Preis 10 4 amdurgerEcho 4 4* 4 4 44 ****** »*WW ft» bi gtemmrt, bte v«totite» 9ton. MMB-MMZ ^ujnwrn^ *»«»»«^ *^VM0Wiuu ÄWggg QnnfPr.: 6«^. C 5 HB!. Nachm^ C5°°" Nummer 155 Mittwoch, 6. Juni 1925 54. Jahrgang Räuber, Rarftball, Tbronkandibat. Zum angeblichen Lode Tschangsolins. Selkscm und dem Europäer soff unbegreiflich war die Laufbahn des chinesischen Heerführers Tschangtfolin, der nun auf seinem Rückzug von Peking in die Mandschurei einem Alkentat zum Opfer gefallen ist. Noch vor wenigen Mo - naten war er der gefürchtete Herr des Nordens, grausamer Diktator und wahrscheinlich Prätendent für die chinesische Kaiserwürde; von 3apan unterstützt, von den Engländern be - günstigt, verfügte er über ein gewaltiges Heer und herrschte unumschränkt über das ganze nördliche China. Das Gebiet, das ihm zu Füßen lag, war größer und zahlreicher bevölkert als die gesamten westeuropäischen Republiken. Aber der gewalttätige Herrscher von Peking war in seinem Innersten — trotz seiner großzügigen Politck, seiner Machtfülle und dem ungeheuren Reichtum, den er allmählich erworben halte — ein wenig der mandschurische Bauer und der Räuber- hauptmann geblieben, hatte den hinterlistig-schlauen Charak - ter, das Banditenhafte und die nüchterne Denkweise nicht abgelegt, die ihn schon in seiner Jugend auszeichneten. Denn der Generalissimus Tschangtsolin war der Sohn armer Dauern aus der Mandschurei, mußte sich, faßt noch ein Kind, als Knecht verdingen, fristete so kärglich sein Dasein, wie es heute noch die chinesischen Bauern, wohl die ärmsten Men - schen der Erde, tun müssen. Man behauptet, daß der junge Tschang eines Tages dieses kümmerlichen Lebens, das ihn niemals sättigte, satt wurde und sich aus eigener Machtvoll - kommenheit zum Tierarzt ernannte, der nun von Dorf zu Dorf zog, um Pferde und Kühe mit einem selbsigobrauten Kräutersaft zu behandeln. Das war ein gefährliches Ge - werbe, denn mit Dauern, deren Meh bei lcher Kur starb, ist nicht gut Kirschen essen. Es mag nun wahr sein oder nicht, zuzlltrauen war es Tschangtsolin auf jeden Fall, und keiner der zahlreichen Berichte über das Leben des Diktators be - hauptet, daß der Bauernbursche den Beruf eines Quack - salbers lange ausgeübt habe. Vielmehr stimmen alle Chro - nisten darin überein, daß Tschangtsolin schon frühzeitig auf eine großzügigere Methode verfiel, den Bauern ihr Geld ab- zunehmen: er wurde Räuber. Chinesische Banditen sind sich ebensowenig bewußt, ein unehrenhaftes Gewerbe auszuüben, wie etwa korsische oder sizilianische Wegelagerer des vorigen Jahrhunderts. Es sind Männer, mit denen man verhandeln, Lösegeld anbieten, Verträge abschließen und sogar gegen regelmäßige Zahlung eines Tributs Schuh gegen Hebers alle anderer Banden, zu Hilse gegen übertriebene Forderungen der eigenen Regierung vereinbaren kann. Es zeigte sich bald, daß Tschangtsolin ein Räuber von Format war. Seine Bande ernannte ihn zum Hauptmann, und die Schar seiner Anhänger wurde so groß, daß die russische Regierung in Peking chinesische Hilfe gegen die mandschurischen Grenzbanditen beantragte. Nachdem die Räuber aber ein reguläres chinesisches Regiment geschlagen hatten, blieb der russischen Regierung nichts anderes übrig, als sich mit Tschangtsolin zu einigen. Im russisch-japanischen Krieg schlug sich der Räuberhauptmann dann — natürlich gegen Zahlung hoher Geldsummen — auf die japanische Seite und fügte den Rusten teils unmittelbar, teils durch ge - schickte Spionage großen Schaden zu. Als Frieden ge- schlosten wurde, sah man in Peking ein, daß diese Räuber - schar inzwischen zu mächtig geworden war, um noch bekämpft zu werden. Die Bande wurde also in ein reguläres Regi - ment verwandelt, und Tschangtsolin, einst Bauernknecht, dann Quacksalber, wurde Regimentskommandeur. Langsam entwickelte sich ein brennender Ehrgeiz. Fast in jedem Jahr eroberte der junge Offizier ein neues militärisches oder poli - tisches Amt, und als sich eine gewiste Machtfülle in seiner Hand vereinigte, verfolgte er mit der ganzen Zähigkeit, die ein harter mandschurischer Bauernschädel aufzubringen ver - mag, und mit der skrupellosen Kühnheit des ehemaligen Räuberhauptmanns nur noch ein Ziel: unumschränkter Herr in seiner Heimat, in der Mandschurei, zu werden. MMiMiMB MMMI in Mn. Erst Bitte, dann Sitte. Berlin, 5.3uni. Nachdem die reaktionäre Mehrheit der preußischen Studentenschaften im vergangenen Winter das Fort - bestehen einer studentischen Selbstverwaltung durch Ablehnung einer den verfasiungsmäßigen Grundsätzen entsprechenden Neu - regelung ihrer Statuten abgelehnt hatte, blieb nur no< eine staat - lich nicht anerkannte priviate Völkische Vereinigung übrig, deren Berliner Organisation sich irreführenderweise den Titel „Allge - meine Studentenschaft" beilegte. Diese sogenannte allgemeine Stu - dentenschaft veranstaltet zur Zeit die Wahl einer Vereinsleitung, die sie bemüht ist, gewistermaßen als offiziöse Studentenvertretung zu maskieren. 3n Wahrheit ist die gesamte nichtvölkische Stu - dentenschaft der Organisation nicht beigettefen, sondern findet zum größten Teile im „Deutschen Studenlenverband" ihre wirtschaft - liche Vertretung, während in allgemeinen politischen und kultur - politischen Fragen zwischen den verschiedenen Gruppen der organi - sierten nichtvölkischen Studentenschaft, deren stärkste Organisation heute mit rund 3500 Mitgliedern der Verband sozialistischer Stu - dentengruppen Deutschlands und Oesterreichs darstellt, eine stän - dige Fühlungnahme und Zusammenarbeit von Fall zu Fall statt- findet. Eine Ausnahme machen nur die Kommunisten, deren Häuf - lein fick dem völkischen Verein freiwillig angeschlosten hat. Die Völkischen werden mit Geldern ausgehalten, die ihnen «is der Schwerindustrie zufließen, durch die Herren ^igenbcrg, Bögler und aus andern Kreisen, die aus den traurigen Wiener Schläge - reien sattsam bekannt sind. Daß das nicht immer leicht ist, haben die dutzendweise gehäuften und bis in die allerletzte Zeit reichen - den Affären bewiesen, die zeigten, in welch weite Taschen die Gelder der oft recht unfreiwilligen Geldgeber (in Bayern und Württemberg wird der Verein noch offiziell anerkannt) geflossen find. Irgendwie genießen aus ihnen eigentlich fremden Quellen auch die' kommunistischen Studenlenkreise Förderung: jedenfalls standen sie in der Frage der studentischen Organisation den Völkischen bei. Heute kriegte die Pauke ein Loch. Mittags 1 Ahr begann auf dem Opernplah eine seit Tagen an - gekündigte völkische Studentenversammlung mit Militärmuflk und Parademärschen, die ein Lautsprecher von der Grammophonplatte der etwa 2000 Menschen umfassenden Versammlung übermittelte. Eine kleine Kommunistengruppe hatte sich mit ihren Fahnen nahe dem Lautsprecher ausgebaut. Als im Laufe der Versammlung ein kommunistischer Redner das Wort ergriff, bemächtigte sich der Ver - sammlung eine starke Unruhe, die schließlich In Pfeifen und Johlen ausartete, so daß der Redner obsteten mußte. AIs die Kom - munisten zum Protest die 3nternati;'i l alc anstimmten, wurde von den zahlreich anwesenden Nationalsozialisten ein KrawalI inszeniert, der sich bis ins Universitätsgebäude fortpflanzte und dort zu groben Angriffen gegen kommunisttsche und auch wahllos gegen jüdische Etudiereende führte. Es bedurfte erst des nach geraumer Zeit erfolgenden polizeilichen Eingreifens, um den geradezu pogromartigen Vorgängen ein Ende zu bereiten. Wenn bei dieser Kundgebung die Kommunisten für ihre Mit - arbeit eine wenig angenehme Rechnung präsentiert erhalten haben, so wird sie ihnen vielleicht ein Denkzettel dafür sein, daß die Koalition mit völkischen Kreisen, die schon einst Ruth Fischer pro - pagierte, ihre Schattenseiten hat. Die Vereinigung sozialdemokratischer Studierender, die ei ablehnt, sich der „schlagenden" Argumente ihrer Gegner 3U be - dienen, hat sich der Radauveranstaltung ferngehalten und darauf beschränkt, in einem Flugblatt den Versammlungsteilnehmern in ruhiger und sachlicher Weise ihren ablehnenden Standpunkt deut - lich darzutun. Noch im Kaiserreich wurde Tschangtsolin zum Mllitär- gouverneur der Provinz Mukden ernannt. Als die Mand- schu-Dynastie gestürzt wurde, ließ er sich seinen Uebergang zur Republik teuer bezahlen, und im Jahre 1921 wurde er anerkannter Oberherr der ganzen Mandschurei. Bald dehnte sich sein Einfluß auch auf die Mongolei aus. Nun stieß er * 1 ■’Sg M ■ -- . ZI Marschall Tschangtsolin. nach Süden vor, zog in Peking ein, suchte ganz China zu er - obern, mn Kaiser zu werden. Von dem Glanz seiner Hof - haltung in Peking werden Wunderdinge berichtet: aber so sehr ihn, den armen Bauern, Gold und Juwelen reizten, so sehr es ihn ständig lockte, Schätze zusammenzuraffen, wie ein Bauer, selbst wenn er wohlhabend ist, Geld in den Strumpf steckt: niemand kann ihm nachsagen, daß Tschang - tsolin seine Abstammung vor den Leuten verleugnet habe. Noch im letzten Jahr hat er sich einmal für kurze Zeit in sein mandschurisches Heimatdorf begeben, hat in der alten Hütte gewohnt und ist als Bauer unter Bauern spazieren gegangen. Seine Sehnsucht, viele Kinder zu haben, entsprach ebenfalls der bäuerischen Gesinnung, sein Erbe nicht in fremde Hände fallen zu lassen. Nicht aus Sinnlichkeit, aus kühler Berech - nung, die dem Europäer einen Schauer über den Rücken jagt, hat er sich einen großen Harem gehalten. Mit diesem dreiundfünfzigjährlgen Mann, der in China vielfach schon „der Alte" genannt wurde, weil hohes Atter ehrwürdig macht, scheidet eine der merkwürdigsten Persönlichkeiten aus dem politischen Leben Ostasiens, ein Mensch, der sich modernster Waffen bediente, aber doch in seiner Denkweise noch zum tiefsten Mittelalter gehört. Vrozeß EaWrj-Wmann-Wter. Satmatfrtiter vor (teritht. Berlin, 6.3nni. Ueber den Beginn des Prozesses bat das Echo berichtet. Das Kapitel Easparl wurde gestern abgeschlossen. Die Beweisaufnahme im Falle Kußmann — was man so vor dem Disziplinarsenat als Beweisaufnahme bezeichnet —, ist fast zu Ende geführt worden. Die Angelegenheit Caspari ergab noch manche interessante Momente. Da waren zum Beispiel die Aussagen des 3ustizrats Werthauer, 3ustizrats Löwenstein und des Land - tagsabgeordneten Heilmann. Dr. Caspari hatte sich auf diese drei wie auch auf den Staatssekretär Fritze und Ministerialrat Kuhnt zum Beweise dafür berufen, daß er in Verbindung mit der Verhaftung Werthauers aus der Kutisker-Untersuchung herausgezogen worden sei. Der Vorsitzende muß aber nach Verlesung der Aussagen fest' stellen, daß - sämtliche Zeugen für Dr. Caspari Ungünstiges bekundet hätten. Und tatsächlich. 3ustlzrat Werkhouer bat Caspari und Kuß - mann als Reklamedelektlv bezeichnet. Sie hätten i n Ha s t g e - nommenen Personen Begünstign n g e n in Aussicht gestellt für den Fall, daß sie gegen ihn, Werthauer, aussagen würden. Solche Persönlichkeiten wie Caspari und Kußmann dürfen nicht der Rechtspflege angehören. Und 3ustizrat Löwenstein hatte in der schärfsten Weise die wahllose Derbafiung po - litischer Persönlichkeiten als auch die Veröffentlichung von Maßnahmeii der Staatsanwaltschaft im voraus in der Presse mißbilligt. Er habe auf die Ausscheidung Casparis aus der Kutisker- Untersuchung gar keinen Einfluß gehabt. Sein Ersuchen fei allein dahin gegangen, daß ihm die Sache Werthauer abgenommen werde. Auch der Landtagsabgeordnete H e i 1 m a n n bestritt in seiner Aus - sage, irgendwie auf die Abberufung Casparis eingewirkt zu haben. Er habe sich überhaupt sofort nach Aufkommen der Barrnataffäre der möglichsten Zurückhaltung befleißigt. Staatssekretär Fritze hatte seinerseits Klipp und klar erklärt, daß ein Staatsanwalt, der der Presse Material zur politischen Hetze liefere, nicht im Amte gelassen werden dürfe. Und Ministerialrat Kuhnt wies die Behauptung, daß auf seine Entscheidung in bezug auf Caspari die Straße einen Einfluß gehabt habe, entschieden zurück. 3n wenig vorteilhaftem Lichte erscheint Dr. Caspari in der Aus - sage des Oberstaatsanwalts Sethe, dem gegenüber dem An- geschuldigten unangemessenes Verhalten vorgeworfen wird. Doktor Caspari ist eines Tages an ihn mit der Zumutung herangetreten, auf Grund eines gegen die Deutschen Werke gerichteten Zeitungs - artikels ein Verfahren einzuleiten. Wenn er daraus auf die Nichtelgnung des Staatsanwaltsassessors für fein Amt geschlossen habe, so wolle er in seiner Aeußerung „wenn Sie das nicht tun, so würden Sie dazu gezwungen werden", keine Drohung erblicken. Es sei höchstens eine Ungezogenheit gewesen. Zum Punkte llnwahrhaftigkeit Kußmanns erfährt man aus der Aussage Dr. Tetzlaffs, daß der Staatsanwalts- asseffor es verheimllcht habe, daß Hauptmann a. D. Knoll und Dr. Kluge ein und dieselbe Perfögfichkeit gewesen ist. Er hatte chm überhaupt nicht gesagt, daß Knoll der Gewährsmann fei, sondern erklärt, daß er ihn nur zufällig treffe. 3m übrigen seien sämtliche Barmat-Dezernenten wiederholt ermähnt worden, die Untersuchung streng geheimzuhalten. Das gleiche erfährt man aus der Bekundung des Staatsanwalts H k 1 h. Als er nach der Veröffentlichung des Banerbriefes unter andern auch Kußmann gefragt habe, ob nicht er ihn vielleicht in die Presse lanciert habe, habe Dr. Kußmann erklärt, daß er mit der Presse ein für allemal nichts zu tun haben wolle Und in einer andern Aussage von Tetzlaff heißt es, daß Kußmann nach seinen eigenen Angaben nicht in allen Teilen die Wahrheit gesagt habe. Gewissermaßen sen - sationell wirkt die Aussage des Hauptmanns a. D. Knoll. Er erklärt, daß erpolitischvöNigiarblosunddasPartei- wesen ihm verhaßt sei: die Politiker hätten ihn deshalb als politisches Kind bezeichnet. Er ist selbstverständlich fest davon durch - drungen, daß er allein die nötigen Ermittlungen in der Barmatsache habe machen können, und bestätigt, daß die Veröffentlichungen Leo - polds und Bacmeisters in der Börfenzeitung und in der Deutschen Zeitung unter Billigung Kußmanns und Casparis geschehen sei. Heute kommt der Fall Peltzer und die Nachkagsanklage gegen Kußmann wie auch dessen Beziehungen zu der Frau W. und deren Ehemann zur Sprache. Paul Gaehre 3n Buchholz bei Raheburg ist Paul Goehre gestorben. Er war ein eigenartiger Mensch voll starkem Wahrheitsdrang und hräf- tigem sozialen Empfinden. Goehre hatte evangelische Theologie tiudieri, er nahm die christliche Lehre ernst und wollte eine gegen- eitige Durchdringung von Christentum und sozialer Bewegung. Um selbst die Nöle der Fabrikarbeiter zu erfahren, ging Goehre in Chemnitz drei Monate als Fabrikarbeiter: und bann diente et dem Evangelisch-sozialen Kongreß als sein erster Generalsekretär. Mittlerweile hatte Goehre ein Pfarramt in Frankfurt an der Ober erhalten, aber seine Auslegung bes Evangeliums behagte ben Militärherren so wenig, daß Goehres Kirche sozusagen unter Militärboykott kam: der Kirchgang der Mannschaft wurde von Goehre weg in eine andere Kirche dirigiert. Goehre focht das nicht an; in ernstem Studium kam er politisch auch über ben Pfarrer Naumann hinaus, verließ ben Evangelisch-sozialen Kongreß und sein ‘Pfarramt, unb wurde Sozialdemokrat. 3n der noch heute lesenswerten Schrift „Wie ein Pfarrer Sozialdemokrat wurde" begrünrefe Goehre feinen Schritt. Lebenserfahrung unb Studien hatten ihn zur Erkenntnis gebracht, daß die Veränderungen in der Oekonomie notwendig sozial und geistig sich auswirken, und daß dem Soziatismus dvrch ben Klassenkampf der Arbeiter der Weg geöffnet werben müsse, solle nicht bie menschheitliche Kultur unter - geben. Ein erzgebirgischer Wahlkreis hat 1903 unb 1910 Goehre in ben Reichstag entfenbet Die inneren Reibungen ber Sozial - demokratie, in bie defonbers sächsische Abgeorbnete hineingezogen wurden, waren aber nicht nach Goehres Gefallen; er zog sich aus bem Parlament unb bem inneren Parteileben zurück unb wirkte für- das Freiheitsringen des Proletariats literarisch. Dabei hat er sich große Verdienste erworben durch Herausgabe von Eelbst- beschreioungen des Arbeiterlebens. Nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs kam Goehre noch einmal vorübergehend als preußischer Staatssekretär zu politischer Aktivität; auch griff er literarisch in die Aussprache über die Schaffung eines Vereinigten Europa ein. Zuletzt stand er in stiller Arbeit als lauenburgisches Kreisausschuß- mifglieb. Goehre ist 63 3ahre alt geworben. Er hat ein innerlich reiches Leben geführt; Massen Proletariern, bie an ber Kirche irre ge - worden, nach einem neuen Glauben suchten, hat Goehre die Hand gereicht unb ihnen in ber Sozialbernokratie die neue seelische Heimat gewiesen. Gebildeten Menschen, bie guten Willens waren, aber keine Möglichkeit sahen, wie bas geistige unb seelische ChaoS fick orbnen könne, verschaffte Goehre beruhigenbe Gewißheit, baß bie Entmenschung bes Proletariats burch ben Kapitalismus nicht hoffnungslos ist, ionbern baß bie (Srniebrigung fiberrounben wird durch Kräfte im Proletariat, die zur Höhe streben. Er sei bedankt. Goehres wackeres Menschentum wirb im ehrenvollen Gedächtnis bleiben. Das SshreÄensjahr. Von VictorHogo. Aus dem 'Französischen übersetzt von Eva Schumann. 119] Die Stimmen entfernten sich. Alles wurde wieder still. Reglos saß der Greis da. Er dachte nicht nach, kaum träumte er vor sich hin. Um ihn war alles gedämpfte Stille, Zuversicht, Einsamkeit. Cs war noch heller Tag auf der Düne, aber beinah dunkel in der Ebene und vollständig finster in den Wäldern. 3m Osten ging der Mond auf. Ein paar Sterne brachen durch das bleiche Blau des Himmels. Obwohl diesen Mann vielerlei Dinge heftig bewegten, gab er sich der unsäglichen Milde des Unendlichen hin. Wie eine düstere Morgenröte stieg die Hoffnung in ihm auf,— wenn man die Erwartung des Bürgerkrieges .Loffnung" nennen darf. Für den Augenblick wär ihm, als sei alle Gefahr ge - bannt, nun er das Meer verlassen, das so unerbittlich schien, und festes Land erreicht hatte. Niemand wußte seinen Namen, er war allein, verborgen, ungekannt, nicht einmal verdächtig, spurlos verloren für den Feind: denn das Meer bewahrt keine Spur. Eine ungeheure Beruhigung überkam ihn, wenig hätte gefehlt, und er wäre eingeschlafen. Kein Laut war hörbar, nur der Wind, der vom Meere kam. Plötzlich sprang er auf. Mit einemmal war' seine Aufmerksamkeit geweckt. Er spähte nach dem Horizont. Irgend etwas nahm seinen Blick unentrinnbar gefangen. Es war der Kirchturm von Cormeray, weit hinten in der Ebene, der Ihn so sesselte. In der Tat ging irgend etwas Merkwürdiges auf diesem Kirchturm vor. Deutlich zeichnete er sich gegen den Himmel ab. Man sah den Turm von seinem pyramidenförmigen Helm überragt, und zwischen Turm und Helm den Dlockenstuhl, ein lichtes Viereck, ohne Windschutz, nach allen vier Seiten den Blicken offen, wie es in der Bretagne üblich ist. Und nun war dieser Glockenstuhl abwechselnd offen und geschlossen: in regelmäßigen Zwischenräumen erschien das hohe Fenster erst weiß, dann schwarz, einmal sah man den Himmel durch, dann wieder nicht: erst war es hell, dann dunkel: und das folgte einander von einer Sekunde zur andern, regelmäßig, wie der Hammer auf den Amboß niederfällt. Der Kirchturm war etwa zwei Mellen von dem alten Mann entfernt; zu seiner Rechten ragte der Kirchturm von Baguer-Pican am Horizont: auch da ging der Glockenstuhl auf und zu wie beim Turm von Cormeray. Zur Linken blickte er nach dem Kirchturm von Tanis: der Glockenstuhl ging auf und zu wie der von Baguer-Pican. Er sah sich alle Kirchtürme am Horizont an, einen nach dem andern: die Glockenstühle all dieser Türme waren ab - wechselnd schwarz und weiß. Was bedeutete das? Es konnte nichts anderes bedeuten, als daß alle Glocken geläutet wurden. Sie muhten wütend geschwungen werden, sonst hätten sie nicht auf diese Art auftauchen und verschwinde können. WaS konnte das sein? Offenbar Sturmgeläut. Es läutete Sturm, wie rasend läutete es überall, auf allen Türmen, in allen Kirchspielen, in allen Dörfern. Und man hörte nichts. Die Entfernung war zu groß: der Wind kam vom Meer und trug jedes Geräusch nach der entgegengesetzten Seite. All diese rasenden, von allen Seiten rufenden Glocken und zugleich dieses Schweigen — etwas Unheimlicheres ließ sich nicht denken. Der Greis beobachtete und lauschte. Er hörte das Sturmgeläut nicht, er sah es. Läuten sehen — ein seltsames Erlebnis. Wem wollten diese Glocken zu Leib«? Gegen wen richtete sich das Sturmgeläut? Gewiß wurde jemand verfolgt. Wer? Diesen Mann von Stahl überlief ein Zittern. Er konnte es nicht sein. Von seiner Ankunft hatte kein Mensch etwas wissen können. Unmöglich, daß die beauf - tragten Abgeordneten schon unterrichtet waren; er war kaum an Land gegangen. Die Korvette war allem Anschein nach gesunken, und kein einziger entkommen. Und selbst auf der Korvette hatte niemand außer Boisberkhelot und La Vieuville seinen Ramen gewußt. Die Türme fuhren fort in ihrem wilden Spiel. Er betrach - tete und zählte sie mechanisch, und seine Gedanken, von einer Vermutung zur andern getrieben, schwankten hin und her, wie es der Uebergang von absoluter Gewißheit zu furcht - barer Ungewißheit mit sich bringt. Aber schließlich ließ sich dieses Sturmläuten auf mancherlei Art erklären, und am Ende beruhigte er sich wieder und sagte sich: „Schließlich weiß niemand um meine Ankunft, und niemand kennt meinen Namen." Seit einer kleinen Welle war über ihm und hintere ihm ein leichtes Geräusch entstanden — ein Geräusch wie das Rascheln eines Blattes am Baum. Zuerst achtete er nicht darauf. Als aber das Geräusch anhielt, ja, hartnäckig zu be - harren schien, drehte er sich schließlich um. Es war in der Tat ein Blatt, aber ein Blatt Papier. Ueber feinem Kops mühte sich der Wind, einen großen Anschlagzettel loszu- reißen, der an die Eteinsäule geklebt war. Dieser Zettel konnte erst vor kurzem angeschlagen worden sein, denn er war noch feucht: der Wind spielte mit ihm und löste ihn all - mählich los. Der Greis hatte die Düne von der entgegengesetzten Seite erstiegen und im Kommen den Zettel nicht bemerkt. Er stieg auf den Prellstein, auf dem er gegessen und legte die Hand auf die Ecke des Plakats, die im Winde flatterte; der Himmel war wolkenlos, die SDämmerung im Juni dauert lange: am Fuß der Düne dunkelte es, aber oben war es noch hell genug, um den Teil des Plakats, der mit großen Buch - staben bedruckt war, zu entziffern. Er las folgendes: Eine und unteilbare Republik Frankreich. Mir, Prieur von der Marne, Vvlksbeauftragter bei der Küstenarmee von Cherbourg, befehlen: — der vormalige Marquis von Lantenac, Vicomte von Fontenay, sogenannter bretonischer Fürst, der heimlich an der Küste von Granville gelandet, wird für vogelfrei erklärt. — Auf feinen /topf ist ein Preis gefetzt. — Wer ihn ausliefert, tot ober lebendig, er - hält sechzigtaufend Franken. — Diese Summe wird nicht in Assignaten, sondern in Gold ausbezahlt. — Ein Bataillon der Küstenarmee wird unverzüglich ans die Suche nach dem vormaligen Marquis von Lantenac entsendet werden. — Die Gemeinden sind angewiesen, dieses Bataillon zu unterstützen. — Gegeben im Rathaus zu Granville, am 2. Juni 1793. — Gezeichnet: Prieur von der Marne. Unser diesem Namen stand noch eine andere Unterschrift in viel kleinerem Druck, die wegen der Dämmerung nicht mehr zu lesen war. Der Greis drückte den Hut in die Augen, schlug den Mantel bis unters Kinn zusammen und stieg eilends die Düne hinab. Es war offenbar überflüssig, auf dieser hellen Höhe zu verweilen. Vielleicht hatte er sich schon zu lange oben auf gehalten: ber Gipfel der Düne war als einziger Punkt in der Land - schaft noch zu sehen. 3m Dunkel unten angelangf, verlangsamte er den Schritt. Er wandte sich in ber Richtung auf das Vorwerk, dem Wege zu, ben er sich vorgezeichnet; wahrscheinlich hatte er Grund, sich dort sics^r zu fühlen. Alles war verlassen. Um diese Stunde hielt sich niemand mehr außerhalb des Hauses aus. (Fortsetzung folgt)