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Johanne-Reitz«,  Hamburg 
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Kr.  493. 
Freitag,  den  21.  (Oktober  1921  -  Abend-Ausgabe. 
35.  Jahrgang. 
UernunftspoMik 
Uon  Görlitz  bis  Genf. 
Als  im  Herbst  des  Jahres  1918  die  deurschen  Fronten  unter 
-er  erdrückenden  Uebermacht  der  Gegner  zusammengebrochen  waren 
und  daS  Hasardspiel  der  militärischen  Alleinherrscher  in  Deutsch, 
land  mit  dem  Bankerott  geendet  hatte,  war  es  bekanntlich  die 
oberste  Heeresleitung,  die  in  plötzlich  verzweiseltem  Entschluß  alles 
verloren  gab  und  im  krassesten  Gegensatz  zu  ihrer  bisherigen 
verlogenen  Stimmungsmache  die  sofortige  Einteilung  von  Friedens- 
Verhandlungen  forderte.  Am  3.  Oktober  telegraphierte  damals  Prinz 
Max  von  Baden  an  die  oberste  Heeresleitung  um  nähere  An -
gaben,  ehe  er  sich  zur  Einleitung  einer  Friedensakljon  enlschloß. 
Fragte,  ob  die  Lage  wirklich  so  kritisch  sei,  daß  gehandelt  werden 
müsse  und  ob  sich  die  geschlagenen  Feldherren  auch  über  die  not -
wendigen  Folgen  einer  so  bedingungslosen  Kapitulation  klar  seien. 
»Ist  die  O.  H.  L.  sich  bewußt",  hieß  es  in  der  Depesche,  „daß 
die  Einleitung  einer  Friedensakiion  unter  dem  Druck  der  mili- 
tärischen  Zwangslage  zum  Verlust  deutschen  Gebietes, 
namentlich  Elsaß-Loihringens  und  die  polnischen  Kreise 
der  östlichen  Provinzen  führen  kann?"  Hindenburg 
antwortete  noch  am  selben  Tage,  der  Kampf  sei  abzubrechen, 
das  Friedensangebot  müsse  sofort  heraus. 
Es  ist  die  Aufgabe  gar  nicht  ernst  genug  zu  nehmen,  die 
darin  liegt,  das  deullche  Volk  gegenüber  den  Getchichtslügen  der 
Reaktion  immer  wieder  auf  diese  Zusammenhänge  hinzuweisen 
und  zu  zeigen,  wie  es  die  Ablehnung  der  Friedenspolitik  der 
Sozialdemokratie  durch  die  Kriegsverlängerer  und  Generäle  war, 
die  Ablehnung  des  „Scheidemann-Friedens", 
die  daran  Schuld  trägt,  daß  der  „Friede" 
nach  dem  Zusammenbruch  unsaufgezwungen 
werden  konnte  mit  allen  seinen  grausamen  Folgen,  vor 
deren  einer  wir  heute  nach  der  Entscheidung  von  Genf 
stehen.  Und  gerade  jenen  Kreisen,  die  heute  vor  Entrüstung 
wiesen  und  am  liebsten  nicht  nur  die  republikanische  Regierung 
stürzen  möchten,  sondern  den  Verlust  der  oberschlesifchen  Gebiets -
teile  zur  Entsachung  eines  Volkssturmes  benutzten,  wird  diese 
Tatsache  heute  besonders  in  Erinnerung  zu  rufen  sein.  Sie  haben 
das  allergeringste  Recht,  flammende  Empörungsschreie  von  sich 
zu  geben,  es  sind  lediglich  Konsequenzen  ihrer  eigenen  Politik, 
die  wir  heute  in  Kauf  nehmen  müssen.  Wollen  die  Vertreter 
des  deutschen  Nationalismus  aber  noch  neues  Verderben  über 
»ins  bringen,  dann  müssen  wir  uns  auch  in  dieser  Stunde  ohne 
alle  Sentimentalitäten  mit  ihnen  auseinandersetzcn. 
Daß  auf  jede  Revolution  eine  Reaktion  folgt,  ist  eine  in  der 
Geschichte  so  tief  verankerte  Wahrheit,  daß  es  falsch  wäre,  die 
Erscheinungen,  die  sich  im  republikanischen  Deutschland  immer 
aufdringlicher  bemerkbar  machten,  für  verwunderlich  zu  halten. 
Im  Gegenteil:  es  war  damit  zu  rechnen,  und  bedeutete  die  Frage 
an  den  Bestand  des  neuen  Volksstaates,  ob  sein  Gedanke  in 
seine  Glieder  so  tief  eingewurzelt  werden  konnte,  daß  die  Rück -
schläge  ihm  nichts  anzuhaben  vermochten.  Die  sozialdemokratische 
Arbeiterschaft  hat  sich  an  erster  Stelle  in  den  Dienst  dieser  Auf -
gabe  gestellt  und  hat  sich  ihrer  Lösung  in  den  drei  Jahren  seit 
der  Umwälzung  stets  in  vorderster  Reihe  gewidmet.  Von  praktischem 
Wirklichkeitssinn  erfüllt,  war  es  das  Ziel  ihrer  Politik,  trotz  des 
Wernichtungssriedens  die  Republik  lebensfähig  zu  erhalten,  und 
um  alle  Klippen  herum,  auf  festem  Grund  Deutschland  neu  auf- 
zubauen.  Nicht  nur  bewaffnet  ist  die  Reaktion  ihr  dabei  in  den 
Rücken  gefallen.  Es  begann  und  steigerte  sich  ins  Ungemcsscne 
die  verlogene  Agitation,  die  alles  Unheil  den  Vorkämpfern  der 
Republik  und  ihren  berufenen  Vertretern  zuschob  und  das  Gift 
der  Verhetzung  ins  Volk  streute. 
Es  genügt,  mit  diesen  Worten  die  Entwicklung  auizuzcigen, 
deren  Folge  das  Parlament  des  6.  Juni  1920,  der  heutige 
Reichstag,  ist.  Daß  der  Sieg  der  Reaktion  nur  ein  halber,  sehr 
unvollkommener  war,  beweist  der  Umstand,  wie  ungeheuer  die 
nationalistische  Hetze  im  vergangenen  Jahre  noch  gesteigert  wurde. 
Nationalismus  und  Kapitalismus  einigten  sich  immer  mehr, 
zu  den  Hetzern  gegen  die  Staats'orm  gesellten  sich  diejenigen,  die 
sich  der  Verantwortung  entziehen  wollten,  aus  ihrem  Besitz  zur 
Gesundung  des  Landes  beizutragen.  Ihr  gemeinsames  Op'cr  fiel 
Erzberger;  und  in  einer  Zeit,  da  alle  Probleme  der  deutschen 
Krise  sich  drohend  häuften,  da  Ultimatumserfüllung  und  Steuer -
frage,  rüstende  Gegenrevolution  und  Festigung  der  Republik,  und  zu 
allem  noch  die  bevorstehende  Entscheidung  über  Obcrschlesien  die 
Veranlwortungsschwere,  die  auf  der  Regierung  lastete,  aufs  höchste 
mehrte,  zwang  die  deutsche  Sozialdemokratie  das  Gefühl  des 
Verpflichtetseins  gegenüber  dem  Volke  zu  jenen  Entschlüssen,  die 
ix  Görlitz  geboren  wurden.  Die  Resolution  des  Parteitages 
in  der  Koalitionssrage  war  eine  hochbedeuisame,  aber  auch  eine 
höchst  verdienstvolle,  in  wahrem  Sinne  nationale  Tat. 
♦ 
Auf  Görlitz  folgte  Genf,  und  so  kurz  die  Zeitspanne  von 
einem  zum  anderen,  so  groß  war  das  Versagen  jener  Parteien, 
die  ansonsten  das  „Nationale"  durchaus  für  sich  in  Anspruch 
nehmen.  Der  Versuch  der  Sozialdemokratie,  in  den  schwersten 
Stunden  des  Landes  so  etwas  wie  eine  republikanische  Regierung 
der  Verantwortung  zu  fördern,  ward  beantwortet  mit  demjenigen, 
die  Politik  der  Erfüllung  zu  untergraben.  Es  ist  jetzt  ganz 
offenbar,  wo  die  Kabinettskrise,  der  Vorstoß  gegen  eine 
Negierung  gemacht  worden  ist,  die  seit  Bestehen  der  Republik 
das  meiste  für  den  Frieden  und  den  Wiederaufbau 
getan  und  sich  der  größten  Volkstümlichkeit  zu  erstellen 
gehabt  hat.  Nicht  nur  jene  Jnduftriegruppen  um  Stinnes  find 
es  gewesen,  sondern  auch  jene  um  Hugenberg  und  Vögler;  und 
aller  Widerstand  der  kleinen  volksparteilichen  Gruppe  um 
von  Kardorff,  die  bereit  war,  in  ein  Kabinett  Wirth  einzutreten, 
ist  natürlich  in  dem  Moment  über  den  Haufen  gerafint  worden, 
wo  der  ander  Genter  Entscheidung  entfachte  Nationalismus  sein  Recht 
auch  von  der  Volkspartei  forderte.  Genf  hat  Görlitz  illusorisch 
gemacht,  wenigstens  sieht  es  heule  so  aus.  Tie  deutschnationale 
Presse  verlangt  hetzend  Zurückweffung  des  Entscheides,  Ablehnung 
des  Genfer  Spruches  und  Lbstiuklion  gegen  die  Entente.  Bis 
weit  in  die  farblose  Generalanzeigerpresse  hinein  wird,  ohne  auch 
nur  mit  einem  Wort  Auswege  zu  zeigen,  protestiert,  grau  in 
grau  gemalt,  Krisenstimmung  mit  allen  Mitteln  der  Schwarzseherei 
betrieben. 
Dagegen  ist  Front  zu  machen.  Der  Verlust  in  Obcrichlesten 
wirft  uns  um  ein  Beträchtliches  in  allem  Streben  nach  Wieder -
aufbau  zurück,  gefährdet  das  Frievcnswerk  au's  empfindlichste. 
Er  ist  auch  ungerecht  und  gegen  jede  wirtschaftliche  Notwendig, 
leit  gerichtet.  Aber  er  ist  kein  Grund  zur  Verzweif. 
lung.  Täc  Beschluß  der  sozialdemostatischen  Rcichsiagssrakiion 
ist  durchaus  angebracht  und  man  hätte  nicht  eine  Minute  schwankend 
sein  dürfen,  wo  das  Wohl  Deutschlands  die  Austechterhaltung 
des  republikanischen  Kurses  dringend  verlangt  und  die  unbedingt 
weiterzusührende  Politik  der  Erfüllung  die  Durchsetzung  der  allzu 
ost  verlangten  Besitzsteuem.  Weiß  die  Rechte  andere  Wege,  will 
die  bürgerliche  Milte  sie  mit  ihr  gehen,  so  müssen  sie  sie  ohne 
die  Sozialdemokratie  einschlagen. 
* 
Die  Koalition  der  „breiten  Mitte",  die  „Front  von  Strese -
mann  bis  Scheidemann"  scheint  nach  Genf  in  weile  Ferne  gerückt. 
Schon  als  unsere  Unterhändler  in  London  saßen,  ist  sie  hier  für 
umer  Unlständen  staaisnoiwendig  erklärt  und  unter  der  Bedingung 
loyalen  Bekenntnisses  der  Volkspartei  zu  gerechten  Bedingungen 
für  gut  geheißen  worden.  Heute  muß  an  der  Politik  festgehalten 
werden,  die  Wirth  und  fein  Kabinett  eingeleitet  haben.  Trotz- 
alledem,  nein:  gerade  der  Lage  des  Augenblicks  wegen.  Oder 
wollen  wir  die  Arme  allzuweit  aussperren  nach  einer  Partei, 
deren  Hamburger  Blatt  zu  neuem  Kriege  hetzt?  „Ein  abgefeimtes 
Bubenstück",  ruft  heute  der  „Correspondenl"  und  dann  schreibt 
er  wörtlich: 
„De?  Würfel  ist  gefallen.  Wie  die  blutrünstigen,,  römischen 
Schergen  einst  unter  dem  Kreuze  um  den  Mantel  Christi  spielten 
und  lokerten  und  ihn  endlich  —  da  er  unteilbar  war  —  einem 
der  Knechte  zuschoben,  so  hat  der  geisteSbansrotre  Völkerbundsrcrt 
das  werniollste,  unteilbare,  diffizilste  Arbeüsinstrwnent  Europas 
—  Jahrhunderte  altes,  kerndeutsches  Kulturland  einer  unfähigen 
und  verwahrlosten  Nation  zugeschoben!  einer  H  rde,  die  geraubt 
I  und  gemordet  hat  int  Lande,  kern-  und  cteudeutscho  Männer  und 
Frauen  erschossen,  die  Beamten  geständet,  den  Soldaten  die 
Augen  ausgestochen;  ein  Kulturland  verwüstet  und  MMarden- 
schäden  angertchtet!  — 
Und  mit  diesem  verwahrlosten  Auswurf  der 
Menschheit  soll  deutsche  Intelligenz  zusammenarbeiten? 
Sie  leiten  und  anlernen,  damit  die  Verbrecherbande  den  Lehrern 
nach  15  Jahren  zum  Dank  in  den  Rücken  schießt?  — 
Wir  haben  gelernt,  Hast  zu  säen  —  in  jedem  Tisch-  und  Nacht -
gebet  unsern  Knaben  einzuflüstern,  daß  fi»  einst  Waffe  und  Wehr 
tragen  müssen  gegen  diese  Räuber  und  Diebe,  die  uns  bestohlen, 
als  wir  schwach  und  gefesselt  waren!  — 
Einst  wird  kommen  der  Tag!  —" 
Der  Weg  von  Görlitz  nach  Genf  liegt  hinter  uns.  Soll  er 
in  die  Richtung  weiter  führen,  die  hier  die  Volkspartei 
weist?  Nein,  umgekehrt,  durchaus  umgekehrt.  Nicht  Krieg, 
Friede  muß  an  seinen  Weisern  stehen,  und  wer  diesen  Weg 
nicht  zu  gehen  gewillt  ist,  der  soll  es  endlich  deutlich  sagen. 
—  trotz  alledem! 
Der  Maut  Oer  MWesien-Ne. 
Nachträglich  gibt  das  WTB.  die  gestern  nachmittag  dem 
deutschen  Botschafter  in  Paris  überreichte  Note  Briands  be. 
konnt,  die  den  bereits  mitgeteilten  Entscheidungen  über  Ober -
schlesien  beigegeben  war.  Sie  lautet: 
Herr  Botschafter!  Ich  habe  die  Ehre,  Ihnen  anbei  den  Text 
bet  Entscheidung  zu  übermitteln,  die  die  Botschafter- 
konferenz  am  2  0.  Oktober  d.  I.  namens  und  in  ausdrücklicher 
Vollmacht  der  Regierungen  des  britischen  Reiches,  Frankreichs, 
Italiens  und  Japans  getroffen  hat,  die  mit  den  Vereinigten 
Staaten  von  Amerika  als  assoziierte  und  alliierte  Hauptmächte 
den  Friedensvertrag  von  Versailles  unterzeichnet  haben. 
__  Die  Ententemächte  haben  gemäß  dem  Friedensvertrag  eine 
Lösung  gesucht,  die  den  Wünschen  der  Bevölkerung,  wie  sie  in  der 
gemeindeweisen  Abstimmung  zum  Ausdruck  kommen,  entspricht 
unb_  das  geographische  und  wirtschaftliche  Leben  der  Ortschaften 
berücksichtigt.  Sie  haben  sich  deshalb  nach  Einholung  des  Gut -
achtens  des  Völkerbundsrates  veranlaßt  gesehen,  den  I  n  - 
dustriebezirk  Oberschlesiens  zu  teilen.  In  An -
betracht  der  Tatsache,  daß  verschiedene  Volksteile  geographisch  ver -
streut  liegen,  anderseits  aber  stark  untereinander  vermengt  sind, 
mußte  jede  Teilung  dieses  Gebietes  dazu  führen,  daß  auf 
beiden  Seiten  der  Grenzlinie  ziemlich  beträcht -
liche  Minderheiten  verbleiben  und  daß  wichtige 
Interessengebiete  auseinandergerissen  wurden. 
In  Berücksichtigung  dieser  Umstände  enthält  die  getroffene  Ent -
scheidung  Maßnahmen,  um  im  Interesse  der  Allgemeinheit  die 
Fortführung  des  Wirtschaftslebens,  ebenso  wie  den 
Schutz  der  Minderheiten  in  LBerschlesien  zu  gewähr -
leisten. 
Die  deutsche  Regierung  muß  sich  infolgedeffen  bewußt  wer -
den,  daß  die  alliierten  Mächte  ihre  Entscheidung  als  e  i  n  h  e  i  t  - 
licheS  Ganzes  betrachten  und  daß  sie  fest  entschlossen  sind, 
seinen  verschiedenen  Teilen  Geltung  zu  verschaffen.  In  dem 
Falle,  daß  die  beteiligten  Regierungen  ober  eine  von  ihnen  sich 
aus  irgendeinem  Grunde  weigern  sollten,  insgesamt  oder  in  einem 
Teil  anzunehmen  ober  durch  ihre  Haltung  zu  erkennen  geben 
würden,  daß  sie  der  loyalen  Durchführung  der  Entschetdung 
Hindernisse  in  den  Weg  zu  legen  bestrebt  ist,  behalten  sich  die 
alliierten  Mächte,  in  der  Erwägung,  daß  es  im  Interesse  des 
allgemeinen  Friedens  notwendig  ist,  die  vorauSsichlliche  Regelung 
so  schnell  als  möglich  durchzuführen,  solche  Maßnahmen  vor,  die 
sie  für  geeignet  halten,  um  die  völlige  Durchführung 
ihrer  Entscheidung  sicherzustellen. 
Genehmigen  Sie  usw.  A.  Briand. 
Ton  und  Inhalt  der  Note  schließen  die  Möglichkest  einer 
weiteren  Anfechtung  der  in  Paris  bestätigten  Genfer  Beschlüsse 
auS.  Deutschland  wird  sich  dem  ihm  aufgezwungenen  Machtspruch 
fügen  müssen,  aber  es  kann  auch  jetzt  noch  im  Rahmen  der  zu- 
gestandenen  Schlichtungskommission,  die  zur  Hälfte  aus  Deutschen 
und  zur  Hälfte  aus  Polen  bestehen  soll,  das  Recht  der  deutschen 
Bevölkerung  in  Oberschlesien  nach  Möglichkeit  wahren.  Je  leiden -
schaftsloser  und  taktvoller  das  geschieht,  desto  günstiger  werden 
sich  nicht  nur  augenblicklich  die  Verhältnisse  in  dem  dringend  der 
Ruhe  bedürftigen  Grenzland  gestalten,  sondern  desto  größer  find 
auch  die  Aussichten,  daß  nach  Ablauf  der  15jährigen  Frist,  für  die 
noch  allerlei  UebergangSbeftimmungen  gelten,  ein  neuer  Entscheid 
getroffen  werden  kann,  der  die  Rechte  des  Deutschtums  in  Ober -
schlesien  besser  wahrt,  als  es  jetzt,  wo  Deutschland  nur  hinnehmen 
muß,  was  tai  Rat  der  Entente  beschlossen  wird,  geschehen  ist 
Was  Deutschland  verliert. 
Berlin,  21.  Oktober. 
Die  Note  der  Alliierten  ist  im  Laufe  der  Donnerstagnacht 
dem  Auswärtigen  Amt  übergeben  worden.  Soweit  sich  das 
100  Schreibmaschinenseiten  umfassende  Dokument  bisher  über -
setzen  läßt,  sind  die  Grenzlinien  für  Deutschland 
nicht  unwesentlich  schlechter  ausgefallen,  als  die 
Ententepresse  bisher  gemeldet  hat.  Außer  den  kerndeutschen 
Städten  Kattowitz,  Königstzütte  und  einem  wesentlichen  Teil  des 
Industriegebiete?  verliert  Deutschland  noch  Gebietsteile  im 
Süden,  angrenzend  bis  an  die  Oder,  dazu  die  Stadt  Lublinitz  mit 
agrarischer  Umgebung  und  Tarnowitz,  dessen  große  Wasierfflter 
die  gesamte  Versorgung  Oberschlesiens  mit  Trinkwasser  bewerk -
stelligen.  Durch  diese  Grenzziehung  verliert  Deutschland  nicht 
nur  die  gesamte  Zinkproduktion,  sondern  auch  86  % 
der  oberschsesitck'en  Kohle,  70  %  des  Stahl?  und  66  %  des  Eisens, 
wozu  noch  empfindliche  Grenzbostimmungen  kommen.  Das 
Schwerwiegendste  in  der  Note  ist  die  neue  Drohung  mit 
Zwangsmaßnahmen  gegenüber  Deutschland  ober  Polen, 
falls  sich  eine?  dieser  Länder  weigern  sollte,  die  Entscheidung  der 
Alliierten  anzunehmen.  In  dem  Begleitschreiben  Briands,  das 
der  umfangreichen  Note  beigegeben  ist  und  dessen  Sinn  nur 
Deutschland  gilt  —  denn  Polen  hat  keinen  Anlaß  zur  Ablehnung, 
sondern  nur  zur  Danksagung  —  heißt  es  hierüber: 
„In  dem  Falle,  daß  die  beteiligten  Regierungen  oder  eine 
derselben  wegen  irgendeiner  Ursache  ablehnen  sollten,  die  Ent -
scheidung  oder  einen  Teil  derselben  onzunehinen,  »der  in  dem 
Falle,  daß  sie  durch  ihre  Haltung  bekunden  sollten,  der  loyalen 
Durchführung  dieser  Entscheidung  Hindernisse  in  den  Weg  ,u 
legen,  sind  die  alliierten  Regierungen  im  Interesse  des  allge -
meinen  Friedens  der  Ansicht,  daß  die  Notwendigkeit  vorliegt,  so 
schnell  wie  möglich  das  in  Aussicht  genommene  Regime  einzu -
setzen,  wobei  sie  sich  Vorbehalten,  solche  Maßnahmen  in  Anwen -
dung  zu  bringen,  die  sie  für  notwendig  erachten,  um  die  volle 
Wirkung  ihrer  Entscheidung  sicherzustellen." 
Die  deutsche  Regierung  wird  also  gezwungen  sein,  die  in  der 
Note  geforderte  Ernennung  von  dcuffchen  Sachverständigen  bis 
zum  kommenden  Donnerstag  vorzunehmen,  um  sich  mit  den 
Polen  an  den  Verhandlungstisch  zu  setzen,  um  eine  Verständigung 
über  die  Empfehlungen  des  Völkerbundes  erzielen  zu  helfen. 
Nach  dem  Charakter  der  Polen  wird  diese  Verständigung  nicht 
leicht  fallen,  und  es  erscheint  nicht  angebracht,  große  Hoffnungen 
auf  eine  eventuelle  Aenderung  gewisser  Grenzstellen  durch  ge -
meinsames  Verhandeln  der  Beteiligten  zu  setzen. 
Zu  den  wirtschaftlichen  Bestimmungen  de?  VölkerbundSvateS 
schreibt  der  .Vorwärts":  „Das,  was  von  den  wirtschaftlichen  Be- 
ftimmungen  zu  bindendem  Recht  für  beide  Telle  erklärt  wird, 
greift  weit  über  den  Versailler  Vertrag  hinaus.  Nur  in  manchen 
Fällen  findet  sich  die  Klausel,  daß  diese  oder  jene  Bestimmung 
nur  dann  gelten  solle,  wenn  zwischen  den  beiden  Interessenten 
nichts  anderes  vereinbart  wird.  Hier  also  erfüllen  sich  Verhand -
lungsmöglichkeiten,  während  im  übrigen  ein  Zwang  ausgeübt 
wird,  für  dessen  Ausübung  sich  im  Dokument  von  Versailles  keine 
Rechtsgrundlage  findet." 
Wirth  muß  bleiben! 
SPD.  Berlin,  21.  Oktober.  (Drahtbericht.s 
Die  ReichSregiening  wird  bereits  heute  vormittag  9  Uhr  zu -
sammentreten,  um  über  den  Inhalt  der  Note  zu  beraten.  Bis -
her  ist  noch  unbestimmt,  ob  die  sozialdemokratischen  Minister,  bie' 
für  bas  Verbleiben  der  Regierung  eintreten,  von  ihren  bürger -
lichen  Kollegen  überstimmt  werden  und  somit  die  Demiffion  er -
folgt,  ober  ob  bie  Reichsregierung  mit  einer  Erklärung  vor  den 
Reichstag  tritt  und  biefen  vor  bie  Vertrauensfrage  stellt.  Jeden -
falls  ist  im  Augenblick  eine  verhandlungsfähige  Re -
gierung  unbedingt  notwendig,  zumal  bereits  in  der 
kommenden  Woche  neue  Verhandlungen  zwischen  Deutschland 
und  Polen  stattfinden  sollen,  und  diese  Verhandlungen  nur  aus -
sichtsreich  beendet  werden  können  von  einer  Regierung,  bie  An -
sehen  im  Ausland  hat,  die  sich  monatelang  mit  der  zur  Verhand -
lung  stehenden  Frage  beschäftigt  hat,  nicht  aber  von  neuen  Regie -
rungsmännern,  bie  als  unbekannte  Erscheinungen  das  Regiment 
von  heute  auf  morgen  übernehmen.  Der  „Vorwärts"  präzisiert 
auf  Grund  ber  neugeschaffenen  Sage  in  Oberschlesien  bie  Stel -
lung  bet  Sozialbemokratie  und  sagt  u.  a.:  .Danach  stellt  sich  auch 
bie  gesamte  Situation  etwas  anders  bar,  als  von  vielen  erwartet 
wurde.  Man  glaubt,  Reichstag  und  Regierung  würden  durch  bie 
Entscheidung  übet  Oberschlesien  in  jeder  Beziehung  vor  vollendete 
Tatsachen  gestellt  sein,  und  es  würde  nichts  anderes  zu  tun  übrig 
bleiben,  als  baS  politische  Fazit  zu  ziehen.  In  Wirklichkeit  Han- 
belt  eS  sich  auch  zum  Teil  um  werdende  Tatsachen,  beten 
Entwicklung  durch  das  Verhalten  Deutschlands  beeinflußt  werden 
kann.  Würde  die  Reichstegierung  heute  durch  daS  Zweifeln 
irgendeiner  Partei  gezwungen  sein,  ihren  Rücktritt  zu  erklären, 
so  würde  ohne  Not  eine  schwierige  Sage  geschaffen  und  bie  Stel -
lung  Deutschlands  in  den  bevorstehenden  Verhandlungen  würde 
nicht  gestärkt,  sondern  geschwächt. 
Die  „Freiheit"  schreibt  in  ihrer  heutigen  Morgenausgabe 
unter  bet  Ueberschrift:  „Die  Alliierten  drohen  mit  Zwang", 
folgendes:  „Die  deutsche  Regierung  steht  also  jetzt  unter  einem 
Zwange.  Sie  hat  die  Pflicht,  mit  aller  Aktivität  die  E  i  n  I  e  :  • 
tung  der  Verhandlungen  mit  ber  polnischen  R  e« 
gierung  z  u  betreiben,  um  zu  untersuchen,  was  im  Inter -
esse  beider  Länder  liegt,  einzelne  ungünstige  Bestimmungen  mög -
lichst  günstig  zu  gestalten.  Darüber  tzinaus  muß  geschehen,  was 
wir  immer  und  immer  wieder  betont  haben:  Die  Beseiti -
gung  aller  wirtschaftlichen  und  politischen 
Grenzen,  die  bisher  zwischen  Deutschland  und 
Polen  lagen.  Nur  so  ist  die  Erwartung  berechtigt,  daß  aus 
der  jetzt  für  uns  so  ungünstigen  Entscheidung  über  Oberschlesien 
doch  noch  ein  Guter  entstehen  kann." 
Ev-segen. 
Vertrauliche  Lonntazsbriefe  eines  Vauernknechtes. 
Ein  Kulturroman  von  Peter  Rosegger. 
Soeben  geht  der  Kurier  ab.  's  ist  der  Bandelkramer  nnt 
drei  Füßen,  wovon  einer  hölzern  und  zwei  gichtisch  find.  Das 
ist  die  Post  nach  Kailing,  die  gleichzeitig  auch  den  Güterverkehr 
besorgt.  Wahrlich,  das  ist  das  Majestätische  an  diesem  Volke  — 
es  hat's  nicht  eilig.  Es  kann  warten,  es  steht  fest.  —  Der  Dreifuß 
nimmt  sie  mit,  diese  Epistel  von  Eurem  noch  immer  vazierenden 
*  Bauernknecht. 
AdamshauS,  am  dritten  Sonntage. 
An  Herrn  Doktor  Stein  von  Stein,  den  Herausgeber  der 
„Kontinental-Post"! 
Ich  zerschmettere  Dich,  Imperator!  Ich  bin  Bauernknecht! 
Mein  Aufentbaltsort  im  Adamshause  bei  Hoisendorf,  Almgai  — 
wohin  auch  die  „Kontinentale"  zu  schicken  ist.  Für  den  Nachruf 
in  der  letzten  Nummer  danke  ich  recht  schön.  Bis  da?  Jahr  sich 
kreist,  wird  Euch  der  Spott  vergehen.  Für  weiteres  bin  ich  fetzt 
glicht  aufgelegt.  H-  *• 
An  Herrn  Professor  51.  Simruck,  Dr.  phil.  in  M. 
Adamshaus  im  Almgai,  am  17.  Jaunar  1897. 
Lieber,  alter  Freund! 
Dem  Zeitungsschreiber  war  Tein  Reujahrsgruß  vermeint  ge- 
wesem  jetzt  hat  der  Brief  an  zwei  Woclfen  im  Lande  umhergesuchl. 
unb  wo  findet  er  Deinen  Hans?  Ich  bitte  Dich,  denke  nicht  gleich 
an  Verrücktheit  oder  dergleichen.  Es  geschieht  heutzutage  so  viel 
Kluges  auf  bei  Welt,  das  weitaus  närrisckfer  ist,  als  die  auf -
gelegteste  Verrücktheit.  Nach  Kreuz,  und  Krummfahrteii  kam 
Dein  Brief  eines  Tages  zu  einem  halbeingeschneiten  Bauernhaufe 
bca  Gaigebirges,  eine  Stunde  und  darüber  vom  letzten  Weiler 
entfernt.  In  diesem  Einödhofe  lebt  Dein  Adressat,  unb  zwar  als 
Stallknecht,  eingestanden  für  da?  ganze  Jahr.  Es  ist  kein 
Faschingsscherz,  es  ist  leidiger  Ernst.  Schenke  mir  nur  Geduld, 
daß  ich  mich  Dir  auSfprechen  kann. 
Jetzt  erst  danke  ich  Dir,  Alfred,  daß  Du  unsere  Schulbank- 
freundschaft  hochgehalten  hast  bis  zum  heutigen  Tag,  denn  ich  bin 
unglaublich  einsam  geworben.  In  den  Wochentagen  werde  ich 
meine  Arbeit  haben  als  herben  Kameraden;  vor  ber  Sonntags- 
ruhe  nur  bangt  mir,  wenn  das  törichte  Herz  nach  einem  brüder -
lichen  Mitdenker  unb  Mitfühler  schreien  wird,  unb  es  ist  nichts 
ringsum,  als  ein  armes  einfältiges  Hausgesinde,  das  mit  seiner 
Eigenen  Lebensnot  zu  tun  hat.  Unb  weiter  nichts,  als  dex  Icure 
Winter  und  bie  starren  Berge.  In  solchen  Stunden  laß  mich  zu 
Dir  flüchten.  Du  lieber,  herzgoldener  Kerl,  baß  ich  mich  schnftl'.ch 
ausplaudere,  ausfluche,  auslache,  vielleicht  auch  —.  Nein,  weinen 
werde  ich  nicht,  das  habe  ich  mir  vorgenommen.  W  a  S  ich  Dir 
allsonntägig  zuschreiben  werde,  kann  ich  ja  heute  nicht  wissen,  was 
es  auch  sei,  aufrecht  will  ich  stehen.  Mühe  wird's  wohl  kosten. 
Dir  es  beizubringen,  wie  das  f  o  hat  kommen  müssen!  ES  ist  ja 
so  viel  Unsinn  dabei,  so  viel  Unerhörtes  —  solltest  Du  am  Ende 
dahinter  auch  ein  klein  bißchen  Tapferkeit  finden?  Wenn  ja,  so 
bitte  ich  Dich,  sag'  es  mir  ins  Gesicht.  Wenn  nicht  einer  ist,  ber 
es  mir  allwöchentlick  hochgemut  zuruft:  Recht  hast  Du!  Brav 
bist  Tu!  Tapfer  bist  Du!  Aushalten!  —  fo  weiß  ich  nicht,  w:e 
bas  enben  wird. 
Fällt  Dir  nichts  auf?  Als  könnte  ber  Schreiber  dieser  Zeilen 
froststeife  Finger  haben?  ?lls  sei  daS  Parfüm  des  Briefpapiers 
ein  ganz  eigenartiges?  —  Nun,  ich  will  Dir  erzählen.  Hast  Du 
erst  den  Grund,  bann  versteht  sich  alle?  von  selbst.  Weil  das  eine 
geschah,  hat  das  andere  geschehen  müssen. 
Tas  eine  geschah  in  ber  Weinstube  „zum  roten  Krug",  hort, 
wo  wir  bei  Deinem  Besuch  im  Herbste  den  göttlichen  Rübestzeimer 
getrunken  haben  und  wo  —  wie  Du  weißt  —  der  Generalstab  ber 
„Kontinental-Post"  sein  Hauptquartier  hat.  Die  Herren  sind 
großartig  —  im  Krug!  Da  ist  es  nun  am  Tage  des  heiligen 
Leopold,  daß  ich  nach  dem  dritten  ober  vierten  Glase  Jungwein 
den  Mund  etwa?  zuchtlos  werden  lasse  und  als  Redakteur  des 
volkswirtschaftlichen  Teiles  mich  über  eine  kleine  Maßregelung 
verbreite,  die  mir  ein  paar  Tage  vorher  widerfahren  war.  „Hol  S 
der  Kuckuck!"  sage  ich.  „Nicht  genug,  daß  man  gegen  seine  Ueber -
zeugung  eine  solche  Geld-  und  Handelspolitik  treiben  muß!  Dem 
braven  Landwirt  das  Blut  aussaugen,  und  andere  Volksschichten 
damit  mästen,  dafür,  daß  sie  Homunkeln  erzeugen!  —  Der  Jung- 
roein  sprach's,  verantwortlich  aber  wollten  sie  mich  machen  für 
das  heillose  Wort.  Darob  fängt's  in  mir  an,  immer  mehr  zu 
kochen.  „Ja,  Homunkeln!"  und  bie  Faust  äuf  den  Tisch.  -Wer 
noch  Menschen  sehen  will,  aufs  Land  hinaus  in  den  Bauernhof, 
in  bie  Hirtenhütte!"  — 
„Salomon  Geßner!"  ruft  einer. 
.Ich  bitte  Euch,  bleibt  mir  jetzt  mit  den  Hebräern  vom 
Seihe!" 
AuS  dem  losbrechenden  Gelächter  vermute  ich  sofort  ein; 
Blamage.  Hättest  Du  an  ben  alten  schweizerischen  Süßwurzel- 
stecher  gebadjt,  wo  sich  so  viele  zeitgenössische  Salomoiie  Deiner 
gütigen  Erinnerung  empfehlen?  Also  kurz,  die  Sache  wurde 
weiter  gekratzt  unb  auf  einmal  fiel  das  Wort:  „Der  Bauern -
knecht  ist  trotz  allem  ein  echterer  Mensch,  als  etwa  ein  Bankier, 
heften  Beruf  es  ist,  Gelbpapierfetzen  durch  seine  Finger  gleiten 
zu  lassen,  die  noch  wesentlich  unsauberer  sind,  als  so  ein  Bauern -
kittel.  Ist  sicher  auch  ein  sittlicherer  Charakter,  als  zum  Beispiel 
ein  Zeitungmacher,  ber  seinen  papierenen  Mantel  fortwährend 
nach  dem  Winde  drehen  muß."  Gesagt  hatte  es  wieder  ber  ver -
maledeite  Jungwein.  Der  Herausgeber  ber  „Kontinental-Post", 
unser  Herr  Doktor  Stein  von  Stein,  ließ  auf  seinem  glatten 
Komöbiantengesicht  ein  liebliches  Grinsen  merken,  da?  wir  von  ben 
Honorarabzügen  her  so  gut  kennen,  unb  sagte  sanftmütig:  „Den 
Herrn  Trautendorfser  wirb  ja  nichts  hindern,  die  korrumpierte 
Zeitungwindmacherei  mit  dem  sittsamen  Bauernstände  zu  ver- 
tauschen." 
Ich  fahre  auf:  „Warum  denn  nicht?  Wenn  die  Herren 
etwa  glauben,  daß  bei  mir  bet  Mund  stärker  sei,  als  der  Arm 
—  gut!"  Sofort  eine  Flasche  Rüdesheimer,  denn  für  den  Schwung 
dieser  Angelegenheit  war  der  neue  Binnenlandwmn  zu  trivial 
Etliche  Herren  mochten  eine  weitere,  unliebsame  Steigerung  be -
fürchten  und  suchten  den  Wortwechsel  in?  Heitere  zu  ziehen.  Ich 
fühlte  mich  gekränkt  unb  ließ  mich  nicht  beruhigen.  Da  schlugen 
sie  eine  Wette  vor:  „Der  Trauienborffer  soll  ben  Gegner 
schlagen  unb  sich  auf  eine  Woche  lang  als  Baiternknecht  ver- 
hingen." 
Und  ich:  „Auf  eine  Woche  lang?  Stuf  ein  Jahr!" 
Daraufhin  trommelte  Doktor  Stein  von  Stern  mit  den 
Knäufen  der  Fingerringe  ein  bißchen  auf  ber  Tischplatte  und 
sprach  sehr  feierlich:  „Wenn  unser  Herr  Hans  Trautendorfser 
draußen  auf  dem  Torfe  bei  ben  Jdealmenschen  das  kämmende 
Jahr  1897  vom  Anfang  bis  zum  Ende  als  gewöhnlicher  Lauern« 
knecht  zubringt,  fo  werde  ich  mir  am  1.  Januar  1898  gestatten, 
ihm  eine  Ehrengabe  von  zwanzigtausend  Kronen  in  bar  zu  über -
reichen.  Wenn  unser  Herr  Trauienborffer  ben  sittlichen 
Charakteren  auch  nur  einen  Tag  früher  entlaufen  sollte,  so  würbe 
er  zwei  volle  Jahve  lang  ohne  Gehalt.bei  der  „Kontinental-Post 
ben  Mantel  nach  dem  Winde  drehen!" 
„Genagelt  und  gesiegelt!"  rufe  ich  zustimmend. 
„Dann  wollen  wir  eS  nur  noch  beim  Notar  aufstellen  lassen. 
„Ganz  überflüssig.  Drei  Zeugen  sind  gegenwärtig.  Ich  gebe 
mein  Ehrenwort!" 
Erschrickst  Du?  —  Ich  war  ja  selbst  erschrocken  am  nächsten 
Morgen  und  Kollege  Doktor  Wegmacher  meinte,  Wemlaunen- 
abmachungen  hätten  keine  Gültigkeit. 
„Sie  haben  eine!"  fuhr  ich  ihn  wütend  an.  „Das  Ehren- 
wort  lass  ich  nicht  lumpen!"  — 
Es  sollen  ja  ein  paar  Tropfen  Bauernblutes  in  mir  sein,  auf 
Umwegen.  Vom  dritten  Glied  aufwärts  mütterlicherseits,  will 
mein  Oheim  gewußt  haben.  Nun,  so  wollen  wir  sie  hall  ver -
suchen,  bie  Renaissance.  Ich  habe  schon  manches  mitgemacht  auf 
diesem  Erbenhaspel.  Der  Schmied  hat  zum  Glücke  noch  etwas 
Eisen  in  mein  Blut  getan,  der  Soldat  Kurasch  und  Gehorsam, 
der  Zeitungschreiber  die  nötige  Wurstigkeit  —  lauter  Dinge,  die 
dem  Bauernjodel  bekommen  werden.  Vielleichi  gelingt’s,  diese 
bereits  schäbig  werdende  Menschenseele  auszulüften,  der  Sohn  ist 
auch  nicht'  schlecht,  und  bann  tue  ich  mir  auf  etliche  Jahre  einen 
guten  Tag  an.  .  
Also  ist  es  beim  trotzigen  Ernste  geblieben  und  anfangs 
Anno  diese?  bin  idb  gegangen.  Einfach  großartig  bin  ich  aus -
gewogen  in  meinem  Touristenanzug-und  mit  dem  Handbündel  voll 
irdischer  Güter,  die  man  an  den  «tock  steckt  unb  über  bie  Achsel 
wirft.  Die  Herren  suchten  solche  «ckicksalswenbung  immer  noch 
auf  einen  Ulk  hinauszuspielen,  ich  roanbte  ihnen  ben  Rücken 
unb  ging. 
Aber  geplagt  hat's  zuerst,  der  Satan  noch  einmal!  Sänger 
als  vierzehn  Tage  lang  umherstromern  —  brotlos.  Gar  viel 
länger  hätt's  nicht  mehr  gelangt,  so  wär'?  zum  blanken  Betteln 
ober  zum  Stehten.  Da  habe  ich  mir  gebucht,  machest  einen  Knoten 
im  Sacktuch  und  lästerst  nicht  gleich,  wenn  ein  armer  Landstreicher 
vor  dem  Gendarmen  daherspaziert  mit  dem  haltbaren  Armband. 
In  einem  Gebirgsweiler,  Hoisendorf  im  Almgai,  habe  ich  mich 
fdjtecbten  Wetters  wegen  ein  paar  Tage  aufgehalten  und  in  dieser 
Gegend  scheint  Dein  Sonderling  Heben  zu  bleiben.  Dort  im 
Wirtshause  tat  ich  mit  einem  jungen  Manne,  der  mir  wie  ein 
blatternarbiger  Forstgehilfe  vorkam,  Karten  spielen.  Blatter -
narbige  Gesichter  habe»  mir  immer  gefallen,  sie  zeugen  von  einem 
glücklich  ausgefochtenen  Duell  mit  dem  Sensenmann.  Nur  die 
Augen,  die  wasserblauen,  waren  mir  an  diesem  Forstjungen  zu 
stadtmännisch,  sie  waren  eingeglast.  Dabei  waren  sie  noch  da? 
Anmutigste  an  dem  ganze  bierfprötigen  Burschen,  ber  bie  Worte 
schlechter  warf  als  die  Karten  und  mit  seinen  langen  Armen  und 
Beinen  aller  Augenblick  irgendwo  anstieß.  So  oft  er  das  «piel 
gewann,  tröstete  er  mich,  daß  ich  wohl  um  so  mehr  Gluck  in  der 
Siebe  haben  werde.  Ich  unb  Siebe!  Gnädiger  Gott,  wo  sind  die 
Zeiten!  Das  heißt!  ...  Die  Gewinnkreuzer  wollte  er  nicht  an- 
nehmen,  mir  hatten  ja  nur  au8  Langeweile  gesattelt,  und  Geld -
verlieren  wäre  noch  schlimmer  als  Langeweile.  Als  ich  ihm  Du 
Heiligkeit  der  Spielschulden  bartat,  die  sogar  jeder  Sump  bezahlt 
und  tollte  er  so  unb  so  viel  ehrliche  Leute  darum  Prellen  müssen, 
nahm  er  das  Sündengeld,  lud  mich  aber  dafür  in  sein  Hau?  auf 
eine  Tasse  Kaffee.  Warum  ich  Dir  diesen  Forstjungen  so  gewipen- 
haft  vorstelle?  Weil  eS  kein  Forstjunge  war,  sondern  der  Sd»ul. 
lehrer.  Unb  warum  ich  Dir  ben  Schullehrer  von  Hotsendort  ve- 
schreibe?  Weil  er  mein  Wegzeiger  warb  nach  dem  Orte  meiner 
Bestimmung.  „  L ,  ... 
gottfetuna  locht.