Ur. 118 Mittwoch, den 30. April 1934 38. Jahrgang Fehlandstrabe U tm ersten Stod (»14 7 Uhr abend* fin den folgenden lag) tn den Filialen (616 8 Uhr" und jjj allen rlnnoncen-Bureau*. Platz, und Tatenvorfchrtsten ahne verdlndltchkett. Knieieett»refl« verstehe» st» in (eolbmatr: die 18aefuc.lt Sl'l'eile 40 Pfg. Vnttate milte».»n,einen 20 >Uf a . eilenanaeboie 25 Dfennlg, etcOtiigrfuihe 20M» Steine •K.iAeigen d>S t> Zeit die grüe 20tfg.,10b.nr3etl.25$tv. '.XeHninej 2 Mk Anzeigen müssen Im voraus oder sofort dezahlt werden. Setzugtzprei» für Udholer 0,55 Mark. lu® durch d.Post »u beziehe». Preise freibleibend. Redaktion! sthlandstrabrlt, erster «todt Verantwortlicher Redakteur: Pani ikiugdahn. Altona. Anzeigen. Annahme: F-Hlandstratze U, L Stock, vuchhandlung: Srdgeschob. Buchbruckerei-Sontor: Kehlandstratzell, ersterStock. KamvurgerEcho Unser Tag! Am 20. Juli 1889 beschloß der „Internationale Arbeiterkongreß" zu Paris: .... für einen bestimmten Zeitpunkt eine grosse internntio nale Kundgebung zu organisieren, und zwar derart, daß gleich - zeitig in allen Ländern und in allen Städten die Arbeiter an Sie öffentlichen Gewalten die Forderung richten, den Arbeitstag auf 8 Stunden festzusetzen und die übrigen Beschlüsse des internatio - nalen Kongresses von Paris zur Ausführung zu bringen. In Anbetracht der Tatsache, daß eine solche Kundgebung bereits von dem Amerikanischen Arbeiterbund . . . für den 1. Mai 1890 be - schlossen ist, wird dieser Zeitpunkt als Tag der internationalen Kundgebung angenommen." Aus dem Protokoll des Pariser Kongresses geht hervor, daß man diese Aktion für den Arbeiterschutz nicht leichten Her - zens gefaßt hat. Der englische Delegierte Enninghame Gra - ham hatte erklärt, daß es wenig Sinn habe, den englischen Proletariern von der Revolution der Zukunft zu erzählen, solange es praktische Aufgaben für die Gegenwart gebe. Der Deutsche Kloß aber erklärte, daß die praktische Ar - beit am Arbeiterschutz den ersten Schritt zur Bildung und Festigung des Ksassenbewußt- scins bilde. Diesen Anschauungen traten die fran - zösischen und englischen Anarchisten leidenschaftlich entgegen. Sie fürchteten eine Schändung des revolu - tionären Gedankens. Dennoch entschloß sich der Kon - greß. Und der Sinn dieses Entschlußes ist:der Arbeiter- schutz ist die erste Station des revolutionären Aufstiegs der Arbeiterschaft und die revolu - tionäre Aufgabe ist weiterhin die letzte und endgültige Aufgabe des Sozialismus. Darum, Kameraden der Arbeit, sei uns der 1. Mai ein Tag der Besinnung, die uns den Sinn unseres Wollens und Handelns zur Klarheit und Gewißheit verfertige. Tag der Feier! Tag der Besinnung! Was bedeutet die Rede von der revolutionären Aufgabe des Sozialismus? Lassalle sagt in seiner Verteidigungsrede „Die Wissenschaft und die Arbeiter": .... Revolution heißt Umwälzung, und eine Revolution ist somit stets dann emgetreten, wenn, gleichviel ob mit oder ohne Gewalt — auf die Mittel kommt es dabei gar nicht an — ein ganz neues Prinzip an die Stelle des bestehenden Zustandes ge - setzt wird. Reform tritt dagegen ein, wenn das Prinzip des be- itehenden Zustandes beibehaiten und nur zu milderen oder ton» fcQuenteren und gerechteren Folgerungen entwickelt wird. Auf die Mittel kommt es dabei wiederum nicht an. Eine Reform kann üch durch Aufstand und Blutvergießen durchsetzen und eine Re - volution im größten Frieden . , .' Achnlich entwickelte Marx an vielen Stellen seines Werkes den Gedanken der Revolution als eines historischen Prozesses, und zwang der Lehre des Sozialismus die Zucht und den Takt des geschichtlichen Denkens auf. Seitdem ist im Sozialismus für die Rezeptemacher und Lokalputschisten kein Platz mehr, seitdem gibt es im Sozialismus den Begriff für das gegen - wärtig Mögliche und Nützliche und das zukünftig Notwendige und Unentrinnbare; seitdem gibt es im Sozialismus den Begriff für Grenzen, gibt cs das Gefühl für die stille und fürchterliche Macht der Entwicklung, die im Leben des ein - zelnen wohl wenig erscheint, aber im Strom der Generationen sich zu ungeheurer Entfaltung drängt — seitdem! Seitdem ist der Sozialismus politisch! Seitdem ist der Sozialismus aktiv! Seitdem ist er eine Macht der Geschichte! Kameraden — Ihr — heut auf dem Marsch in der Straße — wenn Ihr Schulter an Schultr gedrängt wieder die Kraft von Millionen in Euch kreisen fühlt — wenn Ihr heute im dröhnenden Takt der Trommel marschiert — so bedenkt : dieser Marsch gilt dem Kampf um die erste Station des revolutionärenProzesseS! Wenn Ihr heute Willen an Willen schweißt in Gelöbnis und Forderung: der Acht - stundentag, die Republik (Eure Republik!), der Friede, der Völkerbund — dies sind die Pfeiler der ersten Station! Hinter ihr blauen die Horizonte der Zu - kunft! Fühlt, Genossen, daß Ihr nicht ins Wesenlose hinein - marschiert! Die große Leistung jenes Pariser Kongresses vom Juli 1890 war es, die Hoffnungen der Träumer, Glücksritter und Spieler der Revolution vernichtet zu haben. Damals begriff man den Klaffenkampf und die sozialistische Revolution als die Sache des kommenden Jahrhunderts und lehrte jeden, der belehrt sein wollte, daß jeder Schritt zur wirtschaftlichen Stärkung, jede auch die kleinste Eroberung politischen Rechts ein revolutionärer Akt, ein Akt des Klaffenkampfes ist. Ar - beiter, begreift die nüchterne Klarheit des sozialistischen Weges! Arbeiter, begreift die sozialistische Revolution als das Werk der Generationen! Begreift all dieses, und Ihr habt den Sozialismus begriffen, habt Eure Aufgabe begriffen und die der Zukunft! Der öürger. Roman von Leonhard Frank. [43] „Ich wiederhole: Einem geschenkten Gant schaut man nicht ins Maul", erklärte gekränkt Frau Wagner, die, während die Neuvermählten auf der Hochzeitsreise gewesen und die Tante, wegen der unaufhaltsamen Verbreitung des Klatsches sterbens - krank geworden, im Bett gelegen war, ganz allein das Einrichten der Wohnung besorgt hatte. „In dieser Wohnung gibt es vielerlei Tiere und eine große Anzahl Fabelwesen, aber keinen Gaul," versicherte launisch Eli - sabeth und sah umher: Vom nie benutzten Kohleiikasten, schwarz lackiert, auf dem die heilige Familie auf der Flucht nach Aegypten gemalt war, bis zu dem zwei Meter hohen seidenen Wandschirm, auf dem ein gestickter, lebensgroßer Storch das Wickelkissen mit den drei Säuglingsköpfen au3 dem Teiche zog, schwang der Ele - fant den Rüssel feierlich-langsam hin und her. Das Ziffernblatt in feiner Stirn stellte Afrika dar. Diese Uhr hatte Frau Wagner, nachdem sie bei Frau Sinsheimer zu Besuch getveseu Ivar, tele - graphisch in der Fabrik bestellt. Arm in Arm verließ das Ehepaar den Salon, lind das Be - wußtsein, das hinter Jürgen Herschritt, in gleichem Schritt und Tritt, sah Katharina, die, in der Hand einen weißen Teller voll Brei, vom Gaskocher zum Waschkorb ging, in dem der Sohn lag. Katharina befand sich in weiter Ferne, aber Überaus deutlich sichtbar; nicht so verblaßt wie damals, als Jürgen gesundend int Liegestuhl gelegen hatte. „Das wechselt." „Was wechselte" fragte EIisal>eih. „Die Stimmungen wechseln. Einmal ist man ernst, dann wieder heiter. Ein andermal, ich möchte sagen: in gespaltener Stimmung." „Das Leben würde ja auch zu langweilig sein, wäre Sie$ u anders." * Frau Wagner durchblätterte noch da; in gepreßtes Schweins, toter gebundene und mit einem winzigen goldenen Hängeschlöß- chen versehene Album, bas die repräsentablen Ahnen der Familie TT Wir schreiten! Herm. Claudius. 8 K >el ic k und Sie der Sie rufen uns fester zusammen, rufen über Gebirg und Meer fremden Brüder heimliches Heer, rufen! Wir haben es alle tief erkannt, daß alles große Werden langsam wandert von Land zu Land, langsam über die Erden. Langsam im schweren Arbeitsschritt. And Sorg' und Mühsal wandern mit. Wir wissen's! And dennoch lieben wir das Land, das unsere Not geboren — und stehn dafür mit Herz und Hand. Hört es heute, ihr Toren! Wir lieben es still. Wir lieben es treu. Wir wollen es stark, wir wollen es frei gestalten! Wir schreiten die große Fahrt in den Mai, wir breites Volk der Gasse. Wir schreiten die große Fahrt in den Mai, wir wache, wachsende Masse. Wir schreiten die große Fahrt in den Mai. Wir schreiten sie sonder Haß und Geschrei. P Wir schreiten die große Fahrt in den Mai, wir breites Volk der Gasse. Wir schreiten die große Fahrt in den Mai, wir wache, wachsende Masse. Wir schreiten die große Fahrt in den Mai. Wir schreiten sie sonder Haß und Geschrei. Wir schreiten! Die roten Fahnen wehn im Wind, wie lohe, wogende Flammen. Sie wehn über Jungvolk, Weib und Kind $ jwwej' I ß 1 N 8 Und es kommt daraus an, daß Ihr begreift. Denn es kommt heute daraus an, jene Tat des Pariser Kon - gresses noch einmal zu tun und die Spieler und Abenteurer der Revolution von dem klaren und harten Weg des soziali - stischen Aufmarsches zu vertreiben. Wenn Ihr je etwas be - griffen habt von dem Stundenschlag der Geschichte, in dem Ihr mitschwingt, von dem Gesetz des historischen Raumes und der historischen Zeit, das Euer Handeln bestimmen muß — dann begreift heute aufs neue, dann öffnet Euch heute wieder Euren alten Gewißheiten, und als Wissende f.eib Ihr dann unüberwindlich! Aber es kommt auch daraus an, zu begreifen, um nicht stille zu stehen. Wem der Arbeiterschutz, Die Republik, der Völkerbund dar Ende ist, hat nichts in Euren Reihen zu suchen! DerZieleletztesundendgültiges ist und bleibt die Revolution! Jbr müßt alles .aufs neue begreifen, um auch dies nicht zu ver - gessen ! Das Kommunistische Manifest sagt: „Die Arbeiter haben kein Vaterland. Man kann ihnen nickt nehmen, was sie nicht haben. Indern das Proletariat zunächst sich die politische Herrschaft erobern, sich zur nationalen Klaffe er - heben, sich selbst als Nation konstituieren muß, tst eS selbst noch national, wenn auch keineswegs tm Sinne der Bourgeoisie." Der Sinn dieses so umkämpften Satzes ist deutlich. Die Arbeiter haben kein Vaterland! Gewiß! Aber sie werde« eins haben, wenn sie es sich selbst schaffen. Dann wird aus dem „Vaterland der Reichen" das Vaterland aller, die gleicher Zunge sind. Unbezweifelbar zeigt die Forschung, daß es ein Vaterland nur für die gibt, die mitbesitzend und mittätig sind am wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Aufbau ihres Landes. Kameraden, wenn Ihr heute marschiert, so marschiert Ihr zum Kampf um Mitbesitz und Mittätigkeit, zum Kampf um ein Vaterland, das heute Euch noch nicht gehört, aber einst Euch gehören soll. Und balv Euch gehören soll! Und wenn in gleicher Stunde unsere Kameraden ht den andern Ländern der Welt marschieren, so marschieren sie auch zum Kampf um Mitbesitz, Mittätigkeit, Mitbestimmung — zum Kampf um ihr Vater land! Deutscher Arbeiter! Das Land, das Dein Vaterland werden soll, ist Deutschland! Zum Kampf um dies Dein Deutschland der Zukunft ziehst Du aus. Das Schicksal dieses Deines Zukunftslandes geht Dich an, sowie das Schicksal Frankreichs Deinen französischen Kameraden angeht — das Schicksal Englands Deinen englischen Kameraden angcht. Das Schicksal Deutschlands geht Dich an, im Guten wie im Bösen. Die Republik ist Dein allererstes, noch schwaches Werkzeug, dieses Schicksal zu meistern. Und so wird die Republik zum Schicksal für Deutschlands Zukunft und das Schicksal der Repu - blik zu Deinem eigenen — deutscher Arbeiter. So, wie in den letzten Jahren in manchen Ländern der Welt die Tore der verschloffenen Vaterländer aussprangen und die Proletarier als neue, junge Mächte der Politik einbrachen in die lange gehüteten Tempel, so ist auch in Deutschland von Deinem ersten Einmarsch ein Zeichen stehengeblieben, an dem alles hängt: die Republik, Deine und Deines Landes Zukunft! Ungeheuer find die Gefahren rings um sie anaestiegen, und während die Reaktion alle tollen, dummen, trüben und bar - barischen Kräfte gegen sie anführt, meinen sie Dich: Arbeiter! Unter welchen verhängnisvollen Gewittern schreitest Du nicht heute in den 1. Mai? Verwirrung rings - um, auch in Deinen eigenen Reihen! Die ersten Stationen Deines revolutionären Marsches sind in höchster Gefahr! Und dennoch: nichts ist verloren, wenn das Blut kalt, das Denken klar, der Wille gespannt bleibt. Nichts ist dann verloren! Mehr noch! Mes ist dann gewonnen! Wo heute brüllende Abgründe sind, sind morgen Brücken und Stege! Nichts ist zu fürchten, Arbeiter, wenn Du Dich selbst nicht fürchtest. War Lucher ein Revolutionär, so sang er auch für Dich: . . . Und wenn die Welt voll Teufel wär' . . .! Sinn und Ziel des 1. Mai ist es, allen Sozialisten Samm - lung und Besinnung zu geben. Sammlung nach außen, Be - sinnung nach innen! Viel haben wir jetzt von der Besinnung nach innen gesprochen. Jetzt noch ein Wort zur Sammlung nach außen. Die Feinde der Arbeiter, die Feinde der Sozia - listen, die Feinde der Republikaner haben geglaubt, daß sie tot sind, jene neuen, jungen Kräfte einer Politik der Zukunft. Sie haben Bärenfelle zerlegt, die sie nicht hatten. Sie haben wieder einmal, diesmal zu ihrem ärgsten eignen Schaden, phantasiert, wo sie glaubten, Politik zu machen. Ihnen ant - worten wir heute mit dem Gesang der badischen Revolutionäre von Anno 1849: „Wenn Euch bie Leute fragen, lebt der alte Hecker noch? So sollt Ihr tönen sagen: ja, et lebet noch! Er hängt an keinem Baume, Er hängt an keinem Strick, Er hängt nur an dem Traume der deutschen Republik!" Und nun, Genossen, Kameraden, es ist mehr wie ein Traum, es ist nahe, greifbare Wirklichkeit — wenn Ihr nur wollt. Denn diesem Wollen ist eine starke Waffe gegeben — die Waffe Eurer Stimme am 4. Mai. Wagner enthielt. Herren ließen den Schnurrbart, Bräute das Hochzeitskleid bewundern. Die Photographieaugen blickten. Wünsche waren erfüllt. Männer standen aufrecht tm Leben, die Faust auf der Kaute des zerbrechlich zarten Tischchen^.. Damen, die Frisuren schulterwärts geneigt, Augen halb geschloffen, zeigten, daß sie ohne Ideale nicht leben tonnten. Kinder standen noch int Kampf mit der Natürlichkeit- Frau Wagner schloß das Album: Das zerhackte Gesicht eines degenüberquerten Studenten in Wicks kam auf das Gesicht einer alten Frau int Totenbett zu liegen. ,So viel Geld und so viel Mühe, und jetzt sind sie nicht zufrieden mit der Einrichtung.' Frau Wagner sah umher, den Kopf aufgestützt. Eine halbe Stuicke später, al? Jürgen vorbeiging, sah er Frau Wagner noch immer sitzen im Salon, den Kopf gestützt wie vor» her, reglos und traurig. Der kostbare Reiherhut hatte sich etwas verschoben. ,Das würde ein zu schwerer Schlag für sie sein. Wir werden uns eben an die taufe nb Zentner schwere Entricht ui tg und an die Menagerie gewöhnen müssen; haben uns ja schon daran gewöhnt. DaS ist ja auch unwichtig. Das Leben stellt attdere Aufgaben.' Ganz andere Aufgaben! dachte er. Und fand sie nicht. Fand nichts, das wert gewesen wäre, sich dafür einzusetzen. Auch heute hatte die tote Einsamkeit, die um und in ihm stand und das ganze Haus durchdrang, ihn eine Stunde früher aI3 nötig fort getreten. Die Tante war ins Bett gebracht worden. Sinnend blickte sie in die Richtung der Mutter Gottes; die gellten, dünnkiiochigen Finger hielten hie geöffnete Schatulle, in der sie das Verzeichnis ihrer Wertpapiere aufhob. Jürge n liebte es, in die Schreinerwerkftatt neben der Hatte- gelle einzutreten und, plaudernd mit dem alten Meister, den Ge. fellen bei der Arbeit zuzusehen, bis der Trambahnwagen kam. Eine Sckreinerwerkltätte, die Hobelspäne, der Holz» und Leim - geruch waren für Jürgen der riechbare und sichtbare Ausdruck eines einfachen, lebenSwarmen Daseins, wie er es, seitdem er Teilhaber war, für sich gewünscht hätte. „Ihre Mutter war »och gar nicht auf der Welt und von Ihnen selbst, mein .(Sott, keine Spur, damals, als mein Vater die Möbel für Ihre Großeltern gemacht hat. Ich war seinerzeit Lehrjunge, und Ihre Tante war so ein huschiges Springerchen von zehn Jahren." „Wie war denn meine Tante als Kind?" fragte Jürgen, plötzlich wieder von Sympathie ergriffen. „Da, sehen Sie ihn an: Der Sägebock war ihr Reitpferd. 51 uf dem selbigen Sägbock ist sie geritten jeden Tag. Und so manche? Mal war sie einfach verschwunden. Nichl zu frühen! Ta haben wir sie gar oft aus den Hobelspänen rausgezogen. Hat sich hineinbergraben, ganz und gar zugedeckt und ist dann plötzlich wie ein kleiner Teufel rausgefahren. Wollt nie nach Haus. Hat gestrampft unh geheult . . . Wild war sie. Ein wildes Kind! Schwer zu erzieheir." „Was Sie sagen!" „Das Leben hat nachher das seine getan . , . Da komm: Ihr Wagen." Jürgen zeigte die Abonnementskarte dem Schaffner, der lächelnd adwiirkte: „Gilt schon! Wir keimen ja einander." ,Nie hätte ich das gedacht. Ich hätte das überhaupt nicht für möglich gehalten.' „Mir wenigstens brauchen Sie die Abonnementskarte nicht mehr zu zeigen. Jetzt fahren Sie feit zwei Jahren täglich vier, mal." .Wenn ein wildes, unbändiges, eigenwilliges Kind so werden kann, wie die Tante geworden ist, vom Sehen so ruiniert werden konnte, da kann man von Verantwortung de? einzelnen ja über - haupt nicht mehr reden. Die Verhältniße sind schuld. Sicher auch bei Katharinas schöner Jugendfreundin mit dem letdenSsähigeit, milden Herzen, daß sie so lala eine Gesellschaftsdame und Die Frau des OberstaatSanivalteS wurde . . . Oder doch nicht die Ver- hältniffe? . . . Wer könnte entscheiden, ob ein Mensch die Kraft gehabt hätte, weiter zu kämpfen und zu leiden, ober ob stärker als seine Kraft die Verhältnisse und die in ihm lebenden Begierden waren? ES gehört heutzutage schon sehr viel Kraft dazu, sich selbst im Heben vorwärts zu bringen. Wieviel mehr erst, die Sache der Allgemeinheit auf sich zu nehmen und vorwärts zu Wahltag ist Zahltag! Die kosten -es Ruhrkrieges. Die Oeffentlichkeit weiß nicht, welche ungeheure Kosten - summe der Ruhrkrieg dem Reich ausgeladen hat. Die Oeffentlichkeit weiß nur, daß unter der Regierung E u n o der Dollar von etwa 6000 Mark auf fast 4 Milliarden Mark gestiegen ist und daß hinter dieser ungeheuerlichen Ent - wertung der Mark eine völlige Umschichtung der Besitzverhält - nisse sich verbirgt. Der Mittelstand wurde enteignet, Arbeiter und Angestellte mit fruchtbarem Elend heimgesucht, aber zu Mammutgröße schwoll der Reichtum der Reichsten an. Jetzt endlich erfährt man wenigstens die Schlußzifser von der Ruhrkriegebilanz für das Reich, einem hochangesehenen Bankier, übrigens, wie den Judenfreffern von vornherein ge - sagt sei keinem Juden, verdanken wir die Kenntnis davon. Die Summe übersteigt alle Begriffe, sie lautet: Ztveiundzwansig Milliarden Goldmark. Tas Fünfeinhalbfache dessen, was 1871 das Reich von Frank - reich als Kriegsentschädigung empfing, hat der Ruhrkrieg ver schlungen. Grauenhaft. Unsagbar. Rechnen wir Zins und Zinseszins dazu, so hätte das Reich aus dieser Summe auf zehn Jahre die Reparationen leisten können. Aber dann hätten ja die Banken und Industriellen nicht die gewaltigen JnflationSgewinne gemacht! Statt einzuheimsen, hätten sie Steuern zahlen müssen! Steuern zahlen: das Widerwärtigste für Leute, die immer vom „Dienst am Vater - lande" reden. Jetzt schwärmen die bürgerlichen Parteien von der Rentenmark, die Deutschnationalen tun gar, als sei das deutsche Volk dafür den Helfferichen zu Dank verpflichtet. Halte jeder Wähler fest, daß die Rcntenmark e r st d a n n kam, als das Reich völlig ausgepowert war und auch der Jnlands- markt die Mark zurückwies. Wer anders als die Parteien, die ehrliche Erfüllungspolitik sabotierten, hat die Katastrophe der Mark verschuldet? Und die Rentenmark kann nur solange feststehen, solange der Reichshaushalt ausgeglichen bleibt. Dazu aber gehört weiteres Anzielien der Steuer schraube beim Besitz. Wähler, Ihr seid gewarnt: Denkt an die Steuer- sabotage der Parteien des Besitzes, denkt daran, wie die volksparteilichen und deutschnationalen Schwerinöustriellen und Großgrundbesitzer die Steuern für Reparationen verweigerten, wie ihre Führer von Stinnes bis Helfferich und Hergt immer wieder erklärten: Mögen die Fran zosen doch kommen! Denkt auch daran, wie, als der Ruhrkrieg wogte, das rein bürgerliche vom Geiste Helfferichs gekitetete Kabinett Cuno genau wie im wirklichen Krieg keine Kriegssteuern erhob. Alles wurde von der Noten presse bestritten — da» Ergebnis kennt jeder Volksgenosse. Der Ruhrkrieg — das war die Gelegenheit zur Bekundung ves Patriotismus. Me breitestm Volksschichten standen fest. Ta mußte das Geschrei von der Erdolchung durch die Sozialdemokratie schweigen. Um so deutlicher zeigte sich, wer wirklich die Front erdolchte. Vergeßt es nicht! Und macht durch Stimm - abgabe für die Sozialdemokratie unmöglich, daß die Parteien des Kapitals und des Großgrundbesitzes ihr ftevelhasteS Treiben fortsetzen können. Denkt daran und sagt eS weiter: Ruhe und Sicherheit auf zehn Jahre und damit die Gewißheit zu einer Revision des Gewaltfriedens zu gelangen, hätte Deutschland genießen können, würden die Parteien von Kapital und Großgrund - besitz nicht ihre verruchte Politik haben durchsetzm können. Und wenn jetzt die G o k und Konsorten abermals von der „natio nalen Ehre" schwätzen (jener Ehre, die andern Leuten das Zahlen überläßt), so ruft iuS Gedächtnis, wie schandhaft das „patriotische" Kapital den Ruhrkrieg mißbraucht hat. Ruft eS hinaus: 22 Milliarden Goldmark Hal der Ruhrkrieg gekostet! Zahlt es ihnen heim durch die Abgabe sozialdemokratischer Stimmen am Wahltag! v .. roirb schön fein. (Fortsetzung folgt) bringen! . . . Man setze erst sich selbst durch und stelle dann sich und seinen Einfluß und seine Niachl in den Dienst der All - gemeinheit.' . ,Unb waS wird unterdessen, während du dich durcmeyt, ,o lala mit dir, mit dem Bankier Kolbenreiher, geschehen?' fragte mit schon kaum mehr vernehmbarer Stimme ba< weit^zurück- gedrückte Bewußtsein. Und stieß plötzlich eine grauenvolle Drohung aus, die aber, von Jürgen nur dunkel vernommen rind empfunden, nickst gleich vordrang biS an den Bezirks de-.- neuen Bewußtseins, das in diesen Jabren immer häufiger Sieger geblieben war. Noch einmal entwand sich die Drohung der tiefsten Tiefe seines Wesens, stieg empor als Hinweis auf eine unentrinnbare Tode-.-gesahr, und Jürgen wurde sekundeulang innerlich gelahmt, so gais und gar wie in der vergangenen Nacht, da eine fremde Macht im Albtraum ihn gelähmt und unwiderstehlich gezwungen hatte, den Sarg zuzunageln, in dem, noch lebend, er selber ge - legen war. „Wie lange fahren Sie schon auf dieser Strecke Und wahrend der Schafftu: r siirnend „Zehn, nein, schon elf Jahre!" sagte, wiederholte in verzweifeltem Anstürme das zu- rückgedrückte Bewußtsein zum dritten Male seine grauenvolle Drohung. Jürgen fröstelte im Rückenmark, wie damals in der Hafenstadt. „Bastgeftecht ist sehr praktisch, hält lange, was? „3a, das gibt aus." Auch der Schaffner prüfte mit seiner starken Hand anerkennend das Ba schcsiecht der srtzlehne und schritt dabei hinaus auf die hintere Plattform, legte den Zeige- finger an die Mütze, und dad junge Bureaumädcken schob ihre Abonnementkarte wieder in das Handtäschchen, sah ~ ernsten BlickeS ihr Sehen an. Die Meebäume flogen nach rückwärts. DaS find nur die Nerven, dachte Jürgen, mit Bezug auf die Drohung . . . Zwei Jahre! Mutz endlich auf ein paar Wochen ausspannen. Mich erfrischen. Eine Reise! DaS habe idj jnir verdient . . . Diese warmen wunderbaren Herbsttage! DaS- der Wahlkampf i« Frankreich. Noch mehr Parteizersplitterung alS in Deutschland. eca. Paris, 30. April. Die Frist für die Aufstellung von Kandidaten für die französischen Wahlen ist abgelaufen. _ In der Präfektur deS Departements Seine sind für die 4 -schoren 3 4 verschiedene Listen angemclbct 3m Varte sind 40- Kandidaten ausgestellt, für ganz Frankreich belauft sich die Zahl der Kandidaten nach dem Journal auf 2500. Der französische Wahlkampf vollzieh: iick zum Teil ui recht stürmischen Formen. In einer Wahlversammlung am Mvmag abend in Souillae wurde Murat durch ttußtritte iind Faustsckläge im (»tesicht ernstlick verletzt. Nach einer Wahlver- lammlung in Asblh wurden die Fenster btv Automobils ent- gsecklagen, in dem zwei Kandidaten, Gabarit und Cufre, faßen.