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Witim  och,  de»  25.  April  1923 
37.Jahrgang 
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Der  finn  um  Oss  MOiek. 
Das  Schicksal  wertvoller  deutscher  Gebietsteile,  die  man 
uns  nach  dem  Zusammenbruch  entrissen  hat,  ist  entschieden. 
In  Nordschleswig,  Ostpreußen  und  Oberschlesien  haben  Volks -
abstimmungen  stattgefunden.  Das  kleine  Memelland  hat 
man  ohne  Befragung  der  Bevölkerung  zu  einem  autonomen 
Staat  gemacht.  Ein  Gebiet  bleibt  noch  übrig,  über  dessen 
Schicksal  erst  1935  durrch  Volksabstimmung  entschieden  werden 
soll,  das  Saargebiet. 
Dieses  kleine,  aber  dafür  um  so  reichere  Industriegebiet, 
mit  seinem  großen  Kohlenreichtum  ein  kleines  Ruhrgebiet,  hat 
man  der  Verwaltung  einer  vom  Völkerbund  ernannten  Re -
gierungskommission  unterstellt,  um  die  ungehinderte  Aus -
beutung  der  Kohlengruben  durch  den  französischen  Staat 
stcherzustcllen. 
Es  soll  nicht  Aufgabe  dieses  Artikels  sein,  zu  zeigen,  wes -
halb  Frankreich  ein  besonderes  Interesse  am  Saargebiet  hat 
und  mit  allen  ihm  zur  Verfügung  stehenden  Mitteln  versucht, 
dieses  wertvolle  Gebiet  für  sich  zu  gewinnen.  Und  es  glaubt, 
jetzt  besonders  gute  Chancen  zu  haben,  weil  fast  alle  höheren 
Posten  der  Verwaltung  in  französischen  Händen  sind.  Der 
Präsident  der  Regierungskommission,  der  oberste  Polizei -
direktor,  die  Regierungskommission,  die  aus  einem  Franzosen, 
einem  Belgier,  einem  Kanadier,  einem  Pariser  Rennstall- 
besiher  dänischer  Abstammung  und  einem  Frankreich  er -
gebenen  „Saareinwohner"  besteht,  sind  gefügige  Werkzeuge 
der  Annexionspolitiker  vom  Quai  d'Orsay.  Alle  jenen  deut -
schen  Beamten,  die  man  als  gefährlich  betrachtete,  hat  man 
rechtzeitig  entfernt,  und  die  höheren  Beamten,  OberregierungS- 
räte  und  RcgierungSräte,  die  heute  noch  in  der  Verwaltung 
sitzen,  sind  mit  wenigen  Ausnahmen  Kreaturen,  die  ihre  Ge -
sinnung  für  klingenden  Frankenlohn  verschachert  haben. 
Vergeblich  hat  die  französisch  orientierte  Regierungs -
kommission  versucht,  durch  die  Einführung  des  Franken  bei 
Post  und  Eisenbahn,  durch  Bezahlung  der  Bergarbeiter  in 
Franken,  durch  Propagierung  der  französischen  Schulen  mit 
allen  möglichen  und  unmöglichen  Mitteln,  durch  wirtschaft -
liche  Abschnürung  des  Saargebictes  von  seinem  deutschen 
Mutterland,  durch  Errichtung  einer  Zollgrenze  gegenüber 
Deutschland  und  sonstige  Schikanen  und  Schwierigkeiten  die 
rein  deutsche  Bevölkerung  im  französischen  Sinne  zu  beein -
flussen,  um  bei  der  Abstimmung  1935  eine  Mehrheit  für 
Frankreich  zu  erzielen.  Doch  alles  umsonst.  Nichts  hat  die 
französische  Propaganda  erreicht,  trotz  des  „rollenden  Fran -
ken".  Im  Gegenteil  muß  sestgestellt  werden,  daß  von  den  ge -
ringen  Sympachien,  die  in  kleinen  Kreisen  für  Frankreich  vor -
handen  waren,  heute  nichts  mehr  zu  spüren  ist.  Die  Wut  der 
französischen  Annexionisten  über  die  vergebliche  Liebesmühe 
ist  deshalb  begreiflich. 
Vergeblich  hat  man  gehofft,  daß  der  seit  jetzt  10  Wochen 
währende  Streik  der  Bergarbeiter  Gelegenheit  geben  würde, 
den  Belagerungszustand  zu  verhängen  und  unter  seinem  Deck -
mantel  zu  schärfsten  Maßnahmen  greifen  zu  können.  Die 
Plakate  dafür  hat  man  schon  seit  Wochen  gedruckt.  Aber  die 
organisierte  Bergarbeiterschaft  ist  sich  der  kritischen  Lage  wohl 
bewußt.  Trotz  der  Besetzung  der  Gruben  mit  französischem 
Militär,  trotz  aller  Provokationen  und  Gewalttätigkeiten  haben 
sich  die  Streikenden  nicht  eine  Minute  lang  vergessen.  Eine 
geradezu  mustergültige  Ruhe  und  Ordnung  herrscht  in  den 
Revieren.  Und  es  ist  bezeichnend,  daß  die  Zahl  der  Vergehen 
und  Verbrechen  gegenüber  normalen  Zeiten  nicht  unbeträcht -
lich  zurückgegangcn  ist. 
Noch  mehr  steigerte  sich  die  Wut  über  den  jüngsten  Rein -
fall  mit  dem  Meineidsminister  Dr.  Hector,  der  das  Ver -
trauen  zur  Regierungökommission,  das  so  wie  so  gleich  Null 
war,  vollständig  erschüttert  und  sie  der  Lächerlichkeit  der  öffent -
lichen  Meinung  preisgegeben  hat. 
Ob  die  Regierungskommission  nun  glaubt,  durch  ihre 
neueste  Schandtat  sich  mehr  Sympathien  in  der  Bevölkerung 
erwerben  zu  können?  Unter  Umgehung  der  vom  Vertrauen 
der  Bevölkerung  getragenen  Volksvertretung,  des  Landesrates, 
und  entgegen  dessen  schärfstem  Protest  hat  sie  vor  einiger  Zeit 
ein  Zuchthausgesetz  erlassen,  gegen  daö  das  Sozialistengesetz 
seligen  Angedenkens  fast  ein  Kinderspiel  war.  Sie  nennt  ea 
eine  „Notverordnung  zur  Aufrechterhaltung  der  Ordnung  und 
Sicherheit  im  Saargebiet",  wozu,  wie  wir  schon  zeigten,  nicht 
die  geringste  Veranlassung  vorlag. 
Nur  wenige  Sätze  aus  dieser  sogenannten  Notverordnung 
mögen  erhärten,  mit  welchem  Schandgesetz  man  es  zu  tun  hat. 
So  heißt  es  zum  Beispiel  in  Artikel  2: 
.Mit  Gefängnis  bis  zu  5  Jahren,  neben  den  auf  Geldstrafe  bi» 
git  10  000  Franken  erkannt  werden  kann,  wird  bestraft,  wer  öffent- 
lieb  oder  in  einer  Versammlung 
e)  den  Friedensvertrag  von  Versailler  veracht, 
lich.macht; 
Kainerad  Kevi. 
Von  Theodor  Lessing. 
rn  
AIs  der  große  europäisch«  Krieg  ausbratch  war  Siegfticd  Levi, 
der  26  Jahre  alte  Sproß  eines  Althändlers  in  Hannover,,zu  mehreren 
Militärärzten  gegangen,  um  seine  Kriegsuntauglichkeit  sich  bestätigen 
zu  lassen;  da  aber  dies«  gegen  sein  Erwarten  erklärten,  daß  sein 
Körper  vollkommen  gesund  und  schwerlich  Aussicht  vorhanden  sei, 
daß  man  bei  der  Einziehung  der  ungedienten  Ersapreserven  ihn 
übergehen  oder  entlassen  werde,  so  hatte  Levi  sogleich  die  Ueber -
zeugung  gewonnen,  daß  eine  sofortige  Meldung  Kriegsfreiwilliger 
feine  Stellung  im  Heere  günstiger  beeinflussen  werde,  als  wenn  er 
erst  abwarte,  bis  man  ihn  pflichtmäßig  zum  Kriegsdienste  heranzog; 
wobei  er  ohnehin  noch  eine  lang«  bange  Wartezeit  vor  sich  gehabt 
hätte.  Nur  durch  ein«  List  war  es  ihm  schließlich  gelungen,  a.s 
Kriegsfreiwilliger  mitgenommen  zu  werden;  denn  als  nach  zahllosen 
vergeb.ichen  Bewerbungen  ihm  Ser  Bescheid  wurde,  daß  di«  erste 
Kompagnie  des  ersten  Ersatzbataillons  zum  Linicntnfanterieregiment 
124  noch  fünfzig  Freiwillige  einstellcn  werde,  da  fand  Levi,  obwoh. 
er  zwei  Stunden  früher  als  zur  festgesetzten  Stunde  im  Hof«  der 
Regimentskaseru«  erschienen  war,  die  Treppen,  Gänge  und  Tore  des 
weitläufigen  Gebäudes  von  wenigstens  dreihundert  jungen  Leuten 
besetzt,  deren  jeder  darauf  hoffte,  daß  man  just  i  h  n  zum  Regiment 
entkleiden  werde.  Levi  versuchte  gar  nicht,  auf  Sie  zum  Musterungs -
saale  führende  Treppe  zu  gelangen,  sondern  bbeb  trt  bet*  Menschen- 
leeren  Hofe,  und  da  einig«  Fenster  de»  obersten  Stockwerks  offen -
standen,  irgendwo  aber  eine  von  den  Bkaurern  jtehengetassene  Leiter 
anlehnte,  so  stieg  er  sofort  an  einer  beliebigen  Stelle  in  die  Kaserne 
ein,  hielt  sich  bis  zur  anberaumten  Stunde  in  einer  Felle  des  dritten 
Stockes  verborgen,  tappt«  dann  bis  zum  Zimmer  des  Obersten  und 
stand  p.ötzltch  al»  erster  vor  der  AusmusteruiigSkommission.  Auf  die 
verwunderte  Frage  des  Vorsitzenden:  .WaS  wollen  Sie  denn  hier?" 
nef  Levi:  »Fürs  Voterlmid  sterben"  mit  einer  so  lebendigen  hellen 
uns  zum  Herzen  gebenden  Stimme,  daß  sie  Herren,  weich«  sich  er- 
staunt  und  zweifelnd  anblickten,  auf  dte  überreichten  Atteste  der 
Militärärzte  hin,  den  Mann  in  di«  Stammrolle  de»  Regiment«  ein- 
schrieben.  Und  so  war  et  denn  Soldat  geworden,  nachdem  er  bisher 
*)  Diese»  Meisterstück  deutscher  Erzählungskunst  entnehmen  wir  dem 
Tagebuch",  Herausgeber  Stefan  Großmann,  Rowohll-Berlag,  Berlin. 
b)  ferner,  wer 
k.  den  Völkerbund,  dessen  Mitglieder  oder  die 
Signatar  möchte  des  Friedensvertrages  von  Ver -
sailles  ; 
2.  bie  Regierung  deS  Saargebiets,  ihr«  Mit- 
glieder  oder  die  von  chr  getroffenen  Einrichtungen  oder 
die  Beamten,  die  beauftragt  sind,  diese  Einrichtungen 
durchzuführen  oder  in  Gang  zu  halten,  beschimpft 
oder  verleumdet;  usw.  usw. 
Was  heißt  Berächtlichung  des  Versailler  Vertrages.  Man 
bedenke  ferner:  „Wer  eine  der  Signatarmächte  des  Friedens -
vertrages"  usw.  Die  Regierungskommission  fühlt  sich  schein -
bar  berufen,  die  Negerrepublik  Liberia  oder  ähnliche  Staaten, 
die  ja  auch  mit  zu  den  Unterzeichnern  des  Friedensvertrages 
gehören,  in  Schutz  zu  nehmen.  Woher  nimmt  sie  sich  dazu 
das  Recht?  Oder  fürchten  Herr  Poincarö  und  sein  Knappe 
Dariac  die  Kritik  so  sehr,  daß  man  sie  durch  ein  solches 
Schandgesetz  ersticken  will?  Schließlich  findet  man  es  be -
greiflich,  daß  die  hohe  Völkerbundsregierung  ihre  Beamten 
„schützen"  zu  müssen  glaubt.  Denn  manche  unter  ihnen  sind 
so  schwer  kompromittiert  und  haben  so  viel  Dreck  am  Stecken, 
daß  man  nicht  ohne  Grund  ähnliche  Prozesse  wie  den  Fall 
Hector  fürchtet.  Darum  hat  man  in  dieser  Verordnung  auch 
der  Zeitungen  besonders  gedacht,  die  auf  die  Dauer  von 
4  Wochen  verboten  werden  können. 
Die  einzelnen  Bestimmungen  dieser  Verordnung,  die  aus 
19  Artikeln  besteht,  sind  für  das  politische  Leben  des 
Saargebiets  von  so  einschneidender  Bedeutung,  daß  es 
dadurch  überhaupt  unmöglich  gemacht  und  er -
drosselt  wird.  Infolge  der  Dehnbarkeit  der  Bestimmungen 
hinsichtlich  chrer  Auslegung,  der  furchtbaren  Härten  in  den 
Strafbestimmungen  (Zuchthaus  und  Geldstrafen  in  unbe -
grenzter  Höhe)  sind  Presse,  Parteien,  Versammlungen,  über -
haupt  jede  öffentliche  Tätigkeit,  vollständig  mundtot  gemacht. 
Einige  Opfer  liegen  schon  auf  der  Strecke.  Den  verant -
wortlichen  Redakteur  unseres  Parteiorgans  in  Saarbrücken, 
Genossen  R  a  l  o  f  f,  hat  man  ausgewiesen  und  damit  unserm 
Parteiblatt,  das  am  energischsten  für  die  Interessen  der  Saar- 
einwohnerschaft  eingetreten  ist,  den  fünften  Redakteur  ge -
raubt.  Alle  größeren  Blätter,  darunter  auch  die  „Volks -
stimme",  sind  von  längeren  Verboten  betroffen  worden.  Alle 
Versammlungen  unserer  Partei  sind  verboten. 
2lit  die  Arbeiter  aller  Länder! 
sn 
(Fortsetzung  folgt.) 
Der  Frieden  Europas  ist  neuerlich  in  Gefahr.  Der  Krieg 
ist  noch  nicht  da,  aber  es  kann  dazu  kommen,  wenn  die  inter -
national  vereinigten  Arbeiter  dieser  Gefahr  nicht  entgegen -
wirken. 
Ueberall  ist  die  Reaktion  am  Werke  und  sucht  ihre  Herr -
schaft  zu  festigen. 
Ueberall  zeigt  sich  sozialer  Rückschritt.  Und  die  gleiche 
Tendenz  ist  in  politischer  und  wirtschaftlicher  Hinsicht  wahr -
zunehmen. 
Diktatur  und  FasziSmuS  in  allen  Spielarten  sind  das  Ge -
präge  unserer  Zeit.  Beides  Bewegungen,  die  auf  den  Unter -
gang  Ler  Freiheit  zielen. 
Diese  Situation  hinzunehmen,  würde  heißen,  eine  sichere 
Versklavung  in  der  Zukunft  akzeptieren. 
Es  hieße  anerkennen,  daß  von  jetzt  ab  Gewalt  und  Unrecht, 
soziale  Ungerechtigkeit  und  Ausbeutung  über  die  Völker  allein 
Macht  haben  sollen. 
Es  hieße  sich  mit  der  Herrschaft  brutaler  Gewalt  abfinden 
und  Verzicht  leisten  auf  eine  Ordnung  der  Freiheit  und 
menschenwürdiger  Arbeit,  die  zu  errichten  Aufgabe  der  Ar -
beiterorganisationen  der  ganzen  Welt  ist. 
Die  Arbeiterorganisationen  werden  an  ihrem  Ideal  nicht 
Verrat  üben.  Dieses  Ideal  ist  ihr  gemeinsames  und  ge -
heiligtes  Gut,  die  Rechtfertigung  ihres  Daseins,  ihre  Hoffnung 
auf  eine  bessere  Zukunft. 
Wenn  ihre  Freiheiten  in  Gefahr  geraten,  die  Errungen -
schaften  der  Vergangenheit  bedroht  werden,  dürfen  die  Arbeiter 
nicht  untätig  bleiben. 
Wenn  die  Plutokratie  der  ganzen  Welt,  um  ihre  politische 
und  wirtschaftliche  Herrschaft  zu  befestigen,  die  Rückkehr  zu 
langen  Arbeitszeiten  und  niedrigen  Löhnen  anstrebt,  die  Unter -
drückung  der  gewerkschaftlichen  Freiheit  verlangt  und  die 
Wiederkehr  jener  Zeit,  in  der  sich  das  Unternehmertum  von 
Gottes  Gnaden  dünkte,  dann  fordert  Pflicht  und  Interesse  der 
Arbeiterschaft,  dieses  schändliche  Vorhaben  zunichte  zu  machen 
und  es  zu  beantworten  mit  einem  Kampf  für  neue  Freiheiten 
und  ein  besseres  Dasein. 
Die  Befreiung  der  Arbeiter  verlangt  zunächst  die  Aufrecht -
erhaltung  der  erworbenen  Rechte,  die  dazu  dienen  sollen,  neue 
zu  erwerben.  Gegenüber  dem  internationalen  Zusammenschluß 
fitinst,  Wissenschaft  nnb  Leven. 
Anläßlich  des  60.  Geburtstages  dcS  Dichters  Arno  Holz 
erließ  die  „Bremer  BvlkSzeUung'  einen  Ausruf  zur  Unterstiitzitns 
de»  in  ärmlichsten  VerhSlinissen  lebenden  Dichter»,  der  da»  erfreu- 
liche  Ergebnis  hatte,  daß  in  wenigen  Tagen  rund  160  000  Match 
hauptsächlich  au»  proletarischen  Kreisen,  gezeichnet  wurde». 
Dar  entscheidenden  Schritten. 
Die  Beratungen  des  Reichskabinetts  über  den  Inhalt  einest 
deutschen  Angebots  scheinen  langsamer  sortzuschrei- 
ten,  als  es  die  Situation  erfordert.  Wenn  wir 
auch  keineswegs  die  Schwierigkeiten  verkennen  wollen,  so  müssen 
wir  doch  nachdrücklich  daraus  Hinweisen,  daß  die  angelsächsische 
ösfentliche  Meinung  ein  Hinauszögern  der  Antwort  nicht  ver -
stehen  würde.  Man  würde  dadurch  die  durch  die  Rede  Lord 
Curzons  geschaffene  Atmosphäre  der  Vermittlungsbereitschaft 
stören.  Bedenklich  stimmt  ea,  daß  das  Kabinett  sich  noch  nicht 
klar  darüber  ist,  ob  ein  Angebot  unter  Nennung  einer  festen 
Summe  gemacht  werden  oder  ein  solches  lediglich  umschrieben 
werden  soll,  wie  aus  Berlin  verlautet.  Was  unter  einer  solchen 
Umschreibung  verstanden  werden  soll  und  wem  mit  einer  solchen 
Umschreibung  gedient  ist,  ist  nicht  recht  ersichtlich.  Wir  sind 
aber  der  Auffassung,  daß  es  sehr  wesentlich  darauf  an -
kommt,  eine  feste  Summe  zu  nennen,  daß  die  Vermeidung 
einer  festen  Ziffer  geradezu  einen  katastrophalen 
Eindruck  im  Ausland  machen  würde.  Deutschland  muß  sich 
aber  vorbehalten,  über  die  genannte  Ziffer  hinaus  die  end -
gültige  Festsetzung  der  deutschen  Leistungsfähigkeit  einem  inter -
nationalen  Gremium  zu  überlassen.  Dabei  darf  sich  die  deutsch« 
Negierung  nicht  auf  den  Vorschlag  des  amerikanischen  Staats« 
sckretärs  Hughes  stützen,  da  aus  der  Rede  Lord  Curzons  trotz 
eines  hier  seftzustellenden  Widerspruches  deutlich  hervorgeht, 
daß  ein  solches  neuerliches  Zurückgreifen  auf  diesen  Vorschlag 
unerwünscht  wäre.  Zweifellos  ergeben  sich  Schwierig -
keiten  darüber,  w  i  e  eine  solche  Instanz,  die  die  deutsche  Lei -
stungsfähigkeit  bestimmen  soll,  zusammengesetzt  sein  muß,  um 
sowohl  den  deutschen  Notwendigkeiten  zu 
entsprechen,  als  auch  die  französische  Vor- 
ei"genommenheitzubrechen.  In  Frage  kommt  da- 
her  kaum  jenes  Kollegium  neutraler  Sachverständiger,  das  den 
HugheSschen  Vorschlag  kennzeichnet.  Der  letzte  englische  Zah -
lungsplan  Bonar  Laws  schlug  ein  Tribunal  von  5  Vertretern 
der  alliierten  Länder  und  2  Neutralen  vor  —  unter  Vorsitz  des 
Reichsfinanzministers,  der  allerdings  kein  Stimmrecht  haben 
sollte.  Wenn  auch  eine  solche  Zusammensetzung  bedenklich  er -
scheint  und  für  Deutschland  eine  schwere  Belastungsprobe  be -
deutet,  so  ist  doch  diese  Basis  anzunehmen  und  von  deutscher 
Seite  die  Forderung  zu  erheben,  daß  dieses  Gremium  zumindest 
durch  einen  ober  zwei  deutsche  Sachverständige  mit  be -
schließender,  nicht  bloß  beratender  Stimme  ergänzt  wird. 
Die  Regelung  der  Sicherheiten  kann  keine  Schwierigkeiten 
machen.  Die  deutsche  Reichsregierung  wird  sich  bereiterklären 
müssen,  alle  Sicherheiten  zu  leisten,  die  mit  der  Aufrecht -
erhaltung  der  deutschen  Souveränität  vereinbar  sind.  Die 
Räumung  des  Ruhrgebietes  muß  im  Zusammenhang  mit  den 
genannten  Fragen,  die  neben  der  Nennung  einer  Ziffer  den  wich -
tigsten  Punkt  der  Tagesordnung  zu  bilden  hat,  verhandelt 
werden. 
Die  gesamte  ausländische  Presse  ist  voll  von  Gerüchten 
und  Meinungsäußerungen  über  die  bevorstehenden  deutschen 
Angebote.  Daraus  geht  insbesondere  mit  letzter  Deutlichkeit 
hervor,  welchen  schweren  politischen  Fehler  ein  vages  Angebot 
von  deutscher  Seite  bedeuten  würde.  In  Frankreich  nicht  nur, 
sondern  auch  in  England  würde  eine  solche  Fassung  nicht  ver -
standen  und  als  eine  Ausflucht  von  deutscher  Seite  betrachtet 
werden. 
Schwierig  ist  überdies  eine  technische  Frage,  die  für  Deutsch -
land  nicht  unwichtig  ist.  Sowohl  in  England  als  in  Frankreich 
ist  man  der  Meinung,  daß  sich  Deutschland  mit  seinen  Vor -
schlägen  nicht  an  England,  sondern  an  Frankreich  und  Belgien 
zu  wenden  habe.  Der  „Evening  Standard"  schreibt  geradezu, 
eä  sei  der  deutschen  Negierung  vollkommen  klar  gemacht  worden, 
daß  Lord  Curzons  Rede  in  keiner  Weise  als  Einladung  an  den 
Reichskanzler  Cuno  und  seine  Kollegen  angesehen  werden  könne, 
irgendeinen  andern  Schritt  als  einen  direkten  an  die  fran -
zösische  und  belgische  Regierung  zu  unternehmen.  In  einsluß- 
reichen  politischen  Kreisen  in  London  ist  man  allgemein  der  Mei -
nung,  daß  die  deutsche  Regierung  jetzt  einen  vernünftigen  Stand -
punkt  einnehme  und  die  Tatsache  anerkenne,  daß  Curzons 
Rede  den  Zweck  verfolgt  habe,  den  Weg  vorzubereiten,  und  daß 
dieser  Zweck  auch  nicht  verfehlt  wurde. 
Wenn  wir  auch  dieinnerpolitischenSchwierig- 
teiten  eine«  direkten  Schritte«  in  Frankreich  und  Belgien 
einsehen  und  nicht  verkennen,  daß  ein  solcher  Schritt  bei  den 
polifisch  rechtsstehenden  Freunden  der  Regierung  Mißfallen  er -
regen  würde,  sind  wir  doch  der  Meinung,  daß  auch  hier  ein  tak -
tischer  Fehler  nach  außen  die  ganze  Aktion  gefährden  würde. 
Es  scheint  unsere«  Erachten«  richtig  zu  sein,  wenn  sich  die  Re -
gierung  entschließt,  ihr  Angebot  ag  sämtliche  Signatare  (Unter -
zeichner)  de«  Versalller  Friedensvertrages  direkt  und  einzeln  zu 
übersenden. 
Sollte  sich  die  Regierung  durch  wohlmeinende,  aber  polfiucy 
instinktlose  Freunde  wieder  auf  den  Weg  einer  Verzögerung  und 
Der  Ttreik  der  Saarbergarbeiter  dauert  in  der  siebten  Woche 
fort.  Der  Schaden,  der  der  saarländischen  Wirtschaft  dadurch  er -
wächst,  ist  ungeheuer.  Ter  tägliche  ProduklionSausfall  wird  auf 
2  400  000  Franken  berechnet.  Der  sranzöflsche  Staat  bat  einen 
Ausfall  an  Einnahmen  von  150  Millionen  Franken  bisher  er -
litten.  Tie  Arbritersckaft,  die  in  ihrem  Willen  zu  weiterem 
Durchhalten  nicht  erlahmt,  hat  einen  Verdienstverlust  von  67 
Millionen  Franken  zu  beklagen.  In  der  Saarindustrie,  in  der  es 
infolge  Kodlenmangel?  zu  erheblichen  Betriebceinschränkungen 
gekommen  ist,  ist  ein  Lohnausfall  von  rund  21  Millionen  Franken 
zu  errechnen.  Staat  und  Kommunen  haben  großen  Ausfall  an 
Steuern;  sie  werden  auf  zirkt  14  Millionen  Frauken  berechnet. 
Das  geschäftliche  Leben  ist  fast  zum  Stillstand  gekommen,  da  die 
Kaufkraft  der  Bevölkerung  in  den  leht-n  Monaten  stark  nachge -
lassen  hat.  Die  gesamten  Auswirkungen  des  Streiks  lassen  sich 
heute  noch  gar  nicht  absehen,  da  eine  Verständigung  im  Streik 
noch  immer  auf  sich  warten  läßt. 
wie  auf  dem  Kasernenhof  dahinscKurfte.  Meine  Herrn,  tagte  er 
-u  feiner  Umgebung,  jeder  menschliche  Körper  hat  bestimmte  Takte 
und  Zählzeiten.  nach  denen  er  sich  am  leichtesten  bewegen  läßt; 
doS  mutz  man  ausprobieren;  was  mich  betrifft,  so  ziehe  ich  gogeu- 
wärtig  vor  bie  Melodien:  ,C  teure  Mutter,  du  barfit  nickt  sterben! 
und  .Ich  hab'  um  sechs  ein  Rendezvous,  mit  dem  Schatz,  mit  dem 
Fratz,  mit  der  Erika";  weil  e?  Melodien  sind,  die  der  Einstellung 
meiner  Peda.e  am  besten  entsprechen.  Dieses  mechanische  Tahin- 
jirlpern  nach  einer  Million  Maie  wieberhoiten  Melodie  schien  sein« 
Kraft  zusammenzuhalten  und  noch  beute  geschieht  es,  daß,  wenn  ich 
iroenbeine  Opernmelobie  hör«,  wieder  das  Bild  deS  trunken 'eben 
Kameraden  vor  mir  auftaucht,  wie  er  in  gleichmütigiter  Seelenrube 
und  mit  einer  mchlichen  Verdrossenheit  die  langen  sumpfigen  oder 
hartgefrorenen  Landstraßen  dahinsckürft.  Dabei  sog  er  oestanrn» 
tut  unauflöslichen  GummibcmbonS,  wovon  er  freigebig  allen  9inc6« 
harn  abaab.  „Tiefe  Gummistangen,  meine  Herm",  sagte  er,  „.tobe 
ich  sogleich  nach  Ausbruch  d«S  Krieges  in  großen  Posten  aus  Amerika 
importieren  lassen,  denn  man  kann  nicht  wissen,  wie  lang«  sie  noch 
zu  haben  find.  In  Deutschland  fabrizieren  wir  nichts  AehnlicheS, 
denn  sie  haben  die  Eigenschaft,  daß  man  sie  nicht  verschlucken  kann 
und  viel«  Stunden  lang  saugen,  ehe  sie  sich  auszulösen  beginnen; 
dadurch  kann  man  auf  dem  Marsch  seinen  ©mimen  feucht  er  halten; 
denn,  seh'n  Sie,  meine  ferm,  was  ist  e»  für  ein  verkehrte»  Beug», 
was  die  andern  Herrn  kauen.  Manche  rauchen  auf  dem  Marvch 
Zigaretten;  das  werden  sie  bereuen,  denn  ek  verdirbt  baryitig  bie 
feinen  Kanäle  der  Bronchien  unb  bk  Gefäße;  auch  führen  einige  von 
Ihnen  Kolapastillen  bei  sich,  bie  andern  Zucker,  wobei  man  in  wenigen 
Sekunden  den  Bonbon  aufläft  und  bann  hat  man  das  Gift  tm  Blute. 
der  Profitmacher  und  Ausbeuter  muß  die  internationale 
Solidarität  des  organisierten  Proletariats  eine  Tatsache 
werden. 
Je  dreister  sich  die  Reaktion  gebärdet,  je  kühner  die  An -
griffe  auf  die  freiheitlichen  Ideen  und  die  Würde  der  Arbeit 
werden,  um  so  intensiver  müssen  sich  die  Massen  zur  Wehr 
setzen. 
„Die  Befreiung  der  Arbeiterklasse  kann  nur  daö  Werk  der 
Arbeiter  selbst  sein!"  Das  will  heißen,  daß  die  Arbeiter  nur 
durch  eigene  Kraft  und  ihre  eigenen  Mittel,  und  nur  durch 
diese  allein,  imstande  sind,  das  entwürdigende  Joch  der  moder -
nen  Lohnsklaverei  abzuwerfen  und  durch  neue  moralische  und 
materielle  Erfolge  ihre  endgültige  Befreiung  vorzubereiten. 
Der  1.  Mai  1923  muß  in  entscheidender  Weise  der  Welt 
das  Erwachen  des  Bewußtseins  der  international  organisierten 
Arbeiterklasse  künden. 
Die  Nöte  der  Gegenwart  und  die  Gefahr  neuer  blutiger 
Konflikte  müssen,  weit  davon  entfernt,  uns  zu  entmutigen, 
unsern  Glauben  im  Gegenteil  noch  festigen  und  neue  Begeiste -
rung  und  Entschlossenheit  wecken,  um  die  Mächte  der  Finsternis 
und  Unterdrückung  endgültig  zu  besiegen. 
Immer  drohender  werden  diese  Gefahren,  und  darum  muß 
auch  unsere  Aktion  eine  immer  energischere  werden. 
Nationalismus,  Imperialismus,  Militarismus  wünschen 
ein  neues  Blutbad  herbei,  von  dem  sie  sich  ein  neues  Erwürgen 
der  Völkcrfreiheit  versprechen. 
Die  Arbeiter  aber  wollen  den  Frieden,  der  die  Arbeit  von 
ihren  Fesseln  befreien,  den  Völkern  ihre  Unabhängigkeit  sichern 
und  eine  bessere  Zukunft  vorbereiten  soll. 
Möge  der  1.  Mai  1923  in  überwältigender  Weise  diesen 
Willen  tunbtun,  der  sich  auf  Vernunft  und  Recht  stützen  kann. 
Und  möge  das  Proletariat  aller  Länder  an  diesem  traditio -
nellen  Tag  der  Arbeiterforderungen  der  Welt  die  unbezwing -
liche  Macht  der  internationalen  Solidarität  der  Arbeit  de -
monstrieren. 
DaS  Bureau  des  Internationale»  GewerkschaftSbuudeS: 
3.  H.  Thomas  (England),  Vorsitzender. 
L.  Jouhani  (Frankreich),  $6-  Lcipart  (Deutschland),  6-  Metern», 
(Belgien),  Vizevorsitzende. 
E.  Fimmen,  I.  Oudegcest,  I.  Sassenbach,  Joh»  W.  Brown,  Sekretäre. 
Und  alles  das  geschieht  Unter  dem  Regime  einer  vom 
Völkerbund  eingesetzten  Regierung.  Der  Völker -
bund  hätte  hier  Gelegenheit  gehabt,  zu  zeigen,  daß  er  wirklich 
eine  zentrale,  über  den  Nationen  stehende  Institution  ist,  bei 
der  für  alle  gleiches  Recht  gilt.  Im  Saargebiet  ist 
das  aber  alles  zur  Farce  geworden.  Denn  die  hohe  Negie- 
rungökommission  hat  sich  zu  einer  will  f  ähr  igen  Hand -
langerin  der  Herren  Poincarü  und  Dariac  und  ihres 
schwerinduftriellen  Anhangs  herabgcwürdigt  und  dadurch  den 
Völkerbund  in  schwersten  Mißkredit  gebracht. 
In  diesen  Tagen  ist  in  Genf  der  Völkerbundsrat  zu  einet 
neuen  Tagung  zusammengetreten.  Die  Vertreter  der  poli -
tischen  Parteien  und  der  Presse  beS  Saargebiets  weilen  in 
Genf,  um  ihm  bie  schärfsten  Proteste  bet  Saarbevölkerung 
gegen  bas  Willkürregiment  zu  überreichen.  Da  wirb  er  Farbe 
bekennen  unb  zeigen  müssen,  ob  er  wirklich  gewillt  ist,  ben 
französischen  Ucbergriffen  und  Ungehörigkeiten  (um  nicht 
schärfere  Ausdrücke  zu  gebrauchen)  ein  Ende  zu  machen  und 
auch  die  Rechte  der  Saarbevölkerung  zu  wahren.  Wenn  er 
nicht  alles  Vertrauen  verlieren  will,  dann  ist  es  feine  ver -
dammte  Pflicht  unb  Schulbigkeit,  hier  einzugreifen  unb  fran -
zösischer  Willkür  unb  Brutalität  ein  Ende  zu  machen. 
Daß  auch  biese  neuesten  Drangsalierungen  an  der  Ge -
sinnung  der  deutschen  Bevölkerung  des  Saargebietes  nichts 
ändern  werden,  braucht  wohl  nicht  besonders  betont  zu  werden. 
K.  R. 
jene»  schon  von  Vater  und  Großvater  ererbte  Geschäft  in  der  Burg- 
straße  innegehabt  hatte,  au»  welchem  bank  seiner  Tüchiiikeit  ein  in 
6er  ganzen  Stadt  angesehener  „Salon  d’antiquites"  erstanden  war, 
welcher  nach  Ausbruch  des  Krieges  ein  neues  Firmenschild  erhiefl 
und  seither  als  „Deutsches  Hau?  für  Altertümer"  wohlbekannt  ist. 
Ta  er  nun  frisch  und  fröhlich  in  den  gewaltigen  Krieg  cinrücken 
sollte,  erschien  er  unter  den  hellbegeisterten  blonden  norddeutschen 
Jungen  rote  ein  kostbares  und  feines  ober  etwa»  verstaubte»  Alter -
tum  aus  einer  fernen  Vorzeit;  in  der  Haltung  ohne  die  martialische 
Strafheit;  im  Gang  was  man  latschig  nennt;  im  ewig  sorgenvollen 
und  verloschenen  Antlitz  die  verdrossene  Gleichgültigkeit  vie.er  über 
nichts  mehr  verwunderter  Jahrhunderte,  and  die  Bein«  endlich  so 
unheilbar  krumm,  daß  jeder  Oftizier  ober  Unteroffizier,  der  uns  im 
Exerzieren  ausbildete,  unfehlbar  seine  tägliche  Kasernenbofblüte  von 
Kamerad  Levis  Seinen  pflückte,  wie  etwa:  Lie  schwer«  Artillerie 
werde  durch  Levi»  Seine  durchzielen,  aber  diese  Beine  bildeten  da» 
Loch  in  der  deutschen  Front  durch  welche»  die  Males  zfranzofen  eines 
Tage»  in  Deutschland  eindringen  würden  und  dergleichen  Spaße 
und  Spassettoln  mehr.  Levi  nahm  solche  Ausstellungen  mit  einer 
unerschütterlichen  Gemütsruhe  entgegen,  ja  erzählte  witzige  Bemer -
kungen  über  seine  Beine  gerne  selber  und  lächelte  Lazu  wehmütig 
anerkennend,  so  weit  in  seinem  adeingefauften  Gesicht  das  fröhliche 
Lacken  zu  Hause  war;  denn  man  hat  ihn  nur  feiten  lachen  gesehen. 
Wahrend  der  zwei  Monate  unserer  Ausbildung  tat  er,  war  eben 
besohlen  wurde,  aber  niemals  einen  Handgr'fi  mehr,  und  da  er  jede 
unnötige  Bewegung  verabscheute  und  dem  Fedwebel  beständig  m;t 
Zeugnissen  airfroartete.  welche  ihn  heute  vom  Reckturnen  „wegen 
«chmerzen  in  der  Kniekehle"  morgen  vom  Everzieren  „wegen  Ent -
zündung  eines  Nagels"  befreiten,  so  galt  er  ats  „der  größte  Drücke- 
berget"  in  der  Kompagnie  und  genoß  unsere  allgemeine  Mißachtung. 
Denn  wir  andern  waren  jung  und  ftöhuch,  mit  Begeisterung  und 
Zorn  wie  mit  Elektrizitäten  geladen  und  im  Überschwäng  tchen 
Augenblick  unsere»  Leven?  zum  Ausflug  in  den  Himmel  de?  Mutes 
bereit;  und  so  wirkte  so  ein  Kamerad  wie  Bleigewicht  an  aus- 
gespannten  F.ügeln.  War  c8  also  verwunderlich,  daß  wir  alle  ihn 
mieden,  als  wenn  der  Teufe,  in  ihm  wäre?  Leutnant  von  Lieven 
pflegte  zu  sagen:  „Sein  Gefickt  verdirbt  mir  vas  ganze  Vergnügen 
am  Kriege";  ja  mehr  al»  einer  schwur  beimlich,  daß  diesem  Spötter 
im  Felde  kern  lange»  Leben  betchieden  sein  werden;  vor  allem  der 
Lssizierstellvertreter  Kracht,  ein  kolossaler  Mann  von  deutschem 
Schrot  und  Rom,  ein  blonder  Riese,  der  den  Beinamen  „der  Ger- 
manenkömg"  führt«,  konnte  ben  lächerlichen  Soldaten  nicht  fetfn  und 
nicht  riechen  und  äußerte  gemütlich  unter  Kameradent  „Ich  werde 
ihn  draußen  auf  eilte  Patrouille  schicken,  die  da»  deutsch«  Heer  von 
einem  unnützen  Mitesser  befreit." 
Vier  Wochen  später  brachen  wir  auf.  G4  war  der  27.  September. 
Erst  im  Eisenbahnwagen,  zu  vielen  Tausenden  verladen,  wurde 
mitgeteilt,  wohin  unsere  Bestimmung  führ«:  nicht,  wie  wir  all«  ge» 
glaubt  hatten,  zum  Kamps  gegen  Frankreich,  sondern  in»  nördliche 
Belgien,  wo,  nachdem  Brüssel  und  Gent  soeben  von  den  Deutschen 
besetzt  waren,  ein  heftiger  Kampf  um  Antwerpen  und  um  Sie  Küste 
der  Nordsee  geführt  werden  muht«.  Auf  der  endlos  langen  Babn- 
fahrt,  wo  wir  trn  ganz  kleinen  Stationen  stundenlang  liegen  b-ieben, 
bis  wir  schließlich,  nach  fast  vierzehnstündiger  Fahrt,  m  Aachen 
landeten,  saß  Levi,  ohn«  Waffenrock,  in  Hemdsärmeln  in  einem 
liste  im  Tornister  trage. 
Rack  unserer  Ausladung  in  Belgien  begannen  jene  furchtbaren 
Märsche  an  den  Feins  heran,  auf  wecken  wir  Tag  für  Tag  auf  Sen 
groben  Beginn  der  „Feuertaufe"  warteten.  Ick  hielt  mich  nun  i 
absickt  ich  in  ser  Nähe  Levis,  nickt  nur,  weil  Vieser  Mann  mich  j 
lebhaft  interessierte,  sondern  weil  seine  Nachbarschaft  auf  dem 
ICTLClErcn,  faß  -CCVl,  DIMl'V  ti.su  W 
Winke!  de»  großen  Biehtransportwagen-  uns  erteilte  strategische  ■ 
Auskünfte,  ck»  war  erstaumich.  Sein  Gehirn  besaß  di«  merk-  | 
würdigsten  Kenntnisse  oller  möglicken  PersonalverbinSungen.  Wenn  ; 
man  ihn  nach  Sem  Standort  eines  Regimentes  behagte,  so  wußte 
er  nickt  nur  zu  sagen,  wo  das  Regimes  gegenwärtig  stünde,  ion- 
Sern  schnurrte  die  Ramen  der  Führer  her;  wußte  in  der  Bemrd«. 
rungsgeschickte  Kluck»,  Hindenburg»,  EmmichS  Bescheid,  brachte 
fertig,  sämtliche  v.  Bülows  und  v.  Moltke»  der  Rangiiste  ausem- 
anSer  zu  hatten,  indem  er  Verwandtsckasts-  und  Personalbeziebun- 
gen.  Heirat»,  und  Erbschartsanoeiegenheiten  eine»  jeden  kannte,  die  . 
dock  seden  andern  Menschen  vollständig  gleichgültig  lassen.  Der  ! 
junge  Leutnant  b.  Lieven,  der  mit  uns  reiste,  rief  ein  über  da» 
andere  Mal:  „Teufel!  wober  weiß  er  da»?",  al»  Levi,  rufrlg  m 
seiner  Ecke  kauernd  und  mit  einem  Büeistift  Konturen  von  Stamm-  i 
bäumen  durck  die  Luft  ziehend,  barlegte,  daß  Sie  Lieven»  mit  v  und  j 
die  mot  f  verschiedenen  Ursprungs  seien,  daß  der  Hauptmann  | 
».  Lieven  in  Stargard  und  Ser  Major  Liefen  in  Königsberg  un- 
niögttck  verwandt  lein  könnten  und  daß  di«  Familie  des  Leutnant» 
mit  jener  fürstlichen  Familie  verwandt  sei,  di«  vor  hundert  Jahren 
noch,  wie  er  fester  Levi  geheißen  habe,  aber  beim  Uebertritt  ge- 
ase.t  worden  fei.  Der  Heine  Leutnant,  auf  solche  Tinge  zum 
ersten  Mal«  hingewiesen  und  von  Levi«  ifl«rzcugenden  Kenntnissen 
ganz  überwältigt,  begann  Sen  Vielwisser  „unheimlich"  zu  finden  und 
eriäMte  mit  Grauen,  daß  der  Mann  an  Stelle  der  Soldatenbibel  eine 
mit  weißem  Papier  und  bieten  Bleistiftnotizen  durchschossen«  Rang -
i  schweren  Marsche  mir  viele  Srteichterungen  brachte.  Sr  hatte  zu- 
nächst  die  Gewohnheit,  beständig  Opern-  und  Cperettenmcloaen 
!  vor  sich  hinzubrummeln,  nack  deren  Rhythmen  er  übrigens  genau