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mnnmaC5@t£pttan  1831.  SatfitrusC5  Äevban  2101  (tileollhr  oben»« 
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Sievdan  «39.  Dnnlercikontor:  tzeblandür.  n.l.  Fernipr.:  Sammel-Nr.  Ci  <Ät<I  tüttbet  1875 
Stcvban  1831.  Raivtrus  C5  Stephan  3032  und  3683.  S 
Kummer  2S& 
©onnabcnd,  IS.  Otfober  1930 
30.  Jahrgang 
erste  MeSeMlaeht  im  neuen  Reichstag 
Im  Mittelpunkt:  Hermann  Müllers  große  Rede  /  Tobsuchtsszenen  bei  den  Nationalsozialisten 
Vizepräsident  Stöhr  muß  Gregor  Strasser  zur  Ordnung  rufen  /  Gottfried  Feders  Bankkonto 
Var  -er  EntZrheZ-nng 
cm  alle 
Honte  wir-  avgestimwt 
103  Anklaqen  gegen  23  Nazrabgeordnete 
nach  w  i  e  vor  der  starke  Fels  i  st,  an  d 
Diklaturgelüste  zerschellen  werden. 
die  Kommunisten  eingesehen  haben,  daß  die  Notverord -
nungen  nicht  in  Bausch  und  Bogen  aufgehoben  werden  kön -
nen,  sondern  daß  nur  einzelne  Teile  verändert  werden  müssen 
—  ein  entsprechender  Antrag  von  ihnen  liegt  dem  Reichstag 
vor  —,  ist  das  auch  von  links  her  als  der  richtige  Meg  an -
erkannt 
Grohes  steht  auf  dem  Spiele.  Mieder  einmal 
verteidigt  die  Sozialdemokratie  Lebensinteresse  und  Zukunst 
der  deutschen  Arbeiterklasse  und  des  deutschen  Volkes.  Ihre 
Entscheidungen  müssen  das  Signal  werden  zu  einem  ver -
stärkten  Kampf  gegen  alle  diejenigen,  die  sich  nahe  vor 
der  Errichtung  ihrer  Diktatur  wähnen,  die  aber  nicht  damit 
gerechnet  haben,  daß  die  deutsche  Sozialdemokratie 
Nichts  ist  so  sehr  geeignet,  di«  Nationalsozialisten  als  eint 
Gruppe  von  Verleumdern  und  Lügnern  zu  er -
kennen,  als  dies«  Aufstellung,  für  die  man  ihnen  nur  danken  kann. 
Da  alle  Klagen  seit  längerer  Zeit  anhängig  find,  di«  Delikte  also 
in  einer  Zeit  begangen  wurden,  in  6er  die  Nationalsozialisten  zum 
größten  Teil  die  Immunität  als  Reichstagsabgeord- 
nefe  noch  nicht  besaßen  und  Bestrafungen  für  ihre  Ver -
leumdungen  erwarten  mußten,  so  wird  man  ihnen  wohl  nicht  Un -
recht  tun,  wenn  man  von  der  Annahme  ausgeht,  daß  sie  sich  da -
mals  noch  einige  Zurückhaltung  im  Lügen  und  Verleumden  auf -
erlegt  haben.  Wie  wird  das  aber  erst  jetzt  werden, 
da  diese  Gesellschaft  nach  dem  Ausspruch  von  Goebbels  nur  In 
den  Reichstag  gegangen  ist,  weil  man  Diäten  erhält,  eine  Arei -
fahrtkarte  besitzt  und  unter  dem  Schutz  der  Immunität  drauflos 
schimpfen  und  lügen  kann. 
Will  der  Reich  stag  unter  diesen  Umständen  bei  seiner 
bisherigen  Praxis  der  Einstellung  der  Verfahren  während  der 
Dauer  der  Sitzungsperiode  bleiben,  so  würd«  das  «inen  Frei -
brief  für  Verleumdungen  durch  Nat  ionalsozia  - 
listen  bedeuten.  Das  ist  aber  auf  keinen  Fall  mit  dem  Sinn 
der  Immunität  vereinbar. 
Am  Freitag  hat  der  Reichstag  über  das  Schicksal  der  Re -
gierung  noch  keine  Entscheidung  gefällt.  Zwar  haben  die 
meisten  Fraktionen  ihre  Auffassung  zur  Lage  bereits  äußern 
lassen,  aber  die  Debatte  wird  am  Sonnabend  fortgesetzt,  und 
erst  durch  den  Ausfall  des  vorläufig  Noch  un- 
ge  wissen  Ergebnisses  der  Abstimmu  n  g  wird 
sich  herausstellen,  ob  die  Regierung  Brüning  die  Möglichkeit 
zur  Fortsetzung  ihrer  Arbe'it  erhält. 
Neben  drei  allgemeinen  Mißtrauens -
anträgen  gegen  die  Gesamtregierung  Brüning,  die  von 
den  Kommunisten,  den  Nationalsozialisten  und  den  Deutsch- 
nationalen  gestellt  sind,  liegt  auch  ein  besonderer  Mißtrauens- 
antrag  der  Landvolkpartei  gegen  den  Reichsaußenminister 
E  u  r  tius  vor.  Die  Entscheidung  über  diese  Anträge  wird 
die  maßgebende  fein,  obwohl  es  vielleicht  richtiger  wäre,  sie 
bei  der  im  Augenblick  wichtigsten  sachlichen  Frage,  dem 
Ilederbrückungskredit  und  der  Schuldentilgung,  zu 
fällen.  Aber  so  weit  ist  das  parlamentarische  System  in 
Deutschland  noch  nicht  entwickelt. 
Von  der  Gewährung  des  ausländischen 
Kredits  hängt  gegenwärtig  alles  ab,  die 
Unterstützung  der  Arbeitslosen,  die  Auszahlung  der  Renten, 
der  Gehälter  und  Löhne  der  Beamten,  Angestellten  und  Ar -
beiter.  Ist  das  Geld  für  diese  Zwecke  nicht  da,  ist  d  a  s  R  e  i  ch 
.  ah  l  u  ng  s  u  n  f  ä  h  i  g,  dann  wird  es  neue  Arbeitslose 
leben,  dann  werden  noch  mehr  Existenzen  erschüttert  und 
i  ie  Ueberwindung  der  Wirtschaftskrise  wird  noch  schwieriger, 
c  ls  das  ohnedies  bet  Fall  ist.  Geordnete  Finanzen  sind  die 
^oraussehungfürArbeitundBrotder  Massen. 
Daher  hat  sich  die  Sozialdemokratie  immer  für  geordnete 
Finanzen  eingesetzt.  Sie  wird  deshalb  auch  dem  Ueber- 
brückungskredit  zustimmen,  nicht  aus  Lisbe  zur  Regierung 
Brüning,  sondern  um  das  deutsche  Volk  vor  weiterer  Ver -
elendung  zu  bewahren.  Wenn  Nationalsozialisten,  Kommuni -
sten  und  Deufschnationale  das  Gegenteil  tun,  so  geschieht  das 
nur,  weil  sie  kefne  Ordnung  wollen,  weil  ihnen  daran  gelegen 
ist,  das  Chaos  z  u  vergrößern,  denn  nur  dann 
können  sie  die  verhaßte  Republik,  die  demokratische  Ver -
fassung  und  die  Arbeiterrechte  zerstören. 
Diese  Opfer  will  d  i  e  Sozialdemokratie 
dem  deutschen  Volke  ersparen.  Ihr  Ziel  ist  nach 
wie  vor  die  Ueberwindung  der  Wirtschaftskrise,  der  Schuh 
der  sozialen  Rechte  der  unteren  Volksschichten,  die  Erhaltung 
von  Demokratie  und  Verfassung,  die  Abwehr  der  alles  zer -
störenden  Diktatur  des  Faschismus  oder  Bolschewismus.  Die 
Sozialdemokratie  weiß,  daß  sich  der  Vorstoß  der  Reaktion 
nicht  nur  gegen  das  Reich,  sondern  auch  gegen  Preußen 
richtet.  Und  sie  erinnert  sich,  daß  auch  in  früheren  Jahren 
durchPreußendasReich  gerettet  wprden  ist. 
Wenn  die  Sozialdemokratie  den  Mißtrauensanträgen  von 
rechts  und  links  gegen  das  Kabinett  Brüning  die  Zustimmung 
versagt,  so  ist  das  weder  eine  Vertrauenserklärung  für  die 
Persönlichkeiten,  die  diesem  Kabinett  angehören,  noch  eine 
Zustimmung  zu  dem  angekündigten  Finanzprogramm.  Viele 
wichtige  Teile  dieses  Programms  werden  von  der  Sozial -
demokratie  auf  das  entschiedenste  bekämpft.  Der  Lohnabbau 
ohne  einen  Preisabbau,  die  Einstellung  der  Zuschüsse  des 
Reichs  zur  Erwerbslosenversicherung,  die  Abdrosselung  des 
Wohnungsbaues,  die  Versackungspolitik  gegenüber  den  Ge- 
MMimim  Ml  den  MumMtt 
24  Anklagen  gegen  Sen  Narben  „Pastor"  /  Goebbels  mit  14  Anklagen  Dritter 
Die  interessanteste  Drucksache,  die  dem  Reichstag  bisher  zu -
gegangen  ist,  ist  zweifellos  die  Drucksache  Nr.  87.  Sie  enthält 
einen  Antrag  der  Nalionaisoziaiisten  auf  Einstellung  von  Straf -
verfahren  gegen  23  Mitglieder  der  nationalsozialistischen 
Reichstagsfraktion,  die  in  nicht  weniger  als  103  Fällen  en -
ge  h  1  a  g  t  sind.  ES  sind  Anklagen  wegen  Beleidigung,  Ver -
gehens  gegen  bas  R  e  p  u  bl  i  k  s  ch  u  h  g  e  s  e  tz  ,  Vergehens  gegen 
das  Preßgesetz,  Körperverletzung,  Widerstandes  gegen 
die  Staatsgewalt,  unbefugter  Titelsuhrung,  Be -
schimpfung  d  e  r  Reichsfarben  und  R  e  l  i  g  i  o  n  S  v  e  i  - 
gehen. 
An  der  Spitze  steht  Pfarrer  Munchmeyer,  gegen  den 
nicht  weniger  als  24  Strafverfahren  schweben.  Ihm  folgt  der 
nationalsozialistische  Gauleiter  Koch,  Königsberg,  der  21mal 
wegen  Beleidigung  verfolgt  wird.  Gegen  Dr.  Goebbels 
schweben  14  Klagen,  und  zwar  wegen  Beleidigung,  Vergehens 
gegen  das  Republikschutzgesetz  und  Beschimpfung  der  Reichsfarben. 
Ihm  folgt  der  frühere  Lehrer  Wagner  aus  Bochum,  gegen  den 
noch  13  Klagen  anhängig  sind.  Herr  Feder,  der  große  Aktien -
besitzer,  der  gleichzeitig  für  die  Abschaffung  der  Zinsknechtschaft 
eintrift,  Hai  10  Klagen,  darunter  eine  wegen  Religionsvergehens. 
Weitere  Klagen  sind  anhängig  gegen  die  Abgeordneten  Buch 
(6  Klagen),  Dr.  Fabricius  (1  Klage),  Fillufch  (1),  Florian  (2),  Göh -
ring  (2),  Haffe  (1),  Hinkel  (2),  Krause-Ostpreußen  (1),  Lenz  (1), 
Dr.  Löpelmann  (1),  Dr.  Meoer-Westfalen  (2).  Oberlindober  (1), 
Schmeer  (1),  Schulz-Stettin  (1),  Sprenger  (1),  von  Ulrich  (1), 
Williberts  (1),  Dreher  (5). 
kratischen  Antrag  obgestimmt  wird,  durch  den  auf  den  Reichs- 
arbeitSminister  eingewirkt  werden  soll,  imß  er  den  Schieds -
spruch  für  die  Berliner  Metallindustrie  nicht  für  verbind- 
1  i  ch  erklärt. 
Dieser  Antrag  wird  ohne  Zweifel  angenommen  werden. 
Dann  erfolgt  die  Abstimmung  über  den  von  den  Regierungsparteien 
eingebrachten  Antrag,  der  den  Uebergang  zur  Tages -
ordnung  verlangt'  und  so  alle  Mißtrauensvoten  erledigt.  3m 
Reichstag  herrscht  jetzt  allgemein  die  Ansicht  vor,  daß  dieser 
Antrag  angenommen  und 
dai  Reichsparlament  dann  bis  znm  Anfang  Dezember  vertagt 
wird.  Inzwischen  werden  die  Ausschüsse  arbeiten. 
Die  heutige  Aussprache  im  Reichstag  wird  verhältnismäßig 
kurz  sein.  Döbrich  von  der  Landvolkpartei  wird  den  Rei -
gen  eröffnen,  die  Wirtschaftspartei  wird  nur  eine  kurze 
Erklärung  abgeben,  und  in  der  zweiten  Garnitur  wird  eine  Reihe 
von  Fraktionen  sich  Zurückhaltung  auferlegen,  um  die  Debatte 
nicht  ins  Uferlose  auszudehnen.  Dann  ist  wahrscheinlich  nur  noch 
eine  zweit«  Rede  deS  Kanzlers  zu  erwarten.  Unter 
diesen  Umständen  ist  di«  Ansicht,  die  noch  gestern  abend  im  Reichs- 
tag  zu  hören  war,  daß  doch  noch  der  Montag  zu  Hilse  genommen 
werden  müsse,  bereits  überholt  und 
mit  der  Abstimmung  ist  nun  sicher  für  heute  abend  zu  rechnen. 
Sie  wird  sich  wahrscheinlich  in  der  Weise  entwickeln,  daß  zu -
nächst  die  Ueberweisung  der  Notverordnungen  an 
den  Ausschuß  erfolgt  und  darauf  über  den  soziaIdemo  - 
meinden  sind  keine  Maßnahmen,  die  die  Wirtschaftsgesundung 
herbeiführen.  Aufrechterhaltung  der  Unterstützungsleistungen, 
Streckung  der  Arbeitsmöglichkelten,  Preisabbau  und  Kartell -
abbau,  Verminderung  der  hohen  Gehälter  und  Pensionen  und 
des  sonstigen  unproduktiven  öffentlichen  Aufwandes,  das 
muß  im  Vordergründe  stehen.  Wenn  die  Gesetzentwürfe  der 
Regierung  erst  vorliegen  werden,  wird  die  Sozialdemokratie 
mit  allen  Kräften  den  Versuch  machen,  für  ihren  Standpunkt 
eine  Mehrheit  zu  gewinnen. 
Das  wird  auch  geschehen  bezüglich  der  Notverord -
nungen  vom  Juli,  deren  Ueberweisung  an  einen  Ausschuß 
des  Reichstags  die  Regierung  zugestimmt  hat.  Nachdem  selbst 
Die  Programmdebatte 
SPD.  Berlin,  17.  Oktober. 
Am  Freitag  entwickelte  sich  In  diesem  mit  Spannungen  ge -
ladenen  und  von  politischen  Leidenschaften  durchrasten  Reichstag 
die  erste  große  politische  Aussprache.  Neun  Stunden 
tobte  der  rednerische  Kampf.  Zeitweise,  zumal  während  der  Rede 
des  Nationalsozialisten  Straffer,  schien  sich  daS  Parlament  in 
eine  Wahlversammlung  zu  verwandeln.  So  dröhnte  der  Beifall 
der  Nationalsozialisten  über  jede  hohle  Phrase.  Manchmal  unter -
brach  der  Lärm  minutenlang  die  Redner.  Dennoch  gelang  et  der 
sich  erst  jetzt  zu  ihrer  vollen  Höhe  entwickelten  Präfldialmeisterschaft 
Löbes,  die  Erregungen  immer  wieder  zu  bannen. 
Erster  Gegenstand  der  Beratungen  war  der 
Entwurf  eines  öchuldentilgiMSgesekeS 
Dieser  Gesetzentwurf  will  die  ordnungsmäßige  Tilgung  des  größten 
Teiles  der  schwebenden  Schulden  und  in  ihrem  Rahmen  auch  die 
Abdeckung  des  jetzt  aufzunehmenden  Ueberbrü  ckungskredites. 
Gegen  diesen  Gesetzentwurf  sprachen  der  Kommunist  Neubauer, 
der  Nationalsozialist  Feder  und  der  deutschnationale  Abgeordnete 
Dr.  Quaas,. 
Der  Aeichsiinanzminister  verteidigte  seinen  Gesetz -
entwurf  und  gab  zugleich  eine  Aufstellung  des  Entstehens  der 
schwebenden  Schulden.  Von  den  MehranSgaven  in  diesem  Jahre 
feien  200  Millionen  Mark  für  die  HaupiunierstützungSempfänger 
der  Erwerbslosenversicherung  und  100  Millionen  mehr  für  die 
Krisenfürsorge  bestimmt. 
Die  Reichsregierung  rechne  im  Dinier  mit  24  Millionen 
Hauptunterssühungsernpfängern  und  700  000  Krisenversorgten, 
versorgten. 
Der  sozialdemokratische  Abgeordnete  Keil  rief  dem  pharisäer -
haften  deutschnationalen  Abgeordneten  Dr.  Ouaah  ins  Gedächt -
nis,  daß  die  -Deutschnationalen  vom  Jahre  1924  bis  1928  an  der 
jetzt  in  Grund  und  Boden  kritisierten  Schuidenwirtschast  mitgewirkt 
hätten.  Als  1928  der  Bürgerblock  zurückgetreten  sei,  habe  der 
sozialdemokratische  Reichsfinanzministcr  St.  Hilferding  eine 
Milliarde  Fehlbetrag  vorgefunden.  Alle  Betriebsmittel  des  Reiches 
seien  aufgezehrt  gewesen. 
Sos  abgtbcbtnt  Bankkonto  bcr 
Abarorbnoton  Fober 
Während  dieser  Aussprache  über  bas  wichtige  Schuldentilgungs -
gesetz  wurde 
eine  Hinrichtung  an  dem  nationalsozialistischen  Abgeord -
neten  Dr.  Feder,  dem  Finanzsachverständigen  seiner 
Fraktion,  vollzogen. 
Feder  und  seine  Bedeutung  ist  irn  Verhältnis  zu  den  großen  Fragen 
d«S  Tages  sehr  gering.  Immerhin  ist  der  Vorfall  bezeichnend  für 
die  Verlogenheit  nafionälfojialiftcr  Politik.  Dieser  Dr.  Feder  ist 
einer  der  Haupivertreter  des  Kampfes  gegen  Börsenspekula -
tion,  gegen  die  Zinsknechtschaft  und  ähnlicher  schöner 
Parolen.  Nun  wurde  in  dieser  Reichstagssitzung  aus  amtlichen 
Protokollen  sestgestelli,  daß 
Dr.  Feder  am  8.  November  1923  bei  dem  Münchener 
Bankhaus  Schneider  fein  Guthaben  in  Sicherheit  bringen 
wollt«.  Wenige  Stunden  später  war  derselbe  Dr.  Feder  Finanz- 
minister  der  kurzlebigen  Putschreglerung  Adolf  Hiller.  In  dieser 
Eigenschaft  hat  Dr.  Feder,  nachdemerebenerstseinVer- 
mögen  in  Sicherheit  hatte  bringen  wolle»,  verfügt,  daß  lebe 
Verschiebung  ober  Veränberung  des  Vermögens -
bestandes  schwer  bestraft  werde.  Dr.  Feder  suchte  sich  damit  herauS- 
zureden,  daß  seine  Papiere  wertlos  gewesen  seien.  Prompt 
führte  aber  Seil  den  Nachweis,  daß  am  15.  November  1923  das 
Bankhaus  die  Papiere  Dr.  Feders  mit  40000  GoIdma  r  k  be -
wertet  habe. 
Feder  stand  also  unter  gewaltiger  Erregung  des  ganzen 
Reichstags  als  Lügner  vor  dem  Haufe.  Dieser  Vorkämpfer 
Copyright  1930  by  Verlag  I.  H.  W.  Dietz  Nachs.,  GmbH.,  Berlin. 
Torettampf  r«  Freiheit 
Von 
Pietro  Nenn! 
in]  
Dann  wird  es  still.  Bissolati  erscheint  aus  der  Bühne, 
umgeben  von  Heimkehrern  mit  Kriegsmedaillen  und  mit 
Kriegswunden.  Beifall  wird  laut,  dann  Pfeifen.  Von  einer 
Heile  wird  gerufen:  „ES  lebe  der  Friede!" 
„Es  lebe  Dalmatien!"  rufen  die  andern.  Die  Musso- 
linianer,  die  ihren  Führer  umgeben,  find  wutentbrannt.  Sie 
ziehen  sich  in  eine  Loge  zurück,  vor  deren  Eingang  Bewaff -
nete  Wache  halten.  Sie  sind  festenkschlossen,  die  Rede  zu 
vereiteln.  Mussolini  beugt  seinen  glattrasierten  Kopf  in  den 
Saal  und  brüllt:  „Er  soll  nicht  reden,  er  soll  nicht  reden!" 
Erst  nach  einer  halben  Stunde  ist  ein  Augenblick,  wenn 
nicht  der  Ruhe,  so  doch  verminderten  Tobens  zu  erlangen. 
Bissolati  spricht.  Aber  die  Unruhe  läßt  seine  Worte  nur 
wenigen  verständlich  werden.  Er  sagt,  daß  der  Krieg  für 
Italien  nur  dann  eine  Quelle  der  Kraft  und  des  Prestige  sein 
kann,  wenn  Italien  gerecht  ist.  Er  erkennt  daS  Recht  Fiumes 
als  italienische  Stadt  an,  aber  er  bestreitet,  daß  Dalmatien 
italienischer  Boden  sei,  und  rät  von  der  Annexion  Südtirols 
ab.  Jeder  Sah  wird  durch  Zwischenrufe  und  Beifall  unter -
brochen.  Zeitweilig  hört  man  die  Stimme  des  Redners  gar 
nicht.  Jetzt  spricht  er  von  der  gewaltigen  Aufgabe  des 
Völkerbundes,  wie  ihn  Wilson  eben  entworfen  hat.  Er 
spricht  von  der  Notwendigkeit,  mit  den  Nachfolgestaaten  der 
österreichisch-ungarischen  Monarchie  ein  Verhältnis  der  Soli -
darität  herzustellen.  Den  Hunger  nach  Gerechtigkeit,  nach 
Frieden,  den  die  Soldaten  aus  den  Schützengräben  nach 
Hause  gebracht  haben,  kleidet  er  machtvoll  in  Worte.  Er 
spricht  von  dem  Recht  der  großen  Masse,  die  Anspruch  er -
hebt,  sich  ein  neues  Leben  zu  schaffen,  frei  von  dem  Alpdruck 
künftiger  Kriege. 
Jetzt  verlieren  sich  seine  Worte  im  wüsten  Lärm.  Die 
ganze  Hölle  scheint  losgeworden.  Schmähworte  sausen  auf 
den  Redner  nieder:  „Verkauft,  Verräter,  Kroat!"  Nationa -
listen,  Futuristen,  Mussolinianer  brüllen  alle  zusammen.  Der 
Redner  muß  von  der  Tribüne  abtreten.  Beim  Räumen  deS 
Saales  entsteht  ein  ungeheurer  Wirrwarr.  In  den  Korridoren 
-  kommt  es  wiederholt  zum  Handgemenge.  Draußen  bilden 
1  sich  im  Dunkel  der  Nacht  DeinonstrafionSzügc,  die  unter  den 
'  Klängen  von  KriegSliedern  in  die  Galerie  strömen.  Vor  den 
Eaf6S  werden  Versammlungen  improvisiert. 
Von  nun  an  ist  die  Generation  derer,  die  am  Kriege  teil -
genommen  haben,  in  zwei  Lager  gespalten. 
Nunmehr  macht  sich  die  nationalistische  Dummheit  breit. 
Unter  dem  Vorwand,  den  Sieg  zu  verteidigen,  trägt  man  den 
Geist  des  Krieges  in  den  Frieden  hinein.  Wenn  man  gestern 
gerufen  hatte:  „Es  lebe  Triest!",  so  schreit  man  heute:  „ES 
lebe  Dalmatien!"  Gestern  war  der  Feind  das  österreichische 
Kaiserreich,  heute  ist  es  Jugoslawien.  Man  sprüht  Feuer 
gegen  Frankreich,  gegen  England,  gegen  Wilson.  Man  bc- 
beschuldigt  die  ganze  Welt  einer  Verschwörung  gegen  Italien. 
Man  stellt  das  Land  als  das  Opfer  eines  großen  inter -
nationalen  Betruges  dar.  Eine  Art  Tollheit  bemächtigt  sich 
dieser  Minorität,  die  die  Macht  des  Geldes  und  der  sozialen 
Stellung  auf  ihrer  Seite  hat. 
D'Annunzlo  ist  der  Prophet  dieser  Minorität,  zu  der  sich 
in  Massen  Abenteurer  gesellen,  deren  jedes  arme  und  über -
völkerte  Land  so  viele  hat. 
Die  Armee  stieß  täglich  ihre  improvisierten  Offiziere  ab, 
denen  man  nichts  mifgab  als  eine  spärliche  Abfindung.  Sie 
bildeten  nunmehr  eine  besondere  soziale  Gruppe.  Der  Krieg 
hatte  sie  als  halbe  Kinder  an  sich  gerissen.  Es  waren  Staden -
sen,  Angestellte,  Söhne  von  Bauern  oder  kleinen  Kaufleuten, 
nun  des  Studiums  entwöhnt,  der  Arbeit  entfremdet.  3m 
Felde  haben  sich  viele  von  ihnen  sehr  tapfer  gehalten.  Sie 
sind  daran  gewöhnt,  zu  befehlen,  und  möchten  bei  dieser  Ge -
wohnheit  bleiben.  Vielen  erscheint  es  als  eine  Demütigung, 
eine  Stellung  anzunehmen.  Mit  der  Büroarbeit  können  sie 
sich  nicht  befreunden,  und  sie  reden  sich  gern  ein,  daß  die 
Gesellschaft  ihnen  gcgeiüibct  eine  dauernde  Verpflichtung 
übernommen  habe.  Sie  wollen  nicht  zurück  in  die  heimat -
lichen  Dörfer,  zum  gleichmäßigen,  unscheinbaren  Tagewerk. 
Die  große  Stadt  zieht  sie  an. 
Sie  sind  vom  ersten  Augenblick  an  die  natürlichen  Re -
kruten  des  nationalistischen  Abenteuers  und  werden  morgen 
die  des  faschistischen  Abenteuers  sein. 
Wie  die  übrigen  Lander  Europas  mußte  auch  Italien 
seinen  Tribut  sozialer  Unruhen  dem  Verbrechen  des  Krieges 
entrichten. 
Aus  der  einen  Seite  hatten  wir  ein  Proletariat,  das  die 
Schaustellung  der  Orgien  und  des  Luxus  der  neuen  Reichen 
erbitterte  und  das  den  Sturm  des  Aufstandes  fühlte,  der  vom 
Osten  über  ganz  Europa  ausging. 
Ihm  gegenüber  stand  ein  Bürgertum,  das  ohne  irgend -
welchen  Kraftaufwand  ungeheure  Geldsummen  aufgehäust 
hatte  und  doch  keineswegs  den  weiten  Blick  eines  wirklich 
neue  Wege  gehenden  Unternehmertums  besah,  ein  Bürger -
tum,  das  im  Kriege  dem  Heere  Stiefel  mit  Pappsohlen  und 
Kugeln  aus  Blech  geliefert  hatte  und  sich  jetzt  der  Börse  zu- 
wendete,  wo  es  mit  derselben  Leichtigkeit  wie  bei  den  Staafs- 
licferungen  verdienen  wollte. 
Zwischen  beiden  die  Intellektuellen  und  das  ländliche 
Kleinbürgertum,  die  zusammen  fünfzig  Jahre  lang  das  Gerüst 
deS  Staates  gebildet,  der  Regierung  niemals  Schwierigkeiten 
gemacht  hatten,  als  ein  unerschöpfliches  Reservoir  der  Ord -
nung  und  des  Gleichgewichts,  die  aber  jetzt  an  einer  schweren 
inneren  Krise  laborierten.  Gerade  auf  diese  Klaffen  fallen 
zunächst  die  Folgen  der  wirtschaftlichen  Krise,  die  anfängt, 
auf  dem  Lande  zu  lasten.  In  diesen  Klassen  werden  die  Rück -
schläge  der  Verhandlungen  von  Versailles  am  schwersten 
empfunden,  in  ihrer  Nichtachtung  jeder  Gerechtigkeit. 
Schließlich  sind  es  diese  Klassen  im  Verein  mit  der  Vorhut 
deS  Proletariats,  in  denen  die  Idealistische  Philosophie  und 
die  Theorie  der  Gewalt  Boden  fassen. 
Und  der  Staat?  Und  die  Regierung?  Und  das  Parla -
ment? 
Während  der  Krieg  alles  verändert  und  umgestürzt  hat, 
ist  der  Staat  in  feiner  konkreten  Form,  das  heißt  in  feinem 
bürokratischen  Apparat,  der  gleiche  geblieben  und  bewegt  sich 
weiter  in  den  altgewohnten  Gleisen.  Er  kennt  keine  Elle. 
Auch  das  Parlament  begnügt  sich  mit  ewigen  Diskussionen, 
bei  denen  veraltete  oder  abstrakte  Programme  zutage  treten. 
Die  Regierung  gibt  sich  Muhe,  zwischen  den  Parteien  zu 
Aus  dem  Inhalt 
Politik  und  allgemeiner  Teil: 
Die  erst«  Redeschlacht  im  neuen  Reichstag.  —  Heut«  ent -
scheidende  Abstimmungen. 
103  Anklagen  gegen  23  Naziabgeordnete. 
Neuer  Kurs  in  Bayern? 
Mehrheit  für  Macdonald. 
Tagesbericht: 
Morgen  wählt  das  Landgebiet. 
WaS  aibts  Neues  im  Hauptbahnhos? 
Di«  Aerztekammer  hat  Zeit. 
Kunst  und  Wlsjenschaft: 
Ein  oberschlesischer  Troja? 
Aus  aller  Weit: 
Shirmoerroflftungcn  an  der  französischen  Westküste. 
Film  und  Funk:  Die  verschenkte  Emelka. 
lavieren.  Sie  ergreift  nie  die  Initiative,  sie  führt  nicht,  kaum 
daß  sie  nachkommt.  Da  die  Parteien  der  Mehrheit  in  allen 
wichtigen  Problemen  uneins  sind,  wendet  man  die  Methode 
an,  jede  Entscheidung  zu  vertagen. 
Das  im  Jahre  1912  gewählte  Parlament  ist  kaum  noch  ein 
schwacher  Abglanz  des  Landes.  In  ihm  wird  ohne  Ende  ge -
redet  über  alles  und  nichts,  Altweibergewäsch,  wie  Lassalle 
vom  Preußen-Landtag  unter  der  Bismarckschen  Faust  sagte. 
Am  20.  Juni  1919  wird  daS  Ministerium  Orlando  ge -
stürzt,  und  Ritti  übernimmt  die  Nachfolge.  Er  ist  einer  der 
jüngeren  parlamentarischen  Führer,  der  in  bezug  auf  die 
Organisation  des  ©faafcS  und  vor  allem  auf  die  Organisation 
des  Friedens  ein  klares  und  kühnes  Programm  hat.  Aber 
er  muß  mit  einer  Mehrheit  rechnen,  der  sowohl  Zusammen -
halt  als  auch  Mut  fehlt,  und  mit  einer  außerordentlich 
schwierigen  Lage.  Kaum  Hal  er  die  Nachfolge  Orlandos  an -
getreten,  als  schon  die  nationalistische  Partei  und  die  in  Mai -
land  von  Mussolini  gegründeten  „FaSci"  gegen  ihn  Stellung 
nehmen.  Unter  der  Führung  d'Annunzios  nimmt  die 
Agitation  für  Fiume  und  Dalmatien  immer  schärfere  Formen 
an.  In  den  großen  Städten  finden  Versammlungen  und  Um -
züge  statt,  und  man  beschuldigt  den  Premierminister,  der 
Liquidator  deS  Sieges  zu  fein,  ehe  er  Irgendwie  in  die  Unter -
handlung  eingreifen  kann.  Dies  ist  der  (Empfang  von  der 
rechten  Sette.  (Fortsetzung  folgt.)