10 4 giitmmer 312 Dienstag, 11 November 1930 SO. Jahrgang tie$ele«ipr*4|« ncrftebcn ftd> in MetchSmarr, Ne N aclvaltkNk Ron- paieilleikile oart. gcrnlpiecixr: Sammel» nummer03. Hcraiitro. Mcbattcur: •. Do*e«n*oef, rw jhf - Buchhandlung: «aifcr-Llllhelm-Strakc tt/ts. Fernspr. 6) w Stephan.Will. Truclercilontor: «rblanbflr. ll.L getnfpr.: Sammel-Nr. 62 ffifitrilnhH 1 O 7 K Stephan 1831. Siachtruf C 5 Stephan 3032 und 3683. WtglUnOtl 10/3 WluK mit Preisabbau Senkung des Brotpreises um 4 Pfennig, des Schweine- fleischpreises um 3 Pfennig, des Milchpreises um 1 Pfennig geplant / Nahrungsmittelgewerbe fordert als Gegen - leistung Lohn- und Steuersenkung Durch den BlSkkerwald der bürgerlichen Presse geht ein großes Rauschen: Preisabbau, Preisabbau. Was ist geschehen? 3m Reichsernährungsministerium fanden Verhand - lungen mit den Vertretern der Nahrungsmittelgewerbe statt. Das Ergebnis dieser Verhandlungen ist das folgende: 1. Bäckergewerbe und Brotfabriken verpflichten sich, grundsätzlich der Forderung des Reichsministeriums für Er - nährung und Landwirtschaft entsprechend das Brok in Zukunft einheitlich nach Gewicht zu verkaufen. 2. An Stelle des für die Zeit vom 3. bis 9. November für Groß-Berlin maßgeblichen Tafelgewichtes von 1225 Gramm für das Roggenbrot wird in Zunkunft ein Einheltsgewicht von 1250 Gramm für das Normalbrot treten. 3. Der Preis für das Normalbrot von 1250 Gramm wird bei gleichbleibender Qualitäk in Berlin ab 13. November von 50 Jj auf 46 gesenkt. Also, Verkauf des Brotes nach festem Gewicht und Preis - ermäßigung um 4 Der Brötchenpreis wird nicht ermäßigt. Bei den Verhandlungen mit den Fleischern wurde er - reicht, daß der Deutsche Fleischerverband die Aufforderung an seine Verbandsmitglieder richtet, in Zukunft die Schweine - fleischpreise um 5 4 pro Pfund zu senken. Für die übrigen Fleischsorten tritt ein« Senkung nicht ein. Für die Milch ist schließlich erreicht worden, daß der Ver - band der Vereinigten Berliner Milchhändler, die Arbeitsgemein - schaft der Freien Berliner Milchhändler und der Milchverkaufs - verband Norddeutscher Meiereien ihren Mitgliedern empfehlen, vom nächsten Montag ab die Handelsspanne der Milch und damit den Milchpreis um einen Pfennig herabzusetzen. Bei den K a r l o f f e l h ä n d l e r n ist man vorläufig noch zu keinem Ergebnis gelangt. Die geringfügigen Preissenkungen, die jetzt versprochen wer - den, werden aber durch die Er Klärungen der verschie - denen Gewerbegruppen in ihrem an sich schon geringen Wert noch weiter vermindert. So stellt di« Germania, der Zen - kralverband Deutscher Bäckerinnungen, fest, daß gegenwärtig eigentlich noch keine Voraussetzung für eine Sen - kung des Brotpreises gegeben sei, da die Lohnunkosten, sozialen Lasten, Steuern, Werktarife und andere Unkosten sogar erhöht worden sind. Trotzdem soll die Preissenkung erfolgen unter der Voraussetzung, daß sich die Reichsregierung nachdrücklichst dafür einseht, daß die die Brolpreisstellung belastenden Unkosten, Löhne, Stenern, soziale Lasten, Werktarife usw. gesenkt werden. Insbesondere seht das Bäckerhandwerk als selbstverständlich vor - aus, daß die Reichsregierung sich mit ollem Nachdruck gegen jede Preiserhöhung, insbesondere auf dem Mehlmarkl, wendet. Unterdiesen Voraussetzungen sollen die Brolpreise in Groß-Berlin gesenkt werden. Aber, so fährt die Erklärung der Innungen fort, „aus dieser Preissenkung in Groß-Berlin darf nicht die Folgerung gezogen werden, als ob allgemein im Reich die Brotpreise gesenkt werden können." Nicht viel anders lautet die Erklärung des Deutschen Fleischerverbandes: „Das Fleischergewerbe erkennt an, daß in Anbetracht der wirtschaftlichen Notlage ein allgemeiner Preisabbau, auch für Lebensrnittel, durchgeführl werden muß. An die Verbands- mitglieder wird deshalb die Aufforderung gerichtet, auf der Grundlage der Einkaufspreise unter Berücksichtigung der Steuern, Gebühren und sonstigen Lasten, die das Fleischergewerbe zu tragen hat, scharf zu kalkulieren und die Spanne für Schweine - fleisch um fünfReichspfennige je Pfund zu senken. Das Fleischergewerbe gibt eine Vorleistung, die nur eine begrenzte sein kann und nur aufrechterhalten wird, wenn die von der Reichsregierung auf der ganzen Linie zugesagten Abbaumaßnahmen sich schnellstens auswirken werden und wenn die Länder und insbesondere auch die Gemeinden auf keinen Fall die hohen Abgaben und Lasten beibehalten, sondern im Gegenteil ebenfalls erheblich herabsetzen." Also, die Preissenkung hält sich in engsten Grenzen und ist noch dazu mit allen möglichen Bedingungen und Voraussetzungen verkoppelt, die die Preissenkung praktisch fast illusorisch machen. In der heutigen Beilage „Arbeit und Wirtschaft" des Hamburger Echo wird das ganze Ausmaß des Brokwuchers in Deutsch - land zahlenmäßig gekennzeichnet. Die törichten Versuche des Bäckerhandwerks, sich hinter den hohen Unkosten sLöhnen, Steuern usw.) zu verkriechen, sind nichts als Ausflüchte, die be - weisen, wie wenig ernst es diesen Kreisen mit einer wirklichen Gesundung der Wirtschaft ist. Der wirkliche Krebsschaden, die Handelsspanne, wird so gut wie gar nicht angetastet. Mit kleinen Mittelchen versuchen Regierung und Nahrungsmittel- gewerbe die Bevölkerung zu bluffen und vor allem Gründe herbeizuschaffen, um eine Offensive gegen den Arbeits - lohn einzuleiten. Mit einer Preissenkung der Hauptnahrungsmittel von 1 bis 5 ist praktisch so gut wie gar nichts erreicht. Soll eine Preissenkung wirklich durchgreifenden Wert haben, dann muß sie im Nahrungsmittelgewerbe erheblich größeren Umfang annehmen, dann darf aber vor allem die Regierung nicht davor zurückschrecken, auch in der Industrie die Kartelle und Truste mit ihrer willkürlichen Preis- 3m Do X Über die Nordsee Copyright — Wolffs Telegraphisches Bureau. Ueber ihre Eindrücke an Bovd des „Do X" berichtet eine der Flugteilnehmerinnen, Lady Drummond Hay, unter anderm: „Wir erleben den Beginn einer neuen Aera im Weltverkehr", sagte Dr. Claudius Dornier zu mir, als das riesige Flugzeug über die erregte See dahinjagte. Dr. Dornier gab zu, daß er sich glücklich fühle. Er bemerkte, die erste erfolgreiche Ueberquerung der offenen See durch sein riesiges Flugboot betrachte er als ein Zeichen, daß sich der Traum seines Lebens verwirklichen werde. „Ich selbst", berichtet Lady Drummond Hay weiter, „mache die gleichen Empfindungen durch, wie bei meinem ersten großen Zeppelinslug im Jahre 1928. Die gleiche gehobene Stimmung herrscht auf der Kommandobrücke, in den Naoigations- und Mo- schinenräumen wie bei dem ZeppeÜu. Eine andere Aehniichkeit ist das Gefühl äußerster Sicherheit und Bequemlichkeit auf dem 'Passagierdeck. Es ist kaum eine Bewegung zu verspüren, und der furchtbare Lärm der zwölf Motoren mit ihren 7500 PS stört die Unterhaltung im Passagierraum- keineswegs." Ein anderer Flugleilnehmer, Karl von Wiegand, berichtet: „Der „Do X" lag bei dem Fluge völlig ruhig in der Luft, trotz eines Gegenwindes von 50 Stundenkilometer. Es war ein schöner Flug bei angenehmem Wetter. Der Empfang des „Do X" durch die Engländer in Calshot war herzlich. Dr. Dornier und seine Gattin gingen abens als Gäste von Lady Swaythling nach London. Der Abflug nach Bordeaux dürfte nicht vor Donnerstag erfolgen, da so viele Leute das neue Luftwunder zu besichtigen wünschen." Politik, die die Inlandpreise weit über die Weltmarkt - preise stellt, mit alleräußerster Energie anzupacken. Preissenkung ist nur, gegen kapitalistische Sonder - interessen möglich. Durch kleine Mätzchen läßt sich die Ar - beiterschaft nicht bluffen. M die lange Bank geschoben Ser Boliztikoitenstreit mit Thüringen Die' staatsrechtlich« Auseinandersetzung zwischen dem Land« Thüringen und dem Reich wegen der Sperrung der Polizeikostenzuschüss« wird, wie zuverlässig verlautet, im laufenden Jahr kaum noch durch den Staatsgevichts- hof für das deutsche Reick erledigt werden können. Die Beweis - erhebung, die der Berichterstatter des Staatsgerichtshofes, Reichsgerichtsrat Dr. Schmidt durchführt, ist noch nicht beendet. RMörat Im DZugArnvo an einem Tage zelm Lilli? erledigt Die Ausschüsse des Reichsrats traten am Montag in di« Etatsberatung ein. Erledigt wurden bisher die Etats der Reichskan.zlei, des Reichspräsidenten, des Reichswirt - schaftsministeriums, des Reichsiustiznrinisteriums, des Reichsiags, des Reichsfinanzministeriums, der Versorgungsetat, der Etat des Reiichssparkommisiars, der Reichsschuld und des Reichsinnen - ministeriums. SoziallsMer Wablrrsolg In Sens SPD. Genf, 11. November. Bei den durch dne Schaffung der Stadt G'oß-Genf notwendig gewordenen Wahlen zum großen Rat des KantonS Genf erzielten die Sozialisten einen bemerkens - werten Erfolg. Sie gewannen fünf Sitze und wurden damit die stärkste Partei. Bisher standen 32 Sozialisten 68 Bürgerlichen gegenüber. Jetzt sind es 37 gegen 63. Der Empfang in England SPD. London, 10. November. Nachdem am Sonntag groß« Menfchenmassen, die vor allem aus London gekommen waren, ver - geblich ans die Ankunft von „Do X" gewartet halten, ist das Flug - zeug am Montagnachmiitag 3.37 Uhr in Calshot bei Southampton glücklich gelandet, zwei Stunden später als ursprünglich gemeldet. In Amsterdam war „Do X" um 10.35 Uhr zum erstenmal gestartet. Gegen elf Uhr kam das Flugzeug zur großen Ueberraschung wieder zurück. Ein Motordesekt hatte diese Umkehr erzwungen. Um die Mittagsstunde war er behoben. Dann erfolgte der zweite Start, und begünstigt vom schönsten Sonnenschein flog der Apparat über Dixmuiden und Ostende. Bei Middlekerke verließ er die belgische Küste um die Insel anzufteuern. Hier wurde „Do X” von englischen Fliegern empfangen, di« ihm den Weg weisend voranzogen. Hart ging es dann di« englische Küste entlang. Bei der Landung in Southampton begrüßte Vizeadmiral Lamb das deutsche Flugzeug im Namen des englischen LustministeriumL 23 Pasiagiere sahen in den Kabinen, darunter acht Deutsche. Die übrigen sind Angehörige der verschiedenen Staaten. Sollan-fabtt des Zeppelins WTB. Friedrickshafen, 11.November. Heut« nacht 0.10 Uhr startete das Luftschiff „Graf Zeppelin" unter Führung von Dr. 6diener nach Holland. An Bord befinden sich 20 Pasiagiere, die sämtlich dem württembergischen Landtag angehören. Die Rückkehr des Luftschiffes wird am Dienstagnachmittag zwischen 4 und 5 Uhr erfolgen. DaS Luftschiff „Graf Zeppelin" führt mit diefem Flug nach Holland eine Iwbiläumsfadrt auS. Es ist seine 150. Fahrt. „Sie neue Awa im Weltverkehr Todeskampf der Freiheit: Matteottis letzte Rede Von Pietro Nenni 351 Mehr bedurfte es nicht, um die Rechte völlig außer sich zu bringen. Die Faschisten streckten dem Redner ihre Fäuste entgegen. Aus dem Halbkreis zwischen den Bänken ver - suchte man sich auf den Wortführer der Sozialisten zu stürzen. Mussolini saß am Ministertisch mit düsterer Miene, ohne eine Geste, ohne ein Wort der wüsten Szene zuschauenü. Matteotti: „Rach einer ausdrücklichen Erklärung des Führers des Faschismus hat die Regierung das Ergebnis der Wahlen von vornherein nicht als für ihr Schicksal ent - scheidend angesehen. Sie wäre geblieben, auch wenn sie als Minderheit aus den Urnen hervorgegangen wäre." Farinacci: „Ihr konntet ja die Revolution machen!" Starace: „Jawohl, wir haben die Regierung, und wir behalten sie!" Jetzt brüllt die ganze Rechte gleichzeitig. Eine Stimme kläfft: „Wir werden euch durch Schüsse in den Rücken lehren, uns Respekt zu zeigen." „Feige Bande", murmelt einer . . . Völlig Herr seiner selbst, läßt Matteotti die Leute sich austoben, ohne sich auch nur die Mühe zu geben, den Zwischenrufern zu antworten. Matteotti: „Um diese Absicht der Regierung zu stützen, gibt eö eine bewaffnete Miliz . . ." Stimmen von rechts: „Hoch die Miliz!" Matteotti: „. . . die weder im Dienste des Staates steht noch in dem des Landes, sondern im Dienste einer Partei . . Terruzzi: „Genug, genug!" Die Rechte klappert mit den Deckeln ihrer Schließfächer. Während mehrerer Minuten gelingt es dem Redner nicht, sich Gehör zu verschaffen. Matteotti: „Ich werde die Tribüne nicht verlassen, ehe ich nicht alles gesagt habe, was ich sagen will." Stimmen von rechts: „Rein, nein, es ist genug!" Suardo: „Wir gehen weg. Wir lassen uns nicht be - leidigen!" Der Tumult hat seinen Höhepunkt erreicht. Mit ge - kreuzten Armen wartet MatteoM ruhig und entschlossen, bis er weitersprechen kann. Matteotti: „In Mexiko vielleicht, wo man die Wahlen mit Bomben macht . . ." Der Spektakel fängt von vorne an. Matteotti: „Ich bitte Mexiko um Entschuldigung wegen des beschimpfenden Vergleichs." „Genug! Genug!" wird von der Rechten gebrüllt. „Werft ihn von der Tribüne!" Jetzt zählt der Redner die Verbrechen auf: die Unmög - lichkeit der Wähler der Opposition, die Unterschriften für die Proklamierung der Kandidaturen zu sammeln: die Un - möglichkeit der Kandidaten, zur Wählerschaft Fühlung zu nehmen: Gewalttaten gegen die Presse. Zwischenruf: „Angst haben Sie!" Anderer Zwischenruf: „Fragen Sie Turati, ob er nicht hat reden können." Turati: „Ja, zu meiner großen Schande habe ich Ihren Schutz ertragen müssen, um sprechen zu können." Von der Linken wird applaudiert: auf der Rechten wird der Spektakel höllenmäßig. Der Präsident benutzt die Ge - legenheit, um einem andern Redner das Wort zu erteilen. „Matteotti: Das ist ein Skandal. Ich verlange, daß man mein Recht, zu sprechen, schützt." Stimme von rechts: „Schweigen Sie! Wir werden Ihnen die Tugend des Schweigens beidringen." Matteotti: „Einer der Kandidaten, Piccinini, hat es er - fahren, was es in diesem Wahlkampf bedeutete, seiner Par - tei zu gehorchen. Man hat ihn ermordet, weil er die Kandidatur angenommen hatte. Ich entbiete seinem An - denken den Gruß . . ." „Eine Stimme: „Sie hätten dieselbe Strafe verdient!" Eine andere Stimme: „Sie gehören ins Zwangsdomizil, nicht ins Parlament!" Vom Regierungstisch sagt Mussolini nicht das leiseste Wort, nm dem Recht des Redners Achtung zu verschaffen. Er legt seinen Kopf auf die auf dem Tisch gekreuzten Arme und bleibt unbeweglich, undurchdringlich. Jetzt greift der sozialistische Redner weiter ans. Er ruft das Gefühl der Gerechtigkeit an, über alle Parteimeinungen hinaus. , Matteotti: „Rehmen Sic sich in acht! Die Freizeit zieht Irrtümer nach sich, von denen das Volk sich heilen kann, wie die Geschichte beweist. Die Tyrannei aber führt zum Tode der Ration . . ." Das Wüten der Rechten wird stärker. Alle Abgeordneten brüllen gleichzeitig gegen den Wortführer des Proletariats, den die Linke durch ihren Beifall unterstützt. Im Zentrum beobachten die spärlichen Ueberblcibsel der alten politischen Welt, die in der neuen Kammer Sih haben, unter ihnen Giolitti, diese erste Auseinandersetzung zwischen Mehrheit und Opposition, ohne daran teilzunehmen. Dagegen nehmen die dem Publikum geöffneten Tribünen lebhaft teil. Man hat sic von der faschistischen Miliz be - setzen lassen, und diese begrüßt jede Unterbrechung der Fari - nacci, Starace, Terruzzi mit Beifallgeheul. Von dem langen Kraftaufwand ermüdet, gibt Rkatteottt doch nicht nach. Keine Spur von Demagogie oder Effekt - hascherei in seiner Rede. Er legt Tatsachen dar, er sagt, was er gesehen hat. Den Beschimpfungen stellt er Doku - mente entgegen. Seine Schlußworte sind schlicht und herb. Matteotti: „Sie wollen das Land zum Absolutismus zurückdrängen. Wir verteidigen die Souveränität des italienischen Volkes, dem wir unsern Gruß entbieten, und für dessen Würde wir cintreten, indem wir fordern, daß man diese Wahlen einer Prüfung in vollem Lichte unterziehe." Wie weiter in Oesterreich? Der Wahlausgang stellt außer Zweifel, daß die er - drückende Mehrheit des österreichischen Volkes zur Demo - kratie steht. Die Sozialdemokratie hat daran für ihren Teil nie Zweifel gelassen: auch der oft zitierte Beschluß des Linzer Parteitages konnte nur von böswilligen Gegnern als Beweis für Gewaltabsichten mißbraucht werden. Denn jener Beschluß kündigt Gewalt nur an als Abwehr der Gewalt: Zur Er - haltung der Demokratie, wenn ihre Gegner sie gewalsam zer - brechen wollen, ist jedes Mittel recht. Es haben denn auch zuletzt kaum noch österreichische Antimarxisten aus jenen Be - schluß Bezug genommen: nur im Deutschen Reich, wo man mit den Verhältnissen nicht so genau vertraut ist, unterstellte man gelegentlich noch der österreichischen Sozialdemokratie die Reigung zu bolschewistischen Methoden. Die Christlichsoziale Partei, der große Gegenspieler der Sozialdemokratie, ist allerdings nicht unbedingt demokratisch gesinnt: sie ist vielmehr eine Partei der Autorität, all - gemein der kirchlichen Autorität, ein Flügel verbindet damit aber auch den Wunsch nach Wiederaufrichtung der alten welt - lichen Autoritäten. Unbedingt demokratisch gesinnt ist der Flügel, den K u n s ch a k führt, eine starke Gruppe christlicher Arbeiter. Die bürgerlichen Gruppen zwischen Ehristlichsozia- len und Sozialdemokraten möchten das demokratische System verwässern: eine Republik, in der dem Wagen der Demo- kratte kräftige Bremsen eingebaut sind, ist ihr Ideal. Der Wahlausgang hat die f a s ch i st i s ch e n P l ä n e zerstört, er macht Gewaltstreiche so aussichtslos, daß ver - mutlich auch Starhemberg davon kuriert ist. Jedenfalls ist nicht daran zu denken, daß er Gefolgschaft finden würde. Aber der Wahlausgang läßt die Dinge im wesentlichen auf dem alten Fleck. Allerdings hät er dem Priesterpolitiker Seipel eine eindringliche Lehre erteilt. Gegen Seipels Willen hätte nie der Kurs zur Heimwehrpolitik eingeschlagen werden können: er ist also der eigentliche Besiegte, ihm hat die Christlichsoziale Partei die Zerbröckelung ihrer Front und die Zermürbung ihrer Ideologie zu verdanken. Die Bloßstellung Seipels stärkt die Position Kunschaks. Daß die Christlichsoziale Partei von den Heimwehren sich ihre Hal - tung wird diktieren lassen, erscheint ganz ausgeschlossen. Am nächsten liegt also, daß die Christlichsoziale Partei die E p i - sodeVaugoin-Starhembergüber Bordwirft und entschlossen zum Schober-Kurs zurückkehrt. Das will Kunschak: aber es würde von Seipel eine Ueber - windung fordern, deren der kalte Hasser kaum fähig ist. Schober könnte natürlich dazu bereit fein. Allerdings wäre ein Kabinett Schober nur eine Ver - legenheitslösung. Er würde die Formen ändern, würde an die Stelle des Gewaltkampfes gegen die Demo - kratie den Versuch zur lleberliftung sehen: die Feindschaft der beiden großen Lager würde er nicht ausgleichen. Aber wie nun, wenn Schober eine Koalition mit der Sozial - demokratie versuchen würde? Davon braucht man nicht erst zu reden: Schober selbst hat, ehe noch jemand davon ge - sprochen hatte, unzweideutig abgelehnt. Eine kleine, innerlich noch dazu nicht einheitliche bürgerliche Gruppe kann sich nicht offen an die Seite der Sozialdemokratie stellen zum Kamps gegen die alte geistige und geistliche Vormacht Oesterreichs! Bliebe die zweite Möglichkeit, die tatsächlich eine innere Befriedung bringen und eine Stabilität schaffen könnte, die auf absehbare Zeit einen festen Regierungskurs ermöglichte. Nämlich eine Koalition der C h r i stl i ch s o z i a l e n mit den Sozialdemokraten. An der Sozialdemokratie brauchte eine solche Koalition nicht von vornherein zu scheitern. Sie sind keineswegs Unbedingte, Intransigente, wie man sogar gelegentlich von deutschen Sozialdemokraten hören bann. Es ist richtig, daß die Sozialdemokratie Oesterreichs einen andern Kurs gehalten hat als die reichsdeutsche Sozialdemokratie, aber von der Haltung der sächsischen Sozialdemokratte etwa Aus dem Inhalt Politik und allgemeiner Teil: Bluff mit Preisabbau, wie weiter in Oesterreich? Die neue Aera im Weltverkehr. Oesterreichs Wahl und das Ausland. Genfer Richtlinien für Wehrpflicht. Sinzheimer erklärt. Tagesbericht: Zwei Infamien. Blick in den Briefpostbetrieb. Das Schicksal der Reichardtwerk-Arbeiter. Kunst und Wijfenfchaft: „Krach um Leutnant Blumenthal" (Monaer ©fcbftbeater) Feuilleton: Miß Brown in Berlin . . . AuS aller Welt: Der lebende „Tote". Gefährlicher Zuchthäusler best«. Gewerkschaftliche Umschau. Arbeit und Wirtschaft: Der Broiwucher blüht. Gegen Oel- und Margarinezölle. Fortsetzung folgt. Die Linke erhebt sich von den Sitzen und applaudiert. Von der Rechten wird gerufen: „Verkauft!" „Verräter!" „Provokateur!" „Und jetzt", sagt matteotti lächelnd zu seinen Freunden, „könnt ihr meine Leichenrede vorberciten." Leider, leider war das ein prophetisches Wort. Die Sitzung wird im Tumult aufgehoben. Faschistische Abgeordnete drängen sich um Mussolini. Der „Duce" verbirgt feine schlechte Laune nicht. Seit drei Tagen muß man sich mit der Opposition herumschlagen. Er hatte gehofft, sie zu seinen Füßen zu sehen, reuig, wenn nicht bekehrt. Statt dessen stand sie trotzig der Diktatur gegenüber.