So hat ja die halbmilitärische Bureaukratie immer gesprochen, die Rußland so lange „zusammenregiert" und jetzt das Heft wieder, vollständig in die Hand bekommen hat. Der alte Absolutismus braucht nach seiner Auferstehung kein Feigenblatt mehr. Immerhin scheint dieser „geniale Staatsmann" doch einigermaßen verblüfft gewesen zu sein, als jemand die Frage an ihn richtete, wie es denn komme, daß in Rußland noch immer Ausnahmegesetze beständen und Massen- verschickungen nach Sibirien stattfänden, wenn dort alles in Wohlstand und in Zufriedenheit lebe. Was Kokowzow auf diese Frage geantwortet hat, ist leider nicht bekannt ge - worden. Da aber durch die Verschickungen die russische Re - gierung sich selbst dahin gebracht hat, daß es ihr an tüchtigen Kräften, namentlich auf dem Gebiete der Technik, fehlt, so glaubte er, diesen auffallenden Umstand doch irgendwie er - klären zu müssen. Er meinte, dieser Mangel sei „durch Arbeitsunlust" verursacht. Ob dieser russische Bureau - krat glaubt, man könne dem „faulen Westen" wirklich solche Bären aufbinden? Im Gegenteil wird er als „blamierter Europäer" erscheinen; denn er hat mit diesen Aussprüchen zugegeben, daß die russische Regierung sehr viel zu verbergen hat. Er macht dies aber so ungeschickt, daß auch oa, wo man gegenüber den Staatsmännern und Diplomaten noch vom Vertraucnsdusel infiziert ist, nunmehr ein starkes Mißtrauen ganz von selbst sick ansammeln muß. Die russische Revolution bekam ihren Anstoß durch den japanischen Krieg; das sieht auch Herr Kokowzow ein. Er meint nun, die Zustände seien so gebessert, daß ein neuer Anstoß eine solche Bewegung nicht mehr hervorbringen könne. Im Gegenteil hat die russische Regierung alles getan, um eine neue Revolution wiver ihren Willen vorzubereiten. Wir wollen nicht von dem glühenden Haß und der grenzenlosen Erbitterung reden, welche die Mord- und Gewalttaten der auf Die Revolution folgenden Reaktion in den weitesten Kreisen der russischen Bevölkerung hervorgerufen haben, eine Stim - mung, die sobald überhaupt nicht wieder verschwinden wird. Aber haben sich die wirtschaftlichen Verhältnisse denn etwa wirklich gebessert? Zwar wird es der russischen Regierung noch manchesmal gelingen, der französischen Bourgeoisie große Summen abzunehmen; denn diese braucht die russische Allianz für ihre imperialistischen Pläne. Aber diese Summen ver - schlingt der Militarismus, soweit sie nicht an den Fingern einer korrumpierten Verwaltung kleben bleiben, und die Verzinsung der Schulden verschlingt so ungeheure Beträge, daß au eine X^jumiuna oes Finanzwesens überhaupt nuy» mehr zu denken ist. Wie bei gewissen anrüchigen Banken, werden dort die Zinsen der alten Schulden durch neue Schulden bezahlt. Die russische Revolution schläft zurzeit, aber tot ist sie nicht. Sie wird erwachen, wenn die Verhältnisse sich wieder so zugespitzt haben, daß ein äußerer Anstoß genügt, die große Bewegung von neuem in Fluß zu bringen. Die Gegensätze werden so stark werden, daß es nicht gerade ein großer Krieg mehr sein muß, der den Anstoß gibt. Darauf läuft die gegen - wärtige Entwicklung Rußlands hinaus, und der Schluß wird eine gründlichere Revolution sein. Nicht zum wenigsten wird dazu gerade das heraus - fordernde Wesen des alten Absolutismus bei - tragen, als dessen Herold in Berlin sich Kokowzow so laut hat vernehmen lassen. Kurz beupr die russische Revolution mit so elementarer Gewalt auSvrckch, waren noch alle herrschenden Gewalten in Rußland sich darüber einig, daß dergleichen unmöglich sei. Sie werden auch in der Zukunft von den Tatsachen unsanft aus ihren Illusionen gerissen werden. politische Uebersicht. Zur Frage des verstärkten ArbeitSwilligensckiunes bat auch der Nationalliberale Verein in Stettin Stellung genommen. Nacktem einige Scharfmacher den schon wochenlangen Streik der Stettiner städtischen Hafenarbeiter und einzelne geringfügige Vorkommnisse zwischen Streikenden und Arbeitswilligen gehörig aufgebauscht hatten, um so eine bessere Stimmung zu erzeugen, nahm die Versammlung eine Ent - schließung an, in der folgendes gesagt wird: -1. Ein allgemeines Verbot des Ttreikposten- stehens i st a b z u l e h n e n. 2. ES empfiehlt sich, in solchen Orten, in denen bie. Gefahr eines Streiks vorliegt, auf Grund der § 366 g. 10 des Strafgesetzbuches Polizeiverordnun - gen zu erlassen, durch welche die Polizeiorgane ermächtigt wer - den, zur Erhaltung der Sicherheit, Bequemlichkeit und Ruhe auf den öffentlichen Wegen, Straßen, Plätzen oder Wasserstraßen An - ordnungen zu treffen, deren Nichtbefolgung mit Strafe bedroht ist. 3. Ter § 153 der Gewerbeordnung t st abzuändern und dahin zu ergänzen, daß auch solche Handlungen unter Strafe gestellt werden, welche bezwecken, durck Anwendung von Zwang, Drohungen, Verrufserklärung, Vorenthaliung oder Beschädigung •on Arbeitsgerät usw. Arbeiter zur Niederlegung der Arbeit oder Arbeitgeber zur Entlassung von Arbeitern zu bestimmen oder Arbeiter nach vorausgegangenem Streik aus der Arbeit zu »rängen. 4. Die Begriffe der 240 und 241 des Strafgesetz - buches lNötigung und Bedrohung' sind weiter zu fassen. 5. Tie Strafprozeßordnung ist dahin zu ergänzen, daß eine beschleunigte Aburteilung der bei Streiks und öffentlichen Unruhen vorkommenden Ausschreitungen ermöglicht wird." Tie Stettiner Nationalliberaleu betrachten die Frage also ganz im Geiste der Scharfmacher. Tas Streitpostenstehen wollen iie zwar nicht allgemein verbieten, aber sie wollen es durch itraßenpolizeiliche Anordnung unmöglich machen, welche Praxis bekanntlich schon heute an vielen Orten geübt wird. Anders stellen sich die C h r i st l i ch s o z i a l e n zu der Frage. Ter Reichsbote" erhält „aus dem Reichstag von christlichsozialer Seite", vermutlich von dem Abgeordneten Behrens, eine längere Zuschrift, in der betont wird, daß die christlich- nationale Arbeiterschaft ein Verbot des Streikposten- itehenS geschlossen a b l e h n e , da die gegenwärtigen Gesetze voll - kommen ausreichen. ..Ein Verbot deS friedlichen StreikpostenstehenS würde die Arbeiter gerade da schwächen, wo man sie nicht schwächen sollte, im wirtschaftlichen Kampf." Selbst wenn die National- Iweralen umfallen würden, wäre im Reichstag keine Mehrheit hierfür zu erlangen. Am Schluß der Zuschrift, die der „Reichs- bote" als Leitartikel veröffentlicht, heißt es: „Und will man denn mit den stärksten Gesetzen den Terrorismus aus der Welt schaffen? Hat man etwa in den Zeiten, in denen man auf Diebstahl bie Todes st rase setzte, den D i e b st a h l aus der Welt geschafft? Keine ausgeklügelten Maßnahmen, die auch das Ausland durchweg nicht kennt, können den sozialdemokra - tischen Terrorismus, „erst rot, bann Brot", aus der Welt schaffen." Ter „sozialdemokratische Terrorismus" ist auch bei den Christlichsozialen das Schreckgespenst, mit dem sie die Arbeiter in ihre Organisationen sckeucben möchten. Wenn die freigewerk - schaftlick organisierten Arbeiter sich gegen diese unlautere Kon - kurrenz wehren, so ist daS „Terrorismus". iXm übrigen hat der Artikel insoweit recht, daß auck die härtesten ätraten bie notwen- »tg> Organisationsarbeit nick: hindern werben, weil biete eben für den Aufstieg bet Arbeiterklasse unerläßlich ist. Kundgebungen gegen die Scharfmacher im Hansabund. Tie schon angelünbigte Kundgebung des Bundes der Je st besoldeten gegen das vom Industrierat deS Hansabun- deS gestellte Verlangen nach Verschärfung des „Schuhes der Arbeitswilligen" hat folgende Resolution als Er - gebnis gehabt: „Der Industrierat deS Hansabundes har in Der diesjährigen Hansawoche Beschlüsse zum „ArbeilSwilligenschutz" gefaßt, deren Verwirklichung letzten Ende? nichts anderes darstellen würde als eine starke Beeinträchtigung der Bewegungs - freiheit aller Berufsorganisationen. Schon die eine Forderung deS Industrierats auf Ausdeh - nung deS § 31 des Bürgerlichen Gesetzbuches auf die Beruts- beteinc, ohne das Zugeständnis Der Rechtsfähig- feit, bringt unabsehbare Gefahren für die Weiterentwicklung auch der Beamten- und Angestelltenverbände mit sich. Im Zeitalter der staatlichen und privaten Großbetriebe können neben der breiten Masse der Arbeiter auch die Angestell - ten und Beamten allein durch Zusammenfassung der Einzelkräfte in Berufsorganisationen zu einer ge - sickerten und freieren Taseinsfühntng aussteigen. Der Auf- stieg aller Bürger festigt aber bie Grundlagen deSStaateS und gewährleistet den stetigen, gesunden Fort - schritt. * AuS diesen Erwägungen heraus sprickl der ge>chastsf:.hrende Vorstand des Bundes Der Festbesoldeten fein lebhafte? Be - bauern über die Beschlüge des Industrierats tm Haiisabunde aus, zumal bie bestehcnben gesetzlichen B estimmun - g e n für einen wirksamen Sckny ber Arbeitswilligen nach seiner Auffassung burchauS genügen. Vor allem bebauen er den darin zutage tretenden Mangel an Verständnis für bie Bebeutung zielbewußter Arbeit ber Be- Wer sind Sie? [11] Von Lo Lott, Hamburg. (Schluß) r Der Platz war leer. Iwanow itanb allein in der Mitte, icin Gesicht war rot^ aufgeregt, das zerzauste, nasse Haar siebte iljnt an Stirn und Schläfen. Er sah sich verwundert auf dem leeren Platze um, toie einer, der dort, wo er eine grüne Weide erwartete, die kahle Wüste findet. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen; der linke Fuß schlug nervös und ugebulbig auf bie ^ r ? c ’ erweiterte ein fröhliches Lächeln sein Gesicht; ein ebler ^lufimwung tumeltc in feinen neberhaften, fransen Augen, fln der Ferne, am andern Ende des Platzes, zeigte sich ein Mensch, ober besser etwas Menschenähnliches. Die Mauer entlang kroch langsamem alter Arbeiter, schwer, erschöpft. Er bemühte sich, in.dem Schatten der Wanb ^bleiben, um sick vor der sengenden Mitlags)onne zu ichutzeii. äcin Kopf hing nieder auf dem runzligen, ausgetrockneten Halse und zitierte wie das Haupt eines alten, abgearbeiteten Pzerdes, daS man ins Schlachthaus führt Jwaiww lief mit großen Sprüngen dem Arbeiter entgegen und schrie thm mit jubclnbcr, kräftiger Stimme fest in die Ob-en- Ewiges He,l dir, o^ Jugend!", Ter Greis fuhr zusammen als ob er einen starken schlag auf fetneu zimmtfarbigen, Dürren Hals erhalten habe, und voll Angst sprang er seitwärts. Er wäre ficker gefallen, wenn die Mauer nicht da war. Er iah einen Herrn vor stck stehen im Uniformrock und mit einer Medaille auf der linsen Brust! 1 ' nntcn Der Alte schrumpfte in ein Häuflein zusammen und preßte sich so dicht an bie Wand, daß man denken konnte, er üidftc eine Zuflucht zwischen den Steinritzen. Er wischte unaufhörlich seine zitternde, blaue, niederhängende Unterlippe und stammelte flehend- „Um Verzeihung, Euer HochwolAgeboren, um Verzeihung' Ich habe Sie nicht gesehen!" Und seine trüben, furchtsamen Augen wurden naß. „O Jugend!" — schrie Iwanow noch stärker in der Ekstase des Wahnsinns und trat bann aus bei, Greis zu. „Tas ist kein Mäbcheu für Sie, mein Herr!" — klang plötzlich eine Stimme bem Ingenieur nahe am Gesicht, eine schneidende Stimme, scharf wie Glas. — „Gehen Sie dahin, wo Sie getrunken haben!" — und der junge Arbeiter, düster wie eine Donnerwolke, nahm die Hand des Greises und ging mit ibin, fort. Iwanow blieb wie geistesabwesend an der Stelle stehen. Ter ganze Platz ward nun voll von unzähligen Arbeitern. Alles be - wegte sich geschäftig hin und her. Aus allen Toren und Türen der Fabriken und Werkstätten strömten die Menschen heraus und eilten irgendwohin. In der Luft itanb ein langes, ununter - brochenes Pfeifen — bas- Zeichen der Mittagsstunde Tie Arbeiter waren ernst und schweigsam, wie der Hunger. Sie eilten dahin, wo ihr Brot auf sie wartete. „Genossen!" schrie ber Ingenieur Iwanow aus Leibeskräften über den ganzen Platz. — „fiameraben! Ich bin hier! Ich bin gekommen!" Niemanb aber hörte feine Stimme. Niemand gab auf ihn acht. Tie^Menge war taub. Sie wollte essen. Ter breite, lebendige ström von Menschen spaltete sich vor ihm in zwei Teile wie vor einer Lpule, oder wie der Fluß, ber sich vor einem großen Steine in zwei -ströme teilt, um sich dann auf bet andern Seite wieder zu vereinigen. Und dieser Strom sauste schnell um ibn, auf beiden Seiten, und verschwand, als ob die Leute sich in der Luft auflösten, hinter sick ein geheimnisvolles, leeres Schweigeii lassend. Iwanow drehte sich um: Nun war Der Play leer wie zuvor. Seine Hände fielen kraftlos nieder. Tas Feuer in den Augen war erloschen, und diese runden Augen mit ihren er - weiterten Pupillen rattert einen sonderbaren Blick. So mag ein Mensch aussehen, über den eine Steinlawine hingegangen ist und ihn nicht erscklagcn hat. „Verschmäht! Verstoßen! Keine Rückkehr! Niemals! Niemals? Niemals?" Tann richtete er sich auf wie mit einer neuen inneren straft. Er war ganz unkenntlich geworden. „Ah! So ist die Sache? Du toillst nicht, o Jugend? Dann sei verflucht!" — zischte er zwischen feinen zusammengebissencn Zähnen hervor, und fein ganzer Körper bebte vor Haß. — „In Asche werde ich Dich BcrlDanbeln!_" sagte er, als spräche er zu jemanb, ballte krampfhaft bie Fäuste, drückte die Brust heraus, warf den Kopf stolz in den Nacken und schritt der Stadt zu. Hinter ihm ging der Arzt. Als der Ingenieur bie Stabt erreicht, ging er mit derselben stolzen Haltung durch den Großfürsten-Prospekt und bann den Nicola-Ka, cnlang, dem Gefängnis zu. Jetzt grüßte ibn feiner, keiner entblößte fein Haupt vor ihm; alle taten so, als ob sie ibn nickt sähen. Als er auf bie Chaussee kam, fuhr ein Wagen scknell an ihm vorbei. Iwanow fanb die kleine Tür in ber rechten Hälfte des Ge- fangnistores offen. Er trat ein, ging ins Refängniskontor und durch die ihm bekannten Wege ber langen storribore. Ter Arzt, ber Gefängnisaufseher und ber Schließer mit einer Pe roleu i- laterne in Der Hanb folgten. Iwanow blieb vor einer Tür stehen, icblug mit dem Fuß dagegen und sagte: „Ccffnen!" Der Schließer c -J T ' 1[ltc ’afort i>cn Befehl. Iwanow ging schnell in bie halbdunkle Helle, dort blieb er unbeweglich in einer Ecke stehen. — "^ n -Ifefie werde ich Dich verwandeln!" wiederholte er feine 4. rotmng gegen den unsichtbaren Feind und suchte mit dem Blick herum. 4 m helle Laterne zog seine Aufmerksamkeit an sich. Cr C -S l 3. '?®ritt vorwärts und streckte seine Hand nach ihr au». ~cr scbiicBcrjab fragend den Arzt an und ließ die Laterne los. „L>u wirst vernichtet, in Asche verwandelt! flüsterte Iwanow triumphiexend, nahm die Laterne, ging damit in die Ecke, ließ sich hier auf die Knie nieder und näherte das Licht der Wand. Die Finsternis, zäh und sckmierig rote nasser Ruß, ging aus - einander, und der schwache, zitternde Strahl beleuchtete bie graue Granitfläche. Und nun zum andern Male in seinem Leben er - blickte Iwanow bie beschriebene Platte, die unregelmäßigen, tiefen Furchen im Gesteine. Sie glichen den rätselhaften Hieroglvpben, bie Mensckengescklechter unb Jahrtausende überleben und mit Verachtung von ihrer Ewigkeit und Unzerstörbarkeit flüstern. „Nein. Du mußt sterben! Dein Ende ist da!" sprach der Ingenieur voll Haß, sesre die Laterne auf den Fußboden, holte die Petroleum lampe heraus, nahm das Glos ab und brackte bie Flamme bichk an ben Stein. Er führte Die Flamme langsam unb geduldig an bie eingeritzten Zeichen. Minutenlang hielt er baS Sicht an jeden Buchstaben, aber bie rote russige Flamme bebte ängstlich, zog sich zusammen unb wandte sich ab von dem kalten Granit. Unb die verhaßten Worte blieben in ihrer furchtbaren Unantastbarkeit, wie die drei Männer im feurigen Cfcn. Iwanow ermattete. Seine Hände zitterten und hielten kaum bie Lampe. Ta schrie ihm ein triumphierendes, böses Lachen ent - gegen. ein Lacken. baS aus ben toten Buchstaben drang, um ihm das Leben aus ben Adern zu saugen. Er fühlte, daß er von die - sem Lachen tot niederfallen müßte unter der beschriebenen Platte. Tie wollte ibn zersckmettern unb dann als fein Grabstein stehen bleiben mit Diesen entsetzlichen, verhaßten Worten. Es kochte tn seinem Herzen. Ein befinnungSlos-wildeS Gefühl bemächtigte sich feiner. Ta war sein Todfeind! Ta war sein eigentlicher Mörder! „Verflucht sei in Ewigkeit!" Körte er wild auf, knirschte mit ben Zähnen, hob bie Lampe hoch über ben stopf unb ehe die Die Anwesenden sich besannen, schleuderte er sie mit aller straft gegen die Wand. Ter Stein zerbarst, die unvergänglichen Worte flogen wie feurige Schlangen auS ben glühenben Spalten unb stürzten sich auf ihn. „Ich erwürge sie alle!" brüllte Iwanow unb sprang auf sie Io«. Er griff sie an, würgte und zerriß iie in Stücke, zerstamnfte sie mit ben Füßen, aber bie feurigen Schlangen waren unzcr- siörbar, körperlos-geschmetbig. Sie schlichen zwischen leinen Fin - gern durch, sie krochen an seinen Füßen unb Hänben in bie Höbe, glitten über seine Schultern, toanben sich um seinen Hals und erstickten ihn mit ihrem glühenden Atem. Er begriff, baß er tn den feurigen Umarmungen seiner Feinde seinen Tod finb.n werde. Schrecken erfaßte ihn. Er verlor die Besinnung. Er wehrte sich vor ihnen, er lief in der Zelle hin und her, aber e« gab jetzt für ihn keine Rettung mehr. Seine Feinde holten ihn überall ein; sie waren überall; sie zischten unter leinen Fußen; sie flogen in der Sufi über seinem stopf unb stießen ihre g r tiger. Stacheln in fein Fleisch hinein. Plötzlich tat sich ein Abgrund rufSorgani Rationen tn kultureller und staatspolitischer Hinsicht. Im Interesse der im SBunoe bei Festbesoldeten vertretenen Berufsschichten erwartet der geschäftSführenbe Vorstand bestimmt, daß das Direktorium des HansabundeS ben Beschlüssen des Jn- dustrierats nicht heitre len wird." Der Vorstand der Stettiner Ortsgruppe de« HansabundeS, der sich mit ber gleichen Angelegenheit bc- schäftigte, faßte folgenben Beschluß: „Der Vorstnnb der Oris- gruppe Stettin bes HansabunbeS kann den Beschluß des Jndu» ftrieratS im Hansabunde, betreffend den verstärkten Schutz der Arbeitswilligen, nichtgutheißen. Er verlangt zwar scharfe Anwendung ber bestehenden gesetzlichen Vorschriften überall, wo es geboten erscheint, hält aber auch bie be st ehenden G e - setze bei richtiger Anwendung für genügend und erklärt sich deshalb gegen jede der vom Industrie rat ge - wünschten Gesetzesänderungen." Wie das „Berliner Tageblatt" erfährt, ist unter den An - gestellten, bie Ufitglieber deS HansabundeS sind, bereits eine lebhafte Bewegung für den Austritt au8 dem Bunde im Gange. DaS Blatt warnt vor „übereilten Schritten". Die Warnung hätte man rechtzeitig an bie Macher im Hansa- bunb richten sollen, bie sick von ben Scharsmachern haben tn« Schlepptau nehmen lassen. Wir haben schon, als ber Hansabund gegründet wurde und unter ben Angestellten nack Mitgliedern geangelt wurde, darauf hingewiesen, baß über kurz ober lang bie Unternehmerinteressen mit den Interessen ber Angestellten sollt bieren mühten. Jetzt schein es soweit zu sein, daß bie viel- geprebigte „Harmonie" in bie Brüche geht. Mau bars gespannt Darauf fein, wie sich am nächsten Montag bas Direktorium deS HansabunbeS zu ben Beschlüssen deS Industrierats stellen wird. Stellt es sich aus die Seite des letzteren, so werben die t n - ge ft eilten wohl ber Einsicht werden, daß i e lein Platz im Hansabund mehr ist. 3um Spionage-Gesetz. Der Reich-verband der Deutschen Presse rich - tete zum Gesetzentwurf gegen den Verrat militärischer Geheim - nisse eine P e 111 i o n an ben Reichstag, in ber um Ablehnung de« § 9 gebeten wird. Die Bitte wird mit Darlegungen begründet, in denen darauf hingewtesen wird, daß bei ber Aufrechterhaltung des Paragraphen für bie Presse ein unerträglicher Zu - stand der Rechtsunsicherbeil geschaffen würde unb auch unsere Wehrmacht selbst babei Schaden leiden mühte. Nationale Berhetznng. Durck die Presse geht die Mitteilung von einer Rede, bie bet Rektor der Universität Marburg, G^ h c i m r a t Dräger, jüngst bei einer Immatrikulation von Studierenden gehalten haben soll. Er soll gesagt haben, wir lebten in einer ernsten Zeit, in der wähl daran erinnert werden müsse, bah ber Kampf gegen ben Erzfeind früher ober später einmal auSgefochten werden müsse. Dann sei es bie Jugend Deutsch - lands, die, wie vor hundert Jahren, bei Welt zeigen müsse, was iie zu leisten vermöge. Wohin bie VersöhnungSpolitik führe, baS hätten bie Vorgänge in Zähern gezeigt. Man dürfe sich nicht ver- detzlen, daß der stampf mit unserm Erdsetnbe un - ausbleiblich sei. Unter den ..Erbfeind" ist natürlich Frankreick zu ver - stehen. Hat ber Universitätsrektor diese Aeußerungen wirklick getan, so verdienen sie die schärfste Zurückweisung. So kann nur jemand reden, der fanatisch die Verhetzung zwischen der deutschen und französischen Nation betreiben will. Derartige Umtriebe werden längst von Der erdrückenden Mehrheit unserer Nation entschieden verurteilt. Und nun sollen gar auch noch die Vorgänge in Zabern, für die lediglich deutscher „militäri - scher Gei'!" verantwortlich zu machen ist, dazu bienen, die un - erhörte Behauptung zu stützen, baß ber Krieg „mit unserm Erbfeinde unvermeidlich" sei? Tie „Deutsche Tageszeitung" wirst sich, wie zu erwarten, zur Verteidigerin deS Geheimrats Träger auf. Ei^ schreibt: „Ter artige Ansprachen sind nicht für die Oeffentlichkeit be- stimmt. Deshalb muß man sich hüten, dazu kritisch Stellung zu nehmen, wenn nickt verbürgte Mitteilungen über den Work- laut vorliegen. Tas ist hier nicht der Fall . . . vieUeickt en'f- schließt sick Herr Geheimrat Träger dazu, selbst mitzuteilen, waS er tatsächlich gesagt hat. Sollte er sich aber wirklich so aus - gesprochen haben, wie berichtet wirb, so würben wir in einer Derartigen Mahnung an bie stubentiscke Jugend kaum etwas besonders Bedenkliches finden können." Wir meinen, daß e? durchaus geboten ist, bie studierende Jugend vor derartigen Erzessen der Ehauvinismus zu behüten. (fine stolonialkonfereuz. Aus Einladung des Staatssekretärs deS ReichSkolomalamt» Dr. Solf fanden sich am Donnerstag bie Vorstände des Ver - eins west afrikanischer Kaufleute und des Verbander der Kamerun- unb Togopflanzer zu cine£ Be - sprechung im Reichskolonialamt ein. Am Eingang ber -itzung stellte der Staat» ietretär igehrere Aeußerungen, die er bei unter seinen Füßen auf, und die feurigen Schlangen zogen ihn in die ewige Finsternis. . . . „Die Hände haben am stärksten geinten," sagte mit auf - geregter Stimme der Psychiater auS der Hauptstadt, auf dessen Knie der stopf des sterbenden Iwanow lag; und er bestrich vor- sichtig mit Cel die verbrannten Finger. „O, au! Mein Gott!" sagte ber Schließer unb bekreuzte fick breimal. „Er hat sich selbst kbenbig, ganz lebendig verbrannt." „tun ... ja . . ." bemerkte der GefänaniSaiifseher tiefsinnig und bedeutungsvoll, „hier ist kein Ort für die Gerechten." Ende. Theater und Musik. Deutsches Schauspielhaus. Tie lange Jule von Earl Hauptmann. Das neue Drama Earl Hauptmanns, das am Donnerstag in Hamburg seine Uraufführung hatte, fuhrt uns in bäuerliches Leben, in ein Torf des schlesischen Gebirge», da» bekanntlich auch die Heimat deS Dichters ist. Der Bauernstand hat sich in seiner altvererbten Bodenständigkeit noch ein starkes ursprüngliches Empfinden bewahrt, und er eignet sick vortrefflich, Konflikte vorzuführen, die für ben Großstädter wieder brennend geworden sind. Tiefe sind durch da» moderne Leben entwurzdi unb in ihren Instinkten unsicher gemacht worden, und suchen nach einem neuen HeirnatSgefühl. Der Kampf um die väterliche Scholle ist auch daS Problem des Drama». Wenn ber Vorhang bochgeht, find wir schon mitten im stampf ; nur bleibt eS lewer unserer Vermutung überlassen, wie er entstanden ist. Ter Groß - bauer Vincenz Hallmann hat zum zweitenmal geheiratet. Da« einzige Kind au? erster Ehe, die lange Jule, bat da» HouS ver - lassen müssen unb bot einen weit älteren Mama, den GuckkMten- mann Stief geehelicht WaS sie dazu getrieben hat, bleibt unklar. Instinkt zum Manne kann es nicht gewesen fein; denn ne ’agt es selbst mehrmals, daß sie fick au» ben Mannsleuten tue etnms gemacht habe. Ihre straft ist auf Macht unb nickt auf Liebe gerichtet. 5ieIIctdn bat sie Das P clb gelockt; denn wir Horen, daß sie soeben zu Den fünf gekauften Dorfbäufern noch da» grüne HauS erworben hat, das hart an be Großbauern Cbftparten prenjt. Er hätte es gern an stch gebracht; aber e» fehlte ihm an barem Geld, unb et batte, ähnlich wie ber Butterbauer, Mühe, •eine Grundstücke stch zu erhalten; er ha: baS ganze Hab und Gut feiner zweiten Frau Beate .lineinftcden und doch ..och feinen Hof mit einer grossen Hypothek von 10 000 belasten mästen. Nun ist ber alte Hallmann fern Tode nahe: er fühlt feine Knochen- hanb schon im Racken. Er iat feinen letzten Willen aufgesetzt und erwartet den Schuster Dreiblatt — wahrscheinlich eine An - spielung auf seine gewagte Lebensführung — ben jüdischen